Dem lustvollen Umgang mit der geometrischen und abstrakten Kunst widmet das auf den «Zürcher Konkreten» basierende Haus eine spektakuläre Gruppenausstellung.
Immer wieder überrascht das Museum Haus Konstruktiv mit Kombinationen zeitgenössischer Œuvres, die auf unterschiedlichste Weisen auf die konstruktiv-konkrete Tradition der modernen Kunst Bezug nehmen. Erneut sind es bekannte und (noch) wenig bekannte Namen, die in dem agilen kleinen Museum je einen ganzen Raum bekommen, um sich zu präsentieren.
Das Haus stellt seine aktuelle Schau unter den kryptischen Titel «Geometrische Opulenz». Geometrisches wird man allerdings etwa beim etablierten John Armleder höchstens am Rand und bei der jungen Elza Sile überhaupt nicht finden. Und Opulenz fällt einem bei Sylvie Fleury, Franziska Furter, Peter Halley und Mary Heilmann gewiss nicht als Erstes ein.
Was die so unterschiedlichen Werke dennoch verbindet, ist aber tatsächlich eine gemeinsame Haltung des Konkreten, wie sie der Begründer der De-Stijl-Bewegung, Theo van Doesburg, als Programm formuliert hat – allerdings ohne dessen Purismus. Die lose Gemeinsamkeit der im Haus Konstruktiv versammelten Gruppe ist eine postmodern-konkrete Ausrichtung, in der jede Form und jedes Material, das in künstlerischer Arbeit Verwendung findet, nichts weiter als sich selbst meint. Es ist eine Kunst, die nicht darstellt, sondern ist. Wenn van Doesburg postulierte, eine Linie sei eine Linie, so ist hier eine Büroklammer eine Büroklammer, eine Symmetrie eine Symmetrie, ein Federchen ein Federchen.
Schlange im Elektrizitätswerk
Betritt man den Saal im Erdgeschoss, so befällt einen gleich ein leichter Schwindel. Man steht dicht vor einer vier Meter hohen gekurvten Wand, die in einer Schlangenlinie den ganzen Raum einnimmt. Die mächtige architektonische Skulptur ist beidseits mit Wellenlinien bedeckt, die durch ihre Interferenzen die Wahrnehmung ins Schwimmen bringen.
Die Schweizerin Claudia Comte (*1983) hat hier eine ihrer freistehenden, in Bogenlinien verlaufenden Wände eigens für Haus Konstruktiv realisiert. Mit dem Titel «Heads and Tails» spielt sie auf das Schlangenmotiv an. Das Linienmuster ist angeblich von den Wellenspuren inspiriert, die eine schwimmende Schlange im Wasser zieht.
Obschon die Riesenskulptur «Heads and Tails» den ganzen Raum einnimmt, wirkt sie nicht erdrückend. Sie ist Bewegung pur und fügt sich mit ihrem Weiss und Schwarz sowie den mathematisch geschwungenen Linien harmonisch ein in das technisch-industrielle Ambiente des einst für das Elektrizitäts-Unterwerk Selnau gebauten Raums. Allein schon mit dem gewaltigen konstruktiven Aufwand erweist sich Claudia Comtes Arbeit als ein auf sich selbst verweisendes Artefakt. Man steht staunend vor einem Kunstwerk, das sich selbst genügt, indem es einen schöpferischen Gedanken als solitäres Ding von gewaltigen Ausmassen materialisiert.
Wilde und gebändigte Opulenz
Im Saal des ersten Stocks tobt sich, man kann es kaum anders sagen, der bekannte Schweizer Künstler John Armleder (*1948) aus. Auf der Breitseite gegenüber dem Eingang erstreckt sich über zwölf Meter hinweg eine Installation aus sechs fast drei Meter hohen Tafeln, auf denen tektonische Farbschichten vulkanisch aufbrechen und die mit Glitter, Muscheln, Büroklammern, Pompons, Scherben und Styroporkugeln übersät sind. Zwischen den Tafeln hängen breite Bänder von Lametta.
Das ist, wenn man sich zum visuellen Genuss der opulenten Materialität entschliessen kann, ein wahrhafter Augenschmaus. Doch anders als bei der leichten Benommenheit vor Claudia Comtes Schlangenwand findet der Brummschädel nach der Überwältigung durch Armleders Masslosigkeit nicht so recht zu verstehender Klarheit. Da herrscht chaotische Opulenz ohne jede Einwirkung von Blaise Pascales esprit de géométrie.
Das ist beim Deutschen Timo Nasseri (*1972) völlig anders. Wir finden ihn im Säulensaal auf dem dritten Stock. Seine grossformatigen Malereien sind so kontrolliert und streng wie nur möglich. Sie zeigen an Totems oder afrikanische Muster gemahnende, an der senkrechten Mittelachse gespiegelte Kompositionen aus geometrischen Flächen, die monochrom gestaltet oder mit regelmässigen Farbverläufen versehen sind. Angeblich lehnen sie sich an Tarnbemalungen, sogenannte Razzle-Dazzle-Muster an, die im Ersten Weltkrieg von der Marine verwendet wurden, um Position und Kurs von Booten zu verschleiern.
Auf den ersten Blick ganz anders erscheinen die an beiden Schmalseiten des Saales rasterförmig zu Hunderten installierten schwarzen Kleinskulpturen aus Metall. Doch auch sie sind an der senkrechten Mittelachse gespiegelte Objekte. Wie Zeichen einer unbekannten Schrift fordern sie zum Entziffern auf. Nasseri nennt sie sinnigerweise «The Order of Everything», da ein Alphabet ja in der Lage ist, buchstäblich alles zu benennen und festzuhalten.
Nasseri war schon 2019 im Haus Konstruktiv in der Ausstellung «Konkrete Gegenwart» mit drei eindrucksvollen Arbeiten zu sehen. Besonders seine Installation «Florenz–Bagdad» mit ihren tiefen kunsthistorischen und interkulturellen Bezügen ist in lebhafter Erinnerung geblieben.
Surreale Harmonien
Im kleineren Saal gleich gegenüber hat Nathalie Du Pasquier (*1957) ein heiteres Gesamtkunstwerk aus Malerei, Skulptur und Raumgestaltung eingerichtet. Die Wände sind mit grosszügigen Farbflächen und -bändern bedeckt, auf farbigen Sockeln, am Boden und an Wänden befinden sich Kleinskulpturen aus bemaltem Holz, die teils an Architekturmodelle, teils an Puppenstuben erinnern. Man taucht ein in eine naiv-harmonische Welt der Poesie, die nur leicht irritiert ist durch das Surreale ihrer Objekte.
Die französische Künstlerin kommt vom Design her. Sie war 1980 Mitbegründerin des um Michele de Lucchi und Ettore Sottsass versammelten Kollektivs Memphis Group, das einen postmodernen, fröhlich-kitschigen Design-Ansatz verfolgte. Das Fröhliche hat Nathalie Du Pasquier beibehalten, vom Trash jedoch hat sie sich verabschiedet. Anstelle des quietschbunten Memphis-Stils stehen nun Objekte, die in ihrer beflissenen Ernsthaftigkeit fast ein wenig rührend wirken und in ihrer überaus harmonischen, aber nie trivialen Farbigkeit eine bessere Welt evozieren. Nathalie Du Pasquier hat sich an Le Corbusiers Farbskalen orientiert und in ihrer für Haus Konstruktiv geschaffenen Installation ebenso mit kühnen wie mit subtilen Kombinationen gearbeitet.
Eine Generation jünger ist die in Zürich lebende Lettin Elza Sile (*1989), die einen der Räume im vierten Stock bespielt. Bei ihr darf man dieses Tätigkeitswort zum Nennwert nehmen. Sie hat vier grossformatige Aluminiumtafeln beim Ausstellungsaufbau in einer Weise bearbeitet, die man sich nur als selbstvergessenes, in sich versunkenes Spiel vorstellen kann. Der Malgrund, der von der Rückseite her zuerst geritzt und perforiert wurde, trägt Spuren einer mal flüchtigen, mal dick aus der Tube aufgetragenen Bemalung.
Nach dieser zweiten Art der Behandlung erfolgt erst die eigentliche Ausarbeitung. Der Grössenmassstab ist jetzt ein ganz anderer. Elza Sile geht als eine Alice im Wunderland in die Topographie der Bildoberfläche hinein. Sie pflanzt hier ganze Hecken aus Bleistift-Feinminen und lässt Miniaturgebüsche wuchern, sie bemalt dort einzelne aus der Tube gekommene Farbwürste oder schmückt sie mit winzigen, ebenfalls bemalten Blättchen. Es ist gegenüber Nathalie Du Pasquier ein Surrealismus ganz anderer Art, eine der Mikro-Dimension zugewandte poetische Haltung.
Mit ihrem mehrstufigen Verfahren verbindet Elza Sile brachialen und gestischen Zugriff auf der einen und Arbeit mit Pinzette und feinstem Pinsel auf der anderen Seite. Ihre Bilder fordern den Betrachter auf, die Distanz und die Art der Wahrnehmung zu wechseln: Es gilt die grosse und die kleine Dimension zu sehen. Bilder sind einerseits Signale für entfernt Stehende; das ist die übliche Betrachtungsweise. Sie sind aber auch Welten, in die man sich hineinbegeben kann.
Das war ja eigentlich schon immer so, obschon die Makro-Optik des Blicks auf die Mikro-Strukturen von Strich und Farbe eher als Domäne der Restauratorinnen und Echtheitsprüfer gilt. Bei Elza Sile wird nun aber der Distanzwechsel zum dominierenden Bildthema, und sie macht dieses Heranzoomen zu ihrem Weg, Materialität und Konkretheit als das Wesentliche ihres Schaffens herauszustellen – ganz im Sinne Theo van Doesburgs, der in seinem «Art Concret»-Manifest von 1930 postulierte: «… nichts ist konkreter, wirklicher als eine Linie, eine Farbe, eine Oberfläche.»
Haus Konstruktiv, Zürich: Geometrische Opulenz, kuratiert von Sabine Schaschl, bis 8. Mai 2022