Das Leid, welches die russische Invasion täglich über das Land bringt, wird für Generationen unvergessen und unverzeihlich bleiben. Trotz Elend, Schmerz und atomaren Drohungen – dieser Krieg hat wie jeder andere eine Vorgeschichte. Hier einige Etappen.
Geopolitisch kann man, wenn man will, die Wurzeln des Ukrainekrieges bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurückverfolgen. Im Jahr 1904 bezeichnete der britische Geograph Halford Mackinder den eurasischen Kontinent einschliesslich Afrikas als die «grosse Weltinsel». Wer das «Herzland» dieser Weltinsel, nämlich das Gebiet von der Wolga bis zum Jangtsekiang, vom Himalaya bis zur Arktis beherrsche, der beherrsche auch die Welt. Und: «Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland.
Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel.»
Das Herzland der Weltinsel aber wurde über Jahrhunderte vom Zarenreich und von der Sowjetunion beherrscht. Putins Russland, besonders ein Russland ohne die Ukraine, sowie die aus der Sowjetunion entstandene machtlose «Gemeinschaft unabhängiger Staaten» (GUS) wäre – nach Mackinder – nur noch ein blasser Abglanz früherer geopolitischer Vorherrschaft.
«Die Ukraine bleibt für Russland unverzichtbar»
Aber auch die USA seien um Einfluss über die «Weltinsel» und um Herrschaft über die reichen Rohstoffe – auch jene der Ukraine – bemüht, schreibt die Berliner Professorin Birgit Mahnkopf. Unter dem Titel «Der Kampf um Eurasien» argumentiert sie in Anlehnung an Mackinder, die USA hätten mit 750 Militärbasen in 80 Ländern sowohl um Eurasien als auch um das neue «Herzland» des indopazifischen Raumes einen Ring gelegt.
Zbigniew Brzeziński, der bekannte, 2017 verstorbene, aus einer polnischen Adelsfamilie stammende politische Stratege, einst Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, ist, wenn auch indirekt, in der geopolitischen Gedankenwelt von Mackinder zu Hause. In seinem Buch «The Grand Chessboard» von 1997 sagt er, dass die Ukraine für Russland unverzichtbar bleibe, wenn Russland als eurasische Grossmacht existieren wolle und weiterhin mit China mithalten könne. Aber alle westlichen Hoffnungen, dass Russland sich öffne und modernisiere, dass es zu einem demokratischen Partner eines demokratischen Amerika werde, sind aus Brzezinskis Sicht davon abhängig, dass Russland den Herrschaftsanspruch über die Ukraine aufgebe.
Die Nato-Osterweiterung – ein verhängnisvoller Fehler?
Aus Putins imperialer Sicht aber hat der Westen dazu beigetragen, dass Russland auf die Ukraine nicht verzichten könne, weil der Westen, insbesondere die USA durch die Nato-Osterweiterung immer mehr an Russland herangerückt seien. Auch manche politische Strategen aus dem Westen sahen das so. George F. Kennan etwa, mehrfach US-Botschafter in Moskau und Autor einer «Containment»-Strategie gegen die Sowjetunion, schrieb am 7. Februar 1997 in der New York Times:
«Die Meinung ist, offen herausgesagt, dass eine Nato-Erweiterung der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der ganzen Zeit seit dem Kalten Krieg wäre.» Kennan begründete diese Warnung so: «Diese Entscheidung wird nationalistische, antiwestliche und militaristische Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit entfachen, die Entwicklung der russischen Demokratie negativ beeinflussen und die russische Aussenpolitik in Richtungen drängen, die uns nicht gefallen werden.»
Gegen eine «monopole Welt»
Zehn Jahre später, 2007, bestätigte Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz diese Befürchtungen. In seiner Rede wandte er sich gegen die von ihm so gesehene Alleinherrschaft der USA: gegen eine, wie er es nannte, monopolare Welt:
«Aber was ist eigentlich eine monopolare Welt? Wie man diesen Terminus auch schmückt, am Ende bedeutet er praktisch nur eines: Es gibt ein Zentrum der Macht, ein Zentrum der Stärke, ein Entscheidungs-Zentrum. Es ist die Welt eines einzigen Hausherren, eines Souveräns. Und das ist am Ende nicht nur tödlich für alle, die sich innerhalb dieses Systems befinden, sondern auch für den Souverän selbst, weil es ihn von innen zerstört.»
