Seit dreissig Jahren gibt es das Zürcher Museum Haus Konstruktiv. Die privat getragene Einrichtung ist dem Werk der «Zürcher Konkreten» verpflichtet. Unter diesen Sammelbegriff haben Kunstkritik und Medien die grossen Namen Max Bill, Richard Paul Lohse, Camille Graeser und Verena Loewensberg eingeordnet. Die so Benannten haben sich allerdings nie als Gruppe konstituiert.
Inspiriert von der russischen Avantgarde der 1910er Jahre (Kasimir Malewitsch, El Lissitzky), formierte sich die konstruktive oder konkrete Kunst als strenge und konsistente Auffassung der abstrakten Malerei. Wichtige Impulsgeber waren Theo van Doesburg, Piet Mondrian, Georges Vantongerloo und weitere Künstler, die ab 1917 in Holland als Gruppe «De Stijl» eine ausformulierte ästhetische Programmatik vertraten und mit dem Bauhaus in Verbindung standen.
Wissenschaft des Visuellen
De Stijl und Bauhaus wiederum haben Bill, Lohse, Graeser und Loewensberg stark beeinflusst. Seit den 1930er Jahren experimentierten sie in Malerei, Grafik, Design und Plastik mit den reinen Elementen der Linie, Fläche, Form und Farbe, mit Kompositionen aus regelhaft entwickelten Strukturen sowie mit seriell variierten Bildkonzepten. Vor allem bei Max Bill und Richard Paul Lohse war stets ein forschendes und systematisches Interesse, eine eigentliche Wissenschaft des Visuellen mit im Spiel, während Verena Loewensberg und Camille Graeser eher dazu neigten, aus der konstruktiven Ästhetik zur Freiheit des Kreativen vorzustossen oder die formale Strenge mit gestalterischem Witz und Charme zu brechen.
In der mit 900 Werken beachtlich bestückten Sammlung des Museums Haus Konstruktiv sind die vier Zürcher Konkreten nur mit wenigen Dutzend Arbeiten vertreten. Sie werden in der aktuellen Jubiläumsausstellung nahezu vollständig gezeigt. Rund um diesen Kern dokumentiert die Schau einerseits Einflüsse der Vorläufer und andererseits Nachwirkungen bei Vertreterinnen und Vertretern konzeptioneller Kunst von der Mitte des vergangenen Jahrhunderts bis zur Gegenwart.
In dieser Spannweite des Sammlungsprogramms von Haus Konstruktiv erweist sich denn auch die Relevanz des konkret-konstruktiven Ansatzes für die Entwicklung der modernen Kunst von etwa 1910 bis heute. Das Prinzip der Abstraktion bis hin zu den Elementarformen des Visuellen dekonstruiert die Wahrnehmung, erlaubt dadurch eine freie Konstruktion des bildnerischen Gestaltens und treibt nach wie vor künstlerische Innovationen hervor.
Positionen dazwischen
Zusätzlich zu den Sammlungsbeständen kommt in der neu eröffneten Ausstellung auch das zum Zug, was in der Gegenwartskunst zum Leitbegriff geworden ist: Intervention. Das Wort drückt Verlegenheit angesichts einer zwar klassisch, aber noch nicht historisch gewordenen Moderne aus. Das Intervenieren – wörtlich: das Dazwischenkommen – bezeichnet, vielsagender als vermutlich beabsichtigt, die Orte, an die sich eine junge, noch nicht dauerhaft eingeordnete Kunst verwiesen sieht.
Die Direktorin des Museums Haus Konstruktiv, Sabine Schaschl, hat einige Künstlerinnen und Künstler eingeladen, eigene Werke im Sinn von Interventionen in die Bestände der Sammlung zu zeigen. Das Resultat sind ironische, überraschende, hintersinnige und auch poetische Installationen. Ihre Bezüge zur Sammlung zu entdecken und zu entschlüsseln ist eine reizvolle Erfahrung.
Zwei dieser künstlerischen Kommentare seien kurz beschrieben. Yves Netzhammer bespielt einen ganzen Raum mit seiner Installation aus computergenerierten Videos und der bildnerischen Sprache des russischen Konstruktivismus. Er schafft damit eine packende zeitgenössische Adaption der Vorbilder. Sie macht bewusst, in welcher Weise heutige bewegte Bildwelten und die Idee des Virtuellen in Abstraktionen wurzeln.
Womöglich noch deutlicher als bei Netzhammer kommt das Ausstellungsmotto «Um die Ecke denken» bei einer Arbeit von Christoph Büchel zum Tragen. Er verfremdet einen De-Stijl-Sessel von Gerrit Rietveld. Dieses konstruktive Designobjekt erzählt quasi die Geschichte vom Konstruieren des Sitzens. Der primitiv zusammengefügte rot-blaue Stuhl von 1917 auf dem Gestell aus Vierkanthölzern in Schwarz mit gelben Schnittflächen war angesichts der plüschigen Wohnkultur seiner Zeit eine unerhörte Provokation. Rietvelds geniale Sitzmaschine ist zugleich Skulptur. Sie drückt aus, dass der rot-blaue Stuhl nicht nur hinsichtlich seines Zwecks als Sitzmöbel, sondern auch als pure Form funktioniert.
An diesem ikonischen und vieldeutig sprechenden Objekt hat Christoph Büchel nichts verändert. Er versieht es lediglich mit neun massiven Ledergurten, mit denen man eine sitzende Person straff an den Stuhl fesseln könnte. Die nächstliegende Assoziation ist selbstverständlich der Elektrische Stuhl. Bloss ergibt sie keinen rechten Sinn: Rietvelds farbenfrohe, luftige Möbelkonstruktion hat mit einem Hinrichtungsinstrument nichts zu schaffen.
Man muss um die Ecke denken, um die Intervention zu lesen – beispielsweise so: Einen heutigen Gestalter kann die Faszination des Rietveld-Entwurfs durchaus in ambivalentem Sinn fesseln. Das vor hundert Jahren geschaffene Objekt strahlt in seiner gestalterischen Perfektion und endlosen Deutbarkeit eine Autorität aus, die vielleicht lähmend wirkt. Welche Möbel soll man denn noch entwerfen, was für Skulpturen formen, welche ästhetischen Konzepte erfinden? Ist nicht mit der Moderne des 20. Jahrhunderts schon alles da? Alle Freiheiten sind ausgelotet, sämtliche Inhalte und Formen dekonstruiert und rekonstruiert, die Kunst selbst hinterfragt.
Bis die Kunst vielleicht einmal neue grosse Programme hervorbringt, bleiben ihr Intervention, Variation, Ironie.
Um die Ecke denken. Die Sammlung Museum Haus Konstruktiv (1986-2016) und Gastinterventionen, kuratiert von Sabine Schaschl und Evelyne Bucher. 2. Juni bis 4. September 2016 im Museum Haus Konstruktiv, Selnaustrasse 25, 8001 Zürich
Auf der Website des Museums ist die Sammlung zugänglich.