Die bekundete Version lautete, sie seien aus Versehen im Iglu liegen geblieben. Den Gesichtsausdruck des Materialwartes habe ich nicht mehr präsent, es ist ja ein halbes Jahrhundert her. Ich vermute, dass er den Kopf schief legte, ein Auge zukniff und mich mit dem anderen scharf fixierte. Wir wussten beide, dass es gelogen war. «Hier unterschreiben», sagte der Materialwart. Das war 1968 im Keller einer Kompanie des Gebirgsjägerbataillons in Mittenwald, nicht weit von der österreichischen Grenze. Ich hatte meine zwei Jahre absolviert und liess bei der Entlassung die wunderschönen Seehundfelle mitgehen. Es ist zu hoffen, dass die Straftat verjährt ist.
Sie waren von einem sehr hellen Braun, aufgenäht auf eine Unterlage aus dickem Segeltuch. Man hängte sie mit einer Schlaufe an den Skispitzen ein und befestigte sie hinten mit einer Spannvorrichtung. In der Mitte hatten sie eine kleine Metallschiene, die wurde in den Kopf einer Schraube eingeführt, die man in der Skimitte herausdrückte. Mit Hilfe einer Feder schnappte die Schraube zurück und hielt so das Fell unter dem Ski fest. Rein ästhetisch gesehen waren die Robbenfelle ein alpinistisches Schmuckstück, ihr Gebrauch hingegen war eine Plackerei sondergleichen. Denn natürlich bildeten sich Klumpen von Schnee zwischen Ski und Fell, und Ersatzfelle waren obligatorisch, weil öfter mal ein Fellriemen riss.
Alpinismus ist aus dem Handwerk entstanden
Man sagt, der Alpinismus sei in seinen Anfängen eine Erfindung aristokratischer Briten gewesen, aber was hätten sie gemacht ohne die einheimischen Handwerker? In seiner Geschichte des Bergsteigens mit dem treffenden Titel, «Der Träger war immer schon vorher da», nimmt Martin Krauss die Ideologie des alpinen Heldentums auseinander. Ohne die Hilfe von Bauern und Bäuerinnen, Gemsjägern, Hirten, Sennerinnen, Saumtreibern, Schmugglern und Schmieden wäre kein einziger der Gentlemen zum Gipfel gekommen. Denn Bergsteigen entstand von alters her aus dem Handwerk:
«Seile gab es, um Schafe, Ziegen und Rinder sicher ins Tal zu bringen. Steigeisen wurden verwendet, um an steilen Hängen zu mähen oder auf Eisfeldern der Jagd nachzugehen (…) Die ersten städtischen Bergtouristen waren oft fasziniert von dem, was Gemsjäger und Hirten konnten.» (Krauss, S. 16)
Am 11. Dezember hat die Unesco den Alpinismus in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Bergführerverbände und Alpenclubs in Frankreich, Italien und der Schweiz hatten sich dafür stark gemacht. Das Bundesamt für Kultur schreibt, die Unesco wolle damit «ein Kulturerbe thematisieren und schützen, das weniger mit Bauten und Räumen zusammenhängt, sondern in erste Linie mit gemeinschaftlichen Praktiken und gesellschaftlichen Interaktionen».
Denn der Alpinismus sei «geprägt von einer gemeinsamen Kultur, von geteilten Kenntnissen über die Geschichte der Praktik selbst und ihrer Werte». Da gehe es nicht zuletzt um Kenntnisse über Technik und Sicherung des Aufstiegs und die Verwendung des Materials.
Die Erfindung der Haftfelle
Beim Klettern wie beim Skibergsteigen war das Material stets ein Schlüsselfaktor. Dass das «Skitouring» in den letzten Jahrzehnten ein Massensport wurde, wäre ohne die Entwicklung der Steigfelle unmöglich gewesen. Die bahnbrechende Wende kam in der Schweiz 1968. In dem Jahr gab es nicht nur die erste Mondlandung und Studentenrevolten, die einen kulturellen Umbruch einleiteten, sondern auch eine Zeitenwende im Alpinismus: nämlich die Erfindung von selbsthaftenden Skifellen. Erfunden hat sie Hans Fischli im Kanton Glarus, und er liess sie auch bald patentieren.
Fischli hatte Schuhmacher gelernt, sich aber Ende der vierziger Jahre auf die Produktion von Kletterrucksäcken und Skistöcken aus Metall spezialisiert. Er war selbst passionierter Bergsteiger und Kletterer. Im Kanton Glarus war schon 1893 der erste Skiclub gegründet worden. Das Skifahren hatte sich von Skandinavien aus in den Alpenländern ausgebreitet. So ist es wohl auch zu erklären, dass die ersten Steigfelle aus Seehundfell gefertigt waren.
Der Gebrauch von Fellstreifen zum Aufstieg mit Skiern war schon um 1900 bekannt. Das grosse Problem war, dass sie mit Riemen schlecht am Ski hielten. Auch der Gebrauch von Klebwachs war keine Lösung, denn wenn man auf dem Gipfel die Felle abnahm, musste man den Wachs mühsam vom Skibelag abkratzen.
«Mein Vater hat Jahre lang gepröbelt, bis er es schliesslich geschafft hat, einen Leim zu entwickeln, der am Textil haften blieb, aber nicht an den Skiern», erzählte mir vor ein paar Jahren Werner Fischli, damals noch Chef und Inhaber der Firma Colltex in Glarus. Colltex ist aus der Tödi Sport AG von Hans Fischli hervorgegangen und gehört heute zu den Marktführern unter den Herstellern von Skifellen.
Die Erfindung der Haftfelle war eine Revolution. Nicht nur die Alpinistinnen und Alpinisten erkannten schnell die Vorteile der neuen Technik, auch die Schweizer Armee rüstete Gebirgstruppen mit dem Selbstklebefell aus. Für Hans Fischli und seine Tödi Sport AG war das der Take-off.
Colltex war indessen nicht lange allein auf dem Markt. Das Klebefell setzte sich im Handumdrehen im ganzen Alpenraum und in den USA durch. Heute hat der US-Hersteller Black Diamond eine starke Marktposition, aber auch die Westschweizer Pomoca sowie die österreichischen Firmen Fischer, Contour, Gecko und andere sind im Geschäft mit den Skifellen.
Mohair: die wunderbare Naturfaser
Prinzipiell hat sich im Lauf eines halben Jahrhunderts wenig geändert am Aufbau der Felle. Sie bestehen aus einer polyesterverstärkten Baumwollzwischenlage, die mit dem Fasergewebe (Fellflor) zusammengepresst wird. Auf die Rückseite kommt dann die Haftschicht, die am Ski aufliegt. Der Flor besteht aus Synthetikfasern (meist Polyamid) oder aus Mohair, der Wolle der Angora-Ziege.
Das Erstaunliche dabei ist, dass es trotz der enormen Entwicklung der Kunststoffe bis heute nicht gelungen ist, ein Skifell zu produzieren, dass es mit den Vorzügen der Naturfaser Mohair aufnehmen kann. Mohair ist stark resistent gegen Feuchtigkeit und bleibt auch bei grosser Kälte geschmeidig. Die Gleiteigenschaften reiner Mohairfelle sind besser als die von synthetischen Fasern. Die Athleten der „Patrouille des Glaciers“, eines der weltweit härtesten Skitouren-Rennen, benutzen nach wie vor oft Haftfelle aus reinem Mohairgewebe.
Bei den Klebern wurde und wird viel experimentiert. Der Leim, den Hans Fischli erfand, war ein Harzkleber, also ein Naturprodukt. Im heutigen Jargon der Hersteller spricht man von Hotmelt Adhesion. Vor ein paar Jahren kam dann das „Fell ohne Kleber“ auf den Markt, die Acrylate Adhesion. Sie funktioniert mit einer kleberlosen Haftschicht auf Silikon Basis. Die Moleküle richteten sich auf Druck anders aus und dadurch entstehe die Haftung, so wurde mir schon vor Jahren erklärt, und ich habe es bis heute nicht recht verstanden.
Der Vorteil dieser Felle ist, dass man sie mit den Klebeflächen einander legen kann, ohne die lästigen Kunststoffnetze dazwischen zu legen, was bei Sturm auf einem Gipfel eine mühsame Übung ist.
Bei Colltex hat man aber von dem reinen Silikonkleber schnell wieder Abstand genommen. Hans-Peter Brehm, Bergführer und seit zwei Jahren Colltex-Chef, sagt: «Wir haben jetzt noch das Acrylat, das ist auch auf einer Silikon-Basis, aber nicht rein, sondern es ist ein Mix. Man kann es ohne Netz verwenden. Was da aber der Nachteil ist: Wenn man ein paarmal auf- und abfellt und es ist vielleicht feucht und das Fell wird nass, dann kann es sein, dass es nicht mehr so gut klebt. Für Spezialisten, die wissen, wie man damit umgeht, ist es super, aber für die breite Masse der Skitourer ist es nicht so gut.»
Brehm sieht die Probleme der Zukunft weniger beim Leim als beim Flor:
«Die Mohairwolle kommt aus Südafrika. Die Beschaffung ist teilweise problematisch. Denn das Material wird auch in der Möbelindustrie gebraucht, die Chinesen kaufen sehr viel, die Preise steigen und wir haben tendenziell keine Versorgungssicherheit. Natürlich auch beim Mix-Fell, wo man 70 bis 80 Prozent Mohair drin hat und noch Synthetik, dass es etwas stabiler und langlebiger wird.»
Colltex habe deshalb kürzlich ein Patent auf ein reines Synthetik-Fell anmelden können. Synthetik-Fasern gleiten nicht so gut. Daher habe man eine ganz neue Technologie entwickelt, um die Gleiteigenschaften zu verbessern. Und wie soll das funktionieren? «Wird nicht verraten», sagt Brehm, «Betriebsgeheimnis.»
Letzten Sommer habe ich die alten Felle aus Mittenwald in die Zürcher Verbrennungsanlage Hagenholz gebracht. Zusammen mit einem Haufen geschichtsträchtigen Alpinwerkzeugs: uralte Steigeisen, löchrige Segeltuchgamaschen, bleischwere Vollmetall-Eispickel, abgenutzte 12-mm-Seile und Tourenskier von zwei Metern Länge, die heutige Cracks wohl als «Spaghetti» bezeichnen. Es war ein Transport mit schwerem Herzen, die Entsorgung eines alpinistischen Curriