Mit der Bemerkung in der vergangenen Woche, seine Regierung habe noch keine Strategie zur Bekämpfung der islamistischen Terror-Organisation IS (Islamischer Staat), hat der amerikanische Präsident ein beträchtliches Rauschen im internationalen Medienwald hervorgerufen.
Verheerend oder ehrlich?
Ob diese Aussage – die übrigens nicht in einem vorbereiteten Statement fiel, sondern in Beantwortung einer Journalistenfrage, die sich auf die IS-Umtriebe in Syrien bezog – politisch klug war, darüber kann man streiten. Kritiker werfen Obama vor, damit habe er in aller Öffentlichkeit Hilflosigkeit und Ratlosigkeit gegenüber dieser neuen terroristischen Herausforderung signalisiert. Das sei verheerend für das Vertrauen in die Führungsfähigkeit einer Grossmacht.
Andererseits könnte man Obamas Aussage auch als ehrlich einstufen und ihr damit eine sympathische Qualität zubilligen. Politiker verbreiten sich in der Regel ja gerne mit rhetorischem Schwung über „strategische Herausforderungen“ und wie man darauf reagieren werde. Das soll den Eindruck erwecken, man habe den vollen Überblick selbst über komplizierteste Situationen und wisse ziemlich genau, wie man die damit verbundenen Probleme lösen könne.
Erinnerung an W. Bushs Irak-Einmarsch
In der Praxis, so lehrt die Erfahrung den aufmerksamen Zeitgenossen, sehen später die Ergebnisse oft weit weniger überzeugend aus als zuvor bei der medialen Auslegeordnung suggeriert wurde. Und nicht selten entwickelt sich alles ganz anders als bei früheren vollmundigen Stellungnahmen in Aussicht gestellt. Statt vor einer überzeugenden Lösung steht man dann vor einem Desaster. Dass solche Enttäuschungen das Vertrauen in die Führungsqualitäten eines Regierungschefs mehr erschüttern, als eine verzögerte – und deshalb vielleicht besser durchdachte – Entscheidungsfindung, liegt auf der Hand.
Beispiele für solche durch den späteren Verlauf der Dinge widerlegte Pläne und Ankündigungen gibt es zuhauf. Zu den ernüchterndsten Erfahrungen dieser Art gehört in der jüngeren Vergangenheit der von Obamas Vorgänger George W. Bush mit allen Mitteln (auch mit später eindeutig widerlegten Behauptungen) durchgeboxte militärische Einmarsch in Irak. Dieser erreichte zwar den Sturz des teuflischen Saddam-Regimes, doch das war nur ein erstes Nahziel. Welche längerfristigen Folgen dieser Brachialeinsatz im Irak selber, für die Umwälzung der Machtverhältnisse in der Nahostregion insgesamt und für Amerikas Glaubwürdigkeit und Prestige haben würde – das hatten die von Zweifeln und Gegenargumenten unberührten „Strategen“ dieses kostspieligen Abenteuers in Washington offenbar nicht in Betracht gezogen.
Die Stimmen der Lehnstuhl-Strategen
Schon wegen dieser unguten Erfahrungen verwundert es nicht, wenn die Mehrheit der amerikanischen Öffentlichkeit vorläufig nichts mehr wissen will von vorschnellen und mit der grossen Kelle angerührten Militäreinsätzen in fernen Regionen. Ein grosser Teil dieser Öffentlichkeit dürfte denn auch über das defensive Geständnis des amtierenden Präsidenten, man habe noch keine fertige Strategie zur Bekämpfung der IS-Terroristen in Syrien, ungleich weniger entsetzt sein als Obamas konservative Kritiker in den Medien.
Was man denn genau tun sollte, um die Ausbreitung der IS-Barbaren gerade in Syrien zu unterbinden, ohne gleichzeitig dem blutbefleckten Asad-Regime den Rücken zu stärken – auf solche vertrackte Fragen bekommt man auch von den besserwisserischen Lehnstuhl-Strategen vorläufig keine kompakten Antworten. Vielleicht muss man auch bei dieser Spezies noch etwas länger nachdenken, bis ein überzeugendes Rezept gefunden ist – nur wird das, im Gegensatz zu Obamas freimütigem Bekenntnis, nicht öffentlich zugegeben.