«How the West Provoked Putin»
Sieben Jahre nach Putins Rede und vierzehn Jahre nach der Warnung von George F. Kennan, erschien auf dem Cover der renommierten US-Zeitschrift «Foreign Affairs» die überraschende Überschrift «How the West Provoked Putin». Auf Seite 77 folgt ein Aufsatz von John J. Mearsheimer von der Universität Chicago «Why the Ukraine Crisis is the West’s Fault» und auf Seite 90 ein Aufsatz von Professorin Mary Elise Sarotte (später Autorin des Buches «Not one Inch») unter dem Titel «A Broken Promise?» (Dazu später in diesem Text)
John Mearsheimer gibt die Schuld an der russischen Annexion der Krim (2014) und der Besetzung des Donbass durch russische Truppen weitgehend dem Westen. Für Russland sei die rasche Osterweiterung der Nato unakzeptabel gewesen. Und angesichts der Nato-Bombenkampagne gegen die bosnischen Serben 1995 beklagte sich Russlands Präsident Jelzin: «Dieses ist das erste Zeichen für das, was geschehen wird, wenn die Nato bis an die Türschwellen der Russischen Föderation kommt.»
Osterweiterung – auf audrücklichen Wunsch der Polen und Balten
Allerdings erwähnt Mearsheimer die Tatsache nicht, dass besonders Polen und die baltischen Staaten damals den dringenden Wunsch nach Aufnahme in die Nato geäussert haben. Zu schlecht waren ihre Erfahrungen mit dem Machtanspruch ihres östlichen Nachbarn auf ihre Länder. Der Autor dieses Textes war seinerzeit SZ-Korrespondent für Osteuropa mit Sitz in Warschau und konnte sich von dieser Stimmung während vieler Reisen und langen Gesprächen überzeugen. Der zweifellos vorhandene Ausdehnungsdrang der Nato traf also durchaus auf Zustimmung in den unabhängig gewordenen osteuropäischen Staaten.
In der Ukraine verfolgten die USA das Ziel, eine Zivilgesellschaft aufzubauen und das Land womöglich aus dem Orbit Russlands zu lösen. Victoria Nuland, stellvertretende Aussenministerin für europäische und eurasische Angelegenheiten, schätzte, dass die USA vier Milliarden Dollar in den Aufbau einer ukrainischen Zivilgesellschaft gesteckt hätten. Und Carl Gershman, Präsident des «National Endowment for Democracy», die einen Teil der Ukraine-Gelder bekommen hatte, nannte die Ukraine den «höchsten Preis», der zu erringen sei. Im September 2013 schrieb Gershman in der «Washington Post», die Wahl der Ukraine, sich Europa anzuschliessen, «wird den Niedergang der Ideologie des russischen Imperialismus beschleunigen, den Putin repräsentiert».
«Not only win big, but win bigger»
Einen von Anfang bis zu Ende faktenreichen, kaum wertenden Bericht über die Osterweiterung der Nato präsentiert die amerikanische, heute in Yale lehrende Historikerin Marie Elise Sarotte. Ihr Buch unter dem Titel «Not One Inch» bezieht sich auf Äusserungen (die allerdings niemals vertraglich festgeschrieben worden sind) von den damaligen Aussenministern James Baker und Hans-Dietrich Genscher, wonach sich die Nato im Falle einer Wiedervereinigung Deutschlands «not one inch» nach Osten ausdehnen werde.
Es kam anders. Sarotte schreibt:
«Die USA realisierten, dass sie nicht nur einen grossen Sieg einfahren konnten, sondern einen noch grösseren Sieg erringen könnten.» (Wörtlich: «They realized, it could not only win big, but win bigger. Not one inch of territory need be off-limits to Nato.»
Und weiter: Clinton habe auf die Frage, ob man mit Russland Kompromisse schliessen könne, geantwortet: «To Hell with that.» Clinton sei zuversichtlich gewesen, dass Russland «could be bought off». So kam es dann auch. Michail Gorbatschow und seine Sowjetunion waren politisch schon zu schwach, um die Nicht-Ost-Erweiterung der Nato vertraglich fixieren zu lassen. Und tatsächlich: Gorbatschow benötigte Geld. Zehntausende russischer Soldaten würden aus Osteuropa heimkehren. Diese brauchten Unterkünfte, Jobs, Verpflegung. Deutschland bezahlte Milliarden.
Einsammeln, was bereits geschnitten ist
Allerdings kam die Osterweiterung anfangs nicht so zielgerecht voran, wie oft angenommen wurde. Die Präsidenten H. W. Bush und Bill Clinton und deren Spitzendiplomaten hätten, schreibt Sarotte, die Ausdehnung der Nato fürs erste zurückgehalten, um das Regime von Boris Jelzin zu stabilisieren. Erst als Jelzins Herrschaft gewankt habe, erst als die Chancen auf Demokratisierung gesunken und eine Verschlechterung der Ost-Westbeziehungen absehbar gewesen seien, habe man sich entschlossen, die Nato-Allianz zu erweitern. Auch der deutsche Kanzler Helmut Kohl sei schliesslich der Meinung gewesen, «angesichts eines heraufziehenden Gewitters» müsse man einsammeln, was man bereits geschnitten habe, also die Ernte einfahren, bevor der Sturm herniederginge.
Professorin Mary Elise Sarotte, Amerikanerin, sagt von sich, sie habe keineswegs ein «triumphalistisches Buch» schreiben wollen. Hat sie auch nicht. Aber sie glaube, sagt sie, dass die «Ausdehnung der Nato auf frühere Warschauer-Pakt-Länder» durchaus ein integraler Bestandteil von Freiheit und Sicherheit gewesen sein könnte, der sich über den gesamten Kontinent verbreite. Was aber, fragt sie, wenn dieselbe Geschichte jemanden wie Putin betreffe, der diese Entwicklung als Katastrophe betrachte? Dann, sagt sie, gebe es eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass wir im Jahre 2022 «eine grosse europäische Landschlacht» erleben, weil Putin glaube, der Westen habe Russland am Ende der Kalten Krieges ungerecht behandelt.
«Der Westen nutzt die Schwäche Russlands rigoros aus»
Argumentative Unterstützung bekommt Professorin Sarotte von Fritz Pleitgen, dem ehemaligen, vor kurzem verstorbenen ARD-TV-Korrespondenten in Moskau, Washington und in der DDR sowie späteren Intendanten des Westdeutschen Rundfunks. Zusammen mit dem Russen Michail Schischkin hat Pleitgen ein Buch geschrieben unter dem Titel «Frieden oder Krieg» – in bewusster Anlehnung an Tolstois «Krieg und Frieden».
Pleitgen argumentiert: «Der Westen nutzte die Schwäche Russlands rigoros aus. Russische Sicherheitsinteressen fanden keine Beachtung. … Der Status quo in Europa hatte sich dramatisch zuungunsten Russlands verändert.»
Pleitgen berichtet weiter über einen Beitrag des Journalisten Andrew Cockburn unter dem Titel «Game on – East versus West» in «Harper’s Magazine» vom Januar 2015. Mit Schrecken habe die amerikanische Waffenindustrie zur Kenntnis genommen, dass mit dem Ende der Sowjetunion jener Feind nicht mehr existiere, um dessentwillen man immer mehr und stets neuere Waffen produziert habe. Als Lösung habe die Waffenlobby, schreibe Cockburn, die Ausdehnung der Nato nach Osten, mithin die Erschliessung neuer Waffenmärkte in neuen Nato-Ländern gesehen und sogleich Informationsbüros in manchen ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten eröffnet.
Nichts rechtfertigt diese Schlächterei
Rechtfertigt diese Entwicklung, rechtfertigen mögliche Fehler des Westens die Schlächterei, mit der Putin seit Monaten die Ukraine überzieht?
Natürlich in gar keiner Weise.
- Erstens: grundsätzlich: Kein einziges Ziel, schon gar nicht die Absicht, ein untergegangenes Imperium in neuer Form zu errichten, darf Grund für die Zerstörung eines ganzen Landes, für Mord an Abertausenden Menschen, für Folter an Kombattanten und Zivilisten sein.
- Zweitens: Bei seinem Besuch in Moskau kurz vor dem russischen Überfall hat der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz gegenüber Putin erklärt, ein Beitritt der Ukraine zur Nato stehe mindestens für ein Jahrzehnt nicht auf der westlichen Tagesordnung.
- Drittens: Präsident Wolodimyr Selenskyi hat mehrfach betont, er könne sich eine politisch neutrale Ukraine ausserhalb der Nato durchaus vorstellen.
- Viertens: Gedanken, die erstmals Boris Jelzin äusserte, wonach sich die neu gegründete «Gemeinschaft Unabhängiger Staaten» (GUS) zu einem Staat mit eigenen Institutionen und Herrschaftsanspruch über seine Mitglieder entwickeln sollte – einem solchen Gedanken hat die Ukraine von vornherein einen Riegel vorgeschoben. Am 20. Dezember 1991 – das berichtet der ukrainische Historiker Serghii Plokhy – verabschiedete das ukrainische Parlament einen Beschluss, wonach die Ukraine «ein unabhängiger Staat» sei und «internationalem Recht» unterstehe. Kurz: Die Ukraine wollte endgültig und für immer unabhängig sein – vor allem von Moskau.
- Schliesslich fünftens: Der eigentliche Grund für Putins Vernichtungskrieg ist nicht die bis an die Grenzen Russlands vorgestossene Nato. Putin ist ein Diktator. Er hasst die westliche Demokratie. Er sieht diese als Gefahr. Einen demokratisch regierten Nachbarn wie die Ukraine kann er aus seiner autoritären Sicht nicht dulden – zu leicht könnten sich seine Untertanen mit der Forderung nach Demokratie gegen ihn auflehnen. Lieber also die eigene Herrschaft erhalten und dafür ein Land mit seinen Menschen opfern.
Der eingangs bereits zitierte Zbigniew Brzeziński schrieb bereits 1997: «Wenn Russland sich für Europa entscheidet, liegt es automatisch in seinem Interesse, dass die Ukraine in die europäischen Strukturen aufgenommen wird. Das Verhältnis der Ukraine zu Europa wird zum Wendepunkt für Russland.»
Russland aber, das spürte Brzezinski, werde wohl eine Richtung einschlagen, die von Europa wegführe. Und Michail Schischkin, Co-Autor von Fritz Pleitgen, in der Schweiz lebender schweizerisch-russischer Autor, schrieb (laut Wikipedia) im Jahr 2013:
«Ein Land, in dem ein kriminelles, korruptes Regime die Macht ergriffen hat, in dem der Staat eine Verbrecherhierarchie ist, in dem sich Wahlen in eine Farce verwandelt haben, in dem die Gerichte den Machthabern dienen und nicht dem Gesetz, in dem es politische Gefangene gibt, in dem das Staatsfernsehen zur Hure gemacht wurde, in dem Usurpatoren stapelweise wahnsinnige Gesetze verabschieden, die die Gesellschaft ins Mittelalter zurückversetzen, ein solches Land kann nicht mein Russland sein.»
Den Preis für diesen fatalen Weg, den Zbigiew Brzeziński befürchtet hatte, muss seit dem 24. Februar 2022 jeden Tag die Ukraine bezahlen.
Quellen in der Reihenfolge des Textes:.
1. Beitrag über Halford Mackinder siehe Wikipedia
2. Birgit Mahnkopf: Der Kampf um Eurasien. Von der Globalisierung zurück zur Geopolitik. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 10/2022
3. Beitrag über Zbigniew Bzezinski in: Deutschlandfunk vom 3.8.2015
4. John J. Mearsheimer: Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. The Liberal Delusions That Provoked Putin. In: Foreign Affairs, September/October 2014
5. Mary Elise Sarotte: A Broken Promise? What the West Really Told Moscow About NATO Expansion. Foreign Affairs, September/October 2014
6. Mary Elise Sarottee: Not One Inch. America, Russia and the Making of the Post-Cold War Stalemate. Yale University Press 2021. Dazu:Joy Hagreaves: Summary Not One Inch. Copyright Joy Hagreaves 2022
7. Fritz Pleitgen und Michail Schischkin: Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – Eine Annäherung. Verlag Ludwig, München 2019
8. Serhii Plokhy: Das Tor Europas. Die Geschichte der Ukraine. Verlag Hoffmann und Campe Hamburg 2022