Der Kommunismus hat auch die katholische Kirche in Ungarn geprägt. „Wir haben noch keine gute eigene Theologie“, sagt András Máté-Tóth, Professor für Religionswissenschaft an der ungarischen Universität Szeged. Jene Theologen, die Einfluss hatten und teils noch haben, seien nicht die Besten. „Es sind jene, die Konzessionen gegenüber den kommunistischen Machthabern gemacht haben.“
„Wir haben das Zweite Vatikanische Konzil nicht erlebt“, erklärt Máté-Tóth bei einem Gespräch am Zürcher „Institut für interreligiösen Dialog“ (ZIID). Wegen Zensur und Verfolgung im Kommunismus habe die Kirche gelernt zu schweigen. Das wirke sich bis heute aus. Die Lage der Theologie in Ungarn sei noch lange von der kommunistischen Zeit mitbestimmt worden. Doch langsam trete die ältere Generation ab und auch die ungarische Kirche sei dabei, sich zu „updaten“.
„Solange die Taschen voll sind ...“
Nur wenige der rund 20 ungarischen Bischöfe äusserten sich in der Öffentlichkeit kritisch gegenüber der Regierung von Viktor Orbán. Die meisten stünden dem „Nationalismus“ der Regierung positiv gegenüber. Sie betrachten die Ungarn als „wertvolle, stolze, starke Menschen“, die es zu unterstützen gelte.
Doch, so fragen wir den Professor, wie kann die Kirche schweigen angesichts einer Regierung, die gegen Flüchtlinge hetzt, die die Justiz und das Parlament knebelt, die versucht, Medien mundtot zu machen und in deren Entourage immer wieder antisemitische Töne zu vernehmen sind?
„Alle ungarischen Bischöfe sind gekauft“, sagt András Máté-Tóth auf unsere Frage. Doch er relativiert gleich: „Nicht persönlich gekauft. Aber die Kirchen bekommen grosse finanzielle Unterstützung von der Regierung. Deshalb ist es zu verstehen, dass die Kirche die Regierung Orbán unterstützt. Solange die Taschen voll sind, tanzt man nach der Musik der Geldgeber.“
Doch immer mehr Leute würden das Schweigen der Kirche zu Orbáns Politik kritisieren. „Der Hass, den die Regierung versprüht, ist nicht christlich“, sagen sie. Die Kirchen könnten einen wichtigen Beitrag leisten, damit der Nationalismus auf eine gesunde Ebene geführt werde, erklärt der Professor aus Szeged. Dass die Kirche zum Hass, den Orbán sät, schweigt, sei „beschämend, ein Verrat am Christentum“.
Keine Alternative?
Viele feurige Anhänger von Orbán seien zwar grösstenteils mit seiner Politik einverstanden, doch sie kritisieren, dass er mit seinem Hass auf Andersdenkende zu weit gegangen sei. Es wäre falsch zu glauben, dass alle, die Orbán gewählt haben, Xenophoben seien, sagt Máté-Tóth.
„Man hat ihn auch gewählt, weil keine Alternative da war.“ Es gebe nicht wenige in Ungarn, die sagten, von den vielen Schlechten sei er noch der am wenigsten Schlechte. „Die Oppositionsparteien waren keine wirklichen Alternativen.“ Längst nicht alle, die für Orbán gestimmt hätten, „haben den Hass gewählt“. Viele hätten für ihn gestimmt, die Kirche, Vereine, die Wirtschaft, weil er ihnen „Geld ins Portemonnaie“ bringt.
„Fanatiker“
Máté-Tóth sagte kürzlich an der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Ingoldstadt: „Die Etikettierungen (von Viktor Orbán) – er sei Nationalist, Populist, Feind der EU und der Demokratie, Putin-Anhänger, korrupter Oligarch usw. – weise ich entschieden zurück.“
Wir fragen ihn, wie er denn Orbán qualifizieren würde. „Er ist einer der begabtesten und erfahrensten Politiker Europas. Er gehört zu den begabtesten Rednern, er ist rhetorisch brillant – doch er ist ein Fanatiker und einseitiger Befürworter der ungarischen Souveränität.“
Seit der Wirtschafts- und Flüchtlingskrise würde Ungarn auf „einer Welle eines kollektiven Borderline-Syndroms“ leben: Leidenschaftliche und vergebliche Suche nach nationaler Identität und staatlicher Souveränität, starke Emotionsschwankungen nach rechts und links, Wutausbrüche, ständige Angst vor Verlassenwerden und paranoide Vorstellungen über die Umwelt. Und die Therapie? „Es braucht Geduld und einen langwierigen Dialog.“
Sensiblere EU-Politik gegenüber Ost-Mitteleuropa
Máté-Tóth redet aber auch der EU ins Gewissen. Sie solle eine sensiblere Politik gegenüber Ost-Mitteleuropa entwickeln und versuchen zu verstehen, wie dort das Herz schlägt. Die Union müsse ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten akzeptieren. In Bezug auf die Korruption allerdings solle die EU diesen Ländern gegenüber kein Erbarmen zeigen.
Und wie soll sich die Kirche in Ungarn verhalten? „Zu einem gesunden Nationalismus soll sie Ja sagen, ebenso zu mehr Autonomie innerhalb der EU. Doch sie soll Nein sagen zu Hass und Xenophobie.“
Wird Ungarn nach dem Sieg Viktor Orbáns jetzt zum „Orbánistan“? fragt Máté-Tóth selbst und er gibt auch gleich die Antwort: „Da möchte ich ein vorsichtiges Nein sagen.“ Mit einem Schmunzeln erklärt er: „Ich gehe gerne nach Ungarn zurück, in diesen ‚illiberalen’ Staat.“