Gegner des Covid-Zertifikats behaupten, es drohe ein Orwell’scher Überwachungsstaat. Haben sie «1984» überhaupt gelesen?
«George Orwell, übernehmen Sie!», schrieb Weltwoche-Chef Roger Köppel unlängst in einem Editorial, in dem er in seinem üblichen Polterstil gegen die Corona-Massnahmen des Bundes und insbesondere gegen das Covid-19-Zertifikat polemisierte. Die Schweiz sei «im Begriff, die Freiheit abzuschaffen. Ohne es zu merken.»
Offenbar hat SVP-Nationalrat Köppel noch nicht mitbekommen, dass diese angeblich freiheitsfeindlichen Corona-Massnahmen vom frei gewählten nationalen Parlament in verschiedenen Abstimmungen mehrheitlich genehmigt wurden. Im Juni 2021 haben die Schweizer Stimmbürger dem Covid-Gesetz mit einer Mehrheit von 60 Prozent zugestimmt. Inzwischen haben gegnerische Kreise gegen Anpassungen des Gesetzes, zu denen das Covid-Zertifikat gehört, erneut das Referendum ergriffen. Am 28. November kann das Volk wiederum über diese Anpassungen abstimmen. Wo steckt da die Diktatur hinter diesen urdemokratischen Entscheidungsmechanismen? Und in welchen andern Ländern können die Bürger über das Parlament hinaus über die Corona-Massnahmen abstimmen?
Auf solche Fragen gehen die Freiheitsrhetoriker à la Köppel natürlich nicht ein. Umso hochtrabender üben sie sich darin, das vom Parlament abgesegnete Covid-Zertifikat mit der Nazi-Diktatur und ihrem berüchtigten Ermächtigungsgesetz von 1933, das das Parlament praktisch entmachtete, in Verbindung zu bringen. Der Weltwoche-Chef schreckt auch nicht vor der Geschmacklosigkeit zurück, die Zustimmung zum Covid-Zertifikat auf eine ähnliche Ebene wie den fehlenden Widerstand der deutschen Bürger während der Hitler-Diktatur gegen die Judenverfolgung zu stellen.
Doch zurück zu Orwell. In seinem 1949 erschienenen Roman «1984» schildert der englische Autor, der einige Jahre zuvor als Freiwilliger auf Seiten der republikanischen Kräfte in den Reihen der nicht von Moskau gegängelten Linken im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft hatte, den Albtraum eines totalitären Überwachungsstaates. Winston Smith, die Hauptfigur des Romans, zweifelt an den Grundsätzen und Verheissungen der allein herrschenden Staatspartei. Er versucht trotz umfassender Überwachung die wahre Vergangenheit des Regimes zu erforschen.
Seine Aktivitäten werden entdeckt, er wird verhaftet, grauenhaft gefoltert und von der Gedankenpolizei einer totalen Gehirnwäsche unterzogen. Das bringt ihn schliesslich dazu, seine Freundin zu verraten und am Ende ein gläubiger Anhänger des Regimes von Big Brother zu werden.
Diese abgründige Vision beeindruckt seit siebzig Jahren Millionen von Lesern in aller Welt. Orwell ist dazu zweifellos von den totalitären Herrschaftsmethoden in Hitlers Drittem Reich und Stalins Sowjetimperium inspiriert worden. «1984» gilt heute – zusammen mit Orwells «Animal Farm», einer Satire auf demagogische Herrschaftsrechtfertigungen – als Chiffre für undemokratisch-totalitäre Regierungstendenzen. Das machen sich die Impfkritiker und Zertifikations-Gegner auch hierzulande zu Nutze, indem sie behaupten, der Covid-19-Impfausweis sei der Anfang einer schleichenden Freiheitsberaubung, die zu Verhältnissen wie in Orwells Roman «1984» führen werde, wenn man sich nicht vehement dagegen zur Wehr setze.
Das mag für manche Skeptiker und Impf-Zweifler zunächst irgendwie alarmierend oder zumindest bedenklich klingen. Doch wer sich von solchen Vergleichen beeindrucken lässt, sollte ehrlicherweise auch zugeben, dass das Covid-19-Zertifikat zur Bekämpfung der Corona-Epidemie in der Schweiz nach absolut demokratischen Spielregeln legitimiert ist, nämlich durch Mehrheitsbeschluss des demokratisch gewählten Parlaments. Kommt hinzu, dass die Schweizer Stimmbürger im kommenden Monat an der Urne wiederum darüber entscheiden können, ob dieser Impfausweis weiter gültig bleiben soll oder nicht.
Wer dieses Instrument und dessen Konsequenzen dennoch als Ermächtigung zu totalitären Zuständen à la Orwell brandmarkt, betreibt pure Demagogie. Diese Apokalyptiker müssen sich der Frage stellen, ob sie damit die in der schweizerischen Verfassung festgelegten demokratischen Spielregeln – inklusive Mehrheitsprinzip und institutionellem Minderheitenschutz – nicht mehr akzeptieren wollen.
Natürlich ist es legitim, das Covid-19-Zertifikat abzulehnen und dagegen zu kämpfen. Das aber sollte mit Argumenten geschehen, die einigermassen den Realitätstest bestehen und die Wirklichkeit nicht völlig verzerren.
Einiges spricht dafür, dass die schrillsten Stimmen gegen die Corona-Massnahmen mit ihren Orwell-Beschwörungen und ihrem salbungsvollen Freiheitspathos es selber gar nicht so apokalyptisch meinen, wie sie die Öffentlichkeit glauben machen wollen. Viel eher ist zu vermuten, dass hinter ihrer überdrehten Rhetorik das Kalkül steckt, sich dem vielfältigen Feld der mehr oder weniger ehrlich meinenden oder hysterisch motivierten Impfgegner und Impf-Skeptiker anzubiedern. Nach dem heutigen Stand der Dinge macht das in der Schweiz immerhin ein Stimmenpotential von rund 40 Prozent aus. Rechne!