In Syrien und im Irak baut der Islamische Staat (IS) sein mörderisches Kalifat auf. In der Ostukraine herrscht Krieg, und Putin fallen immer neue Provokationen ein. Und was tut Obama? Gegenüber dem IS hat er „keine Strategie“, wie er selbst sagt. Und gegenüber der Ukraine? Er wartet ab.
Journal 21: Kurt Spillmann, sind Sie von Obama enttäuscht?
Kurt Spillmann: Keineswegs! Er ist ein kluger Analytiker und zurückhaltender Oberkommandierender, der aus der Geschichte – sprich aus dem Desaster von Vietnam, dem Fiasko im Irak und den Enttäuschungen in Afghanistan – zu lernen versucht.
Also wird er heute zu Unrecht kritisiert?
Ja, Obama wird gegenwärtig zu Unrecht als schwach und unentschlossen verunglimpft. Aber er will „keine strategischen Dummheiten“ machen und in komplexen Verhältnissen nicht impulsiv, sondern überlegt handeln. Er hat zu Recht nicht in Syrien eingegriffen, denn er wollte weder auf sunnitischer noch auf schiitischer Seite Partei ergreifen. Er hat bisher auch im ostukrainischen Konflikt nur moralische Unterstützung für die Regierung in Kiew markiert. Er wollte nicht zu den Zuständen der Ost-West-Konfrontation zurückkehren, wie sie vor dem Ende des Kalten Krieges herrschten. Er will sich nicht von Putin manipulieren lassen, der in seinen staatskontrollierten Medien seit langem wieder ein „Feindbild Westen“ aufbaut, insbesondere – wie früher – ein „Feindbild USA“, um die Bevölkerung Russlands hinter sich zu scharen und umso ungenierter seine Diktatur ausbauen zu können.
Die neue EU-Aussenministerin Federica Mogherini hat die gravierende Kehrtwende auf den Punkt gebracht: „Russland ist kein strategischer Partner mehr“, gemeint: als partnerschaftliche Garantiemacht für eine europäische Friedensordnung, wie sie 1997 zwischen den Nato-Staaten und Russland (noch unter Jelzin) vereinbart wurde, hat sich Russland durch sein Vorgehen in Krim und Ostukraine selber herauskatapultiert. Statt zu kooperieren, will Putin zur altmodischen imperialen Russland-Politik zurückkehren.
Obama hatte versprochen, Kriege zu beenden und keine neuen zu beginnen. Könnte das der Grund für seine Zurückhaltung sein?
Er war von Anfang an – damals noch Senator – ein Gegner des amerikanischen Angriffs im Irak. Er denkt strategisch, d.h. er überlegt sich nicht nur den Anfang, sondern auch ein mögliches Ende einer Intervention. Er weiss und sagt das auch, dass es viel leichter ist, in einen militärischen Konflikt hinein als wieder heraus zu kommen. Deshalb will er nur dort Truppen einsetzen, wo es zwingend nötig ist, weil es um die Sicherheit von Amerika und Amerikanern oder um vertragliche Verpflichtungen (wie in der Nato) geht.
Sprechen wir zuerst über den Islamischen Staat. Was könnte, was sollte denn Ihrer Meinung nach Obama tun?
Er tut bereits das Richtige: Er fordert eine alle Parteien umfassende Koalitionsregierung im Irak, die nicht nur eine Partei (Schiiten, wie unter Maliki, oder Sunniten, wie einst unter Saddam Hussein) vertritt, sondern im Namen aller drei grossen Bevölkerungsgruppen (Shiiten, Sunniten, Kurden) wie auch der kleineren wie Christen, Juden, Alawiten, Jesiden etc. zu reden und zu handeln vermag. Eine solche Regierung würde im Interesse aller Bürger und der Zivilgesellschaft der Terroristenorganisation IS entgegentreten und würde amerikanische Unterstützung verdienen und bekommen.
Rein militärisch gesehen: Können die USA, mit Verbündeten vielleicht, dem Islamischen Staat auf den Leib rücken?
Es kämpfen viele frustrierte Saddam-Anhänger in den Reihen des IS, auch viele erfahrene Terroristenkämpfer aus anderen Kriegen. Es wird also erhebliche militärische Anstrengungen brauchen, diese gut gerüstete, gut finanzierte, sehr modern kämpfende und ideologisch hoch motivierte Organisation niederzuringen.
Amerika will sich nicht in einen neuen Krieg ziehen lassen und beschränkt sich auf Luftschläge gegen die IS-Kämpfer. Kann man ohne Bodentruppen den Islamischen Staat bekämpfen?
Die Antwort ist ein klares Nein. Aber es können nicht ausschliesslich westliche Bodentruppen sein, die von aussen intervenieren. Es kämpfen zur Zeit die kurdischen Peshmerga und irakische Truppen. Diese letzteren sind aber schwach, da bisher viele Einheiten ziemlich rasch geflohen sind und ihr Kriegsgerät praktisch kampflos den IS-Kämpfern überlassen haben. Das würde sich erst ändern, wenn Irak eine Koalitionsregierung hätte und auch alle Truppen – von einem moderneren Staatsverständnis durchdrungen – gemeinsam gegen die Zerstörung ihres Staates und ihrer Gesellschaft kämpfen würden. Auch fehlt immer noch eine klare Bekundung der Bereitschaft von muslimischen Staaten, sich am Kampf gegen die mörderischen Horden des IS zu beteiligen.
Kann man fanatische Gotteskrieger überhaupt bekämpfen? Bin Laden ist tot, jetzt ist Abu Bakr al-Baghdadi da. Wenn der tot ist, kommt doch ein Neuer.
Fanatiker lassen nicht mit sich reden, weil sie überzeugt sind, unbedingt Recht zu haben. Jeder fanatische Führer hat im Kreis seiner Getreuen auch mögliche Nachfolger. Aber nicht alle Muslime sind Fanatiker, wie wir im schweizerischen Alltag erleben. Nur ist die Stimme der Gemässigten bisher wenig hörbar geworden, weil die Fanatiker sie sofort als „Ungläubige“ diffamieren und bedrohen.
Hinter diesem Konflikt zwischen Fanatikern und Gemässigten steht eine uralte inner-islamische Auseinandersetzung, die sich im arabischen Frühling wieder neu manifestiert hat: nämlich zwischen konservativen Schichten, ganz der Rückwendung zum islamischen Ur-Ideal einer Gesellschaft verpflichtet, wie sie zur Zeit des Propheten im 7. Jahrhundert existiert haben soll, und einer weniger doktrinär, also weltlicher denkenden Schicht, die den Anschluss an die moderne Welt der Wissenschaft, der Kommunikation, der Mobilität und der Güter sucht.
Diese Auseinandersetzung zwischen Fundamentalisten und Modernisten findet in der christlichen Welt seit dem 17. Jahrhundert bis heute statt, und noch immer kämpfen die Einsichten der Aufklärung – „Wahrheit gibt es nur in der Mehrzahl“ – um allgemeine Anerkennung. Also ist auch im Bereich des Islam nicht mit einer raschen Überwindung des Fundamentalismus und Radikalismus zu rechnen.
Italien hat der kurdischen Peschmerga Waffen geliefert und bereits Attentatsdrohungen erhalten. Ist es nicht eine Frage der Zeit, bis in Europa oder den USA die ersten IS-Bomben hochgehen?
Leider ist das möglich und zu befürchten, denn es ist in unseren im Laufe der Geschichte mühsam erreichten offenen Gesellschaften sehr leicht, durch ein Attentat viel zu zerstören. Und Terroristen erkennen ihre eigene Kraft bevorzugt in ihrer Zerstörungsmacht.
Obama wollte einst die gemässigten syrischen Oppositionellen nicht bewaffnen, weil er Angst hatte, die Waffen würden in islamistische Hände gelangen. Hätte er doch Waffen nach Syrien liefern sollen?
Nein: Obama hat sich richtigerweise zurückgehalten. Er wollte nicht Partei ergreifen in einem Bürgerkrieg.
Was ist schlimmer, die Cholera oder die Pest – der IS oder Asad? Vermutlich der IS. Faktisch stehen die USA jetzt auf der Seite von Asad.
Es wird sich zeigen, ob die USA nach allem bisher Vorgefallenen und auch von höchsten Amtsträgern gegen Asad Gesagten nochmals zu einer Zusammenarbeit mit Asad zurückfinden – im Interesse der gemeinsamen Abwehr des IS. Wenn ein Kompromiss mit Iran in der Atomfrage möglich werden sollte, könnte auch ein Kompromiss mit Asad möglich werden.
Sprechen wir von der Ukraine. Auch da zaudert Obama. Aber was kann er denn tun?
Obama kann den Ukraine-Konflikt ohne direktes Eingreifen nicht entscheidend beeinflussen. Aber er kann eine demokratisch gewählte und kompromissbereite ukrainische Regierung unterstützen und er will – darüber hinaus – Putin auch klar signalisieren, dass dessen illegales und verdecktes Vorgehen in der Ost-Ukraine in den baltischen Staaten, in denen ebenfalls grössere russische Bevölkerungsteile wohnen, nicht geduldet werden wird.
Das Signal dazu ist der Entscheid, in Estland 4000 Mann Bereitschaftstruppen der Nato dauern zu stationieren. Die jüngste Nachricht (vom 3.9.) von einer (allerdings unklaren) Waffenstillstandsvereinbarung zwischen Poroschenko und Putin könnte bedeuten, dass auch Putin weiss, dass er die Konfrontation nicht auf die Spitze treiben kann, ohne einen Krieg gegen die Nato zu riskieren. Und einen solchen Krieg kann er nicht wollen, weil er damit sein Land (und die Welt!) ruinieren würde und Russland schliesslich unterliegen müsste.
Die EU wird jetzt wohl härtere Wirtschaftsmassnahmen gegen Russland beschliessen. Könnte das nicht zum Bumerang, zu weiteren russischen Provokationen in der Ostukraine führen.
Die bisherigen Wirtschaftsmassnahmen haben keine deutlichen sichtbaren Erfolge gebracht, wie das bei Wirtschaftsmassnahmen üblich ist. Sie wurden wohl mehr als Ausdruck des westlichen Willens zu gemeinsamem Handeln verstanden. Gleichzeitig wurden sie von Putin auch benützt, um dem eigenen Publikum in den Staatsmedien den Beweis für die Feindseligkeit „des Westens“ zu liefern. Ob er durch die westlichen Sanktionen statt zu weiteren Provokationen zu seiner momentanen Bereitschaft zu einem Waffenstillstand (Stand 3.9.) motiviert wurde, wird sich erst an der längerfristigen Entwicklung ablesen lassen.
Der deutsche Aussenminister Steinmeier befürchtet, Putin könnte von der Ostukraine auch einen Landkorridor zur Krim besetzen. Wie sehen Sie diese Gefahr?
Die Krim ist für Russlands militärische und wirtschaftliche Sicherheit von entscheidender Bedeutung, deshalb hat Putin auch so rasch gehandelt, als sich die Möglichkeit zu Annexion bot. Es ist einleuchtend, dass Russlands Zugang zum Atlantik (vom Schwarzen Meer über das Mittelmeer) auch über einen Landweg mit Russland verbunden sein sollte. Zur Zeit der Sowjetunion war die Ukraine praktisch ein Teil des sowjetischen Territoriums, und Zugangsprobleme von Russland auf die Krim waren nicht einmal vorstellbar. Heute ist das anders, und Putin könnte im Rahmen seiner Restaurationspolitik des sowjetischen Imperiums tatsächlich versuchen, die Landverbindung zur Krim militärisch herzustellen.
Glauben Sie Putin wäre zu einer militärischen Konfrontation mit dem Westen bereit?
Ich halte Putin immer noch für rational genug, dass er abschätzen kann und weiss, dass ein wirklicher Krieg mit den Mächten des Westens absolut verheerende Folgen haben würde, und zwar zuerst für ihn und sein Land. Deshalb gehe ich davon aus, dass die gegenwärtige Politik zwar geleitet ist von der Idee, das sowjetische Imperium wiederherzustellen, dass Putin aber doch weiss, dass er seine Provokationen nicht übertreiben darf. Er lotet gegenwärtig aus, wie weit er gehen kann, wieviel Profit er ziehen kann aus der allgemeinen Kriegsaversion der westlichen Regierungen und Völker.
Aber am Ende muss eine politische Lösung dieses Konfliktes stehen, die möglicherweise die Ukraine nach Art eines neutralen Staates verpflichtet, ausserhalb der westlichen wie auch östlicher Bündnissysteme zu bleiben, wirtschaftlich nach Osten wie nach Westen offen zu bleiben und letztlich als Brücke und nicht als Mauer oder Puffer zwischen zwei Blöcken zu dienen. Auf diesem Wege könnte sich auch die Ost-West-Beziehung, die zur Zeit stark strapaziert ist, wieder entspannen und sich wieder auf die in der Pariser Grundakte vom 27.Mai 1997 vereinbarte gemeinsame „Verpflichtung zum Bau eines stabilen, friedlichen und ungeteilten, geeinten und freien Europas zum Nutzen aller seiner Völker“ zurückbesinnen.
(Kurt R. Spillmann ist em. Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung an der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) in Zürich. Das Gespräch führte Heiner Hug)