Zwei heftig umstrittene Abstimmungen über das Covid-Gesetz innert weniger Monate sorgten für einen kaum enden wollenden politischen Kampf. Zwar hat die Demokratie funktioniert. Doch es ist noch nicht gesagt, dass keine Schäden zurückbleiben.
Auf 38 Prozent der Voten haben es die Gegner des Covid-Gesetzes in der eidgenössischen Abstimmung über ihr Referendum gebracht. Das Ergebnis wird als «krachende Niederlage» für die Gegner beschrieben, und angesichts der meist deutlich knapperen Abstimmungsresultate kann man das aus der Sicht der Gewinner so sagen.
Hält man sich aber vor Augen, dass mehr als ein Drittel der Stimmenden sich gegen Bundesrat und Parlament, gegen alle 26 Kantonsregierungen, gegen die Parolen der meisten Parteien (nur die weit rechts politisierenden SVP und EDU empfahlen ein Nein) und gegen den Rat sämtlicher anerkannten Fachleute entschieden haben, so sieht die Sache etwas anders aus. Die Gegner des revidierten Covid-Gesetzes liegen nämlich mit 38 Prozent nur leicht unter den 40 Prozent, die sie am 19. Juni dieses Jahres mit ihrem ersten Referendum gegen das Covid-Gesetz erreicht haben.
Die FAZ charakterisierte die erneut gegen das Covid-Gesetz angetretenen heterogenen Gruppen treffend: «Zum breiten Lager der Gegner zählen Corona-Skeptiker, Libertäre, selbsternannte Freiheitskämpfer, in ihrer Gesundheit vermeintlich unverwundbare Naturburschen, wissenschaftsfeindliche Esoteriker und linke Netzkritiker, die das Zertifikat als Instrument der staatlichen Überwachung verteufeln.»
Manche Gegner des Gesetzes verwahrten sich zwar dagegen, mit dieser Ansammlung von Fehlgeleiteten in einen Topf geworfen zu werden. Sie kritisierten Details des revidierten Gesetzes oder wollten mit ihrem Nein gegen das manchmal unschlüssige Krisenmanagement von Regierung und Verwaltung protestieren. Ihnen muss gesagt werden: Wer das Covid-Gesetz ablehnte, strebte an oder nahm in Kauf, dass der Landesregierung sämtliche Instrumente zur Eindämmung der Covid-Krise aus der Hand geschlagen würden.
Mitten in der nach dem Zweiten Weltkrieg grössten Notlage wollte deutlich mehr als ein Drittel des Stimmvolks den Bundesrat lahmlegen, wollte Schutzmassnahmen für die Bevölkerung und Unterstützungsleistungen für betroffene Branchen abklemmen. Ein Drittel im Fahrwasser von Querdenkern, Querschlägern und Freiheitstrychlern! Es steht zu befürchten, dass dieser harte Kern unbeirrt und unbelehrbar weitermacht. Das Covid-Gesetz muss ja gleich nochmals revidiert werden, was erneut die Chance eines Referendums bietet.
Die SVP, niemals zögerlich in der Wahl der Mittel zur Steigerung ihres Potenzials, dient sich diesem irrationalen Pulk an als die Partei der rücksichtslosen Fundamentalopposition – wohl nicht zuletzt, um die drohende Formierung einer neuen Partei rechts von ihr zu verhindern. Die SVP wollte schon vor Monaten die Pandemie per Dekret für beendet erklären und nimmt auch jetzt wieder Anlauf zur parlamentarischen Obstruktion.
Dass Ueli Maurer im Abstimmungskampf im Hemd der Freiheitstrychler posierte, machte ihn zum Helden der Gesetzesgegner. So lange die Letzteren klar zahlreicher sind als die derzeit 26 Prozent SVP-Wähler, wird er wohl zufrieden sein. Er war und ist als Bundesrat eben stets auch Parteistratege. Als solcher nimmt er seinen Absturz im Beliebtheitsranking locker hin, wenn er mit seinen Avancen an die Covid-Massnahmengegner das Wählerpotenzial der SVP erweitern kann.
Der gegenüber dem 13. Juni 2021 um zwei Prozent verringerte Erfolg bedeutet für die Gegner Ansporn und Frustration zugleich. Er spornt an, ein weiteres Referendum zu wagen, weil der Rückgang ja nicht sehr gross ist. Und er frustriert, weil man es wieder nicht geschafft hat. Die Enttäuschung äussert sich in einer Radikalisierung. Schon im Vorfeld kursierten Gerüchte über eine Fälschung der Abstimmungsresultate, und das Bundeshaus musste wegen Gewaltdrohungen mit Gittern abgesperrt werden. – Zeichen, die auf ein bewusstes Überschreiten Roter Linien bei den Gegnern der Covid-Massnahmen hindeuten. Das ist Gift für die politische Kultur der Schweiz.
Oder war dieser Dauer-Abstimmungskampf mit all dem Lärm etwa ein Plus für die Demokratie? Ja, weil der Meinungsstreit in die Bahnen der politischen Prozeduren gelenkt und dort entschieden wurde. Nein, weil es keine echte Auseinandersetzung, keinen Austausch von Argumenten gab, sondern nur Konfrontation und Zusammenprall. Dabei wird man nicht ernsthaft behaupten können, es seien halt beide Seiten stur und unbelehrbar gewesen. Die Gesetzesgegner haben mit ihren Treicheln auch im übertragenen Sinn den Ton gesetzt: Sie zeigten, dass sie nicht diskutieren, sondern sich selbst und ihre Opponenten zudröhnen wollten.
Es ist jetzt noch einmal gutgegangen. Bei näherer Betrachtung der Umstände ist das kein Grund zur Beruhigung. Die politische Schweiz muss darauf achten, dass das Pfeifen auf Tatsachen und das Abwürgen jeder vernünftigen Auseinandersetzung nicht zum Dauerzustand wird.