Was sind Putins Pläne?
Nun zu Putin. Hat der Kremlherr bei seiner abenteuerlichen Ukraine-Politik eine fertig durchdachte, langfristige Strategie? Auf den ersten Blick mag die immer forscher werdende Aggression gegen das Nachbarland, dessen territoriale Integrität Moskau vertraglich anerkannt hat, diesen Eindruck erwecken.
Putin scheint methodisch vorzugehen: zuerst die gut organisierte Annexion der Krim als Antwort auf die Flucht des an Moskau angelehnten ukrainischen Präsidenten Janukowitsch, dann die direkte und indirekte Unterstützung ostukrainischer Separatisten-Milizen und nun die ziemlich unverhohlene Infiltration bewaffneter russischer Truppenverbände im Südosten der Ukraine.
Inzwischen soll Putin ja gegenüber dem EU-Kommissionsvorsitzenden Baroso die möglicherweise in drohender Absicht geäusserte Bemerkung fallen gelassen haben, die russischen Kräfte könnten bis in zwei Wochen bereits in Kiew sein. Zumindest deutet manches darauf hin, dass man in Moskau den Entschluss gefasst hat, einen direkten Landzugang zur Krim unter Kontrolle zu bringen.
Das sieht tatsächlich so aus, als ob der Kremlchef einen genauen Plan im Kopf hätte, welche Ziele er in der Ukraine – deren umkämpfte Teile im Südosten inzwischen im Moskauer Machtjargon als „Neurussland“ bezeichnet werden – anstrebt. Doch einige erfahrene Kremlbeobachter beurteilen solche Plan-Vorstellungen skeptisch. Sie neigen der Meinung zu, dass Putin bei seinen Ukraine-Vorstössen in erster Linie „auf Sicht“ fahre. Das heisst, er richtet seine Entscheidungen je nach Entwicklung der Dinge an der Front und nach seiner Einschätzung der fluktuierenden innen- und aussenpolitischen Wetterlage.
Eine Art Machtrausch
Inzwischen muss man erkennen, dass Putin seine Einsätze in diesem ukrainischen Machtkampf in einem Mass erhöht, das ihm selbst nach der Annexion der Krim-Halbinsel niemand zugetraut hätte. Man gewinnt den Eindruck, Putin habe sich neuerdings in eine Art Machtrausch hineingesteigert, so dass dass bei ihm die Grenzen eines einigermassen vertretbaren Risikos zunehmend verschwimmen.
Ist dieses Beispiel von vorwärts stürmender Entschlossenheit, wie sie Putin in diesen Wochen demonstriert, nun eine erfolgreichere Politik als Obamas Zaudern und Zögern zur Frage eines erweiterten militärischen Einsatz gegen die ISIS-Terroristen in Syrien und in Irak? Natürlich muss man berücksichtigen, dass die Zielsetzungen und Motive Putins und Obamas in diesen beiden Fällen völlig verschieden sind.
Die Haltbarkeit von Putins Popularität
Dennoch wünschte man sich als beunruhigter Beobachter der gegenwärtig von Krieg und Krisen besonders heftig geschüttelten Weltbühne, dass der Machthaber im Kreml in seiner Ukraine-Politik mehr von jenem Zögern, jenen Zweifeln und jenem Risikobewusstsein an den Tag legen würde, die man heute von mancher Seite dem amerikanischen Präsidenten vorwirft. Welcher Politik-Stil und welche inhaltlichen Prioritäten auf längere Sicht die besseren und haltbareren Früchte tragen werden, wird man dann erst im Rückblick genauer erkennen können.
Zieht man auch die sich abzeichnenden wirtschaftlichen Kosten von Putins Husarenritt in die Ukraine mit ein, so könnte sich dann herausstellen, dass der Kremlherr Russlands Kräfte ebenso überschätzt hat wie die Haltbarkeit seiner jetzigen Popularität.