Die stärkste Lobbying-Macht in der Schweiz liegt bei den 246 Ratsmitgliedern (National- und Ständerat), welche über 2000 Interessenbindungen zu 1700 Organisationen aufweisen. Es kann deshalb nicht verwundern, dass die Schweiz im internationalen Lobbying-/Transparenzvergleich mit 19 europäischen Ländern nur den unrühmlichen elften Platz einnimmt.
Eine zuckersüsse Lobby
Ärzte machen seit einiger Zeit darauf aufmerksam, dass in der Schweiz bereits 42 Prozent aller Erwachsenen übergewichtig oder fettleibig sind. Laurent Kaufmann, Arzt aus Neuenburg, mochte dem nicht länger tatenlos zusehen. Mit Fakten aufwartend und seinem Anliegen eingepackt in eine Standesinitiative, versuchte er 2018 (gemäss NZZ am Sonntag), den Ständerat zu bewegen, eine Süssgetränke- oder Zuckersteuer einzuführen. Worauf der Ständerat den Vorstoss mit 24 zu 3 Stimmen versenkte.
„Es war, wie gegen eine Wand zu laufen“, sagte später desillusioniert der Arzt. Was er völlig unterschätzt hatte: Die Zucker-Lobby hatte nie daran gedacht, etwas gegen diese bedenkliche Entwicklung zu unternehmen. Dies ist ein Paradebeispiel, wie im National- und Ständerat Parlamentarier eigentlich Lobbying-Positionen einnehmen. Interessenkollision in Reinkultur.
Kaufmann musste zur Kenntnis nehmen, dass es quasi aussichtslos ist, die Privilegien der Lebensmittel-Industrie infrage zu stellen. Zu dieser zählen in diesem Beispiel z. B. Coop, Migros, Coca-Cola, der Verband Schweizerisches Mineralquellen und Softdrinkproduzenten. In Bern ist es die Zuckerlobby, die Verwirrung stiftet. Sie sorgt dafür, dass das Zuckerproblem vor allem als Ideologiefrage verstanden wird. Eine Nationalrätin und Gesundheitspolitikerin sagt, über Zucker sei im Bundeshaus gar keine echte Diskussion möglich.
Transparency leuchtet hinter die Mauern des Bundeshauses
Auch wer Lobbying als festen Bestandteil einer pluralistischen, liberalen Demokratie betrachtet, muss zum Schluss kommen, dass solche, wie oben geschilderte Fälle von problematischem Verhalten der Lobbyierenden die Glaubwürdigkeit und Integrität dieser Akteure in Frage stellen. Ebenso die Legitimität des in Bundesbern betriebenen Lobbyings insgesamt.
Nicht zum ersten Mal weist Transparency International (TI) darauf hin, dass das Lobbying in der Schweizer Politik in zu vielen Bereichen intransparent, unreguliert und unausgewogen ist. TI ist der Ansicht, dass dieser Zustand gefährliche Einfallstore für undemokratische Einflussnahmen und Korruptionsrisiken bietet.
Die Verknüpfung Parlamentarier/Lobbyist führt dazu, dass pro Kommission bis zu 200 Lobby-Mandate angehäuft sind. Und nicht zu vergessen: Zusätzlich operieren im Bundeshaus über 150 registrierte Parlamentariergruppen, diesen dürften lauf Gesetz einzig Ratsmitglieder angehören. Doch TI hat aufgedeckt, dass zwei Drittel dieser Gruppen ihre Sekretariate durch externe Lobbyisten führen lassen.
Wer will, kann aus dieser Situation schliessen, dass durch diese extrem hohe Lobby-Dichte im Parlament einzelne Sonderinteressen stark übervertreten sind und intransparente Verflechtungen geschaffen werden, die zu Interessenkonflikten bis hin zu kritischer Abhängigkeit führen können.
Acht Lobbymandate pro Nationalrat
Galt es früher in unserem Milizsystem als Normalfall, wenn Parlamentarier weiterhin ihrer angestammten beruflichen Tätigkeit nachgingen, gibt es diese Variante je länger, je weniger. Viele haben ihren ursprünglichen Beruf vollständig aufgegeben. Dafür übernehmen sie liebend gerne Mandate oder „Nebenbeschäftigungen“ für Unternehmen, Verbände oder NGOs, die auf diesem Weg ihre Partikularinteressen in die Bundespolitik einbringen können.
Gemäss einer NZZ-Datenanalyse deklarieren die National- oder Ständerätinnen und -räte insgesamt 1959 solcher Mandate. Die durchschnittliche Mandatszahl je Ratsmitglied hat stark zugenommen und sich im Zeitraum 2000–2011 mehr als verdoppelt. Zurzeit sind es durchschnittlich acht Mandate pro Nationalratsmitglied, gar deren zehn im Ständerat.
Unangefochten an der Spitze liegen zwei Nationalräte mit 31, respektive 29 Interessenbindungen. Was das als Beispiel konkret heisst: In der Sozial- und Gesundheitskommission beider Räte (SGK) weisen deren 38 Mitglieder insgesamt über 90 Interessenbindungen zu Unternehmen und Organisationen der Gesundheits- und Sozialversicherungsbranche auf. In der 25-köpfigen SGK des NR sind es 60 Mandate, im Ständerat knapp 30 bei 13 Mitgliedern. Dort sind, gemäss TI diejenigen Mitglieder gar in der absoluten (!) Mehrheit, welche ein direktes Mandat aus der Versicherungsbranche oder einer nahestehenden Gruppierung wahrnehmen. Pointiert ausgedrückt: Es kommen Vertreter von Kranken- oder Pensionskassen zur Beratung „ihrer“ Geschäfte zusammen …
Ehrlich währt am längsten …
Wie weit die Deklarationspflicht solcher Interessenverbindungen tatsächlich befolgt wird, deckten die Medien 2001 auf: In einem Fall waren von 48 meldepflichtigen Mandaten gerade mal deren 10 gemeldet … Es könnte also daraus geschlossen werden, dass die tatsächlich gemeldeten von den oben aufgeführten, meldepflichtigen Mandaten nur einen Teil des effektiven Bestandes ausmachen. Und da darf man sich auch die Frage stellen, aus welchem Grund die Meldepflicht solcher „Connections“ nicht beachtet wurde.
Forderungen für ein legitimes Lobbying
TI fordert deshalb einmal mehr Verbesserungsmassnahmen, um dem Ziel eines legitimen, möglichst integren und korruptionsfreien Lobbyings in der Bundespolitik näher zu kommen. Konkret: Mehr Transparenz im gesamten politischen Entscheidungsprozess und bei allen Akteuren ist Bedingung. Dies würde allerdings auch eine effizientere Kontrolle und Überwachung der Vorschriften voraussetzen.
Martin Hilti, Geschäftsführer von TI Schweiz, hält fest: „Die Mängel im Schweizer Lobbying sind zahlreich und erheblich. Wir brauchen endlich klare und wirkungsvolle Regeln für alle Akteure, damit Transparenz, Integrität und der chancengleiche Zugang beim Lobbying signifikant verbessert werden.“
Dem ist wenig beizufügen, ausser der leisen Frage: Warum ändern sich diese unwürdigen Zustände trotz anhaltender Kritik nicht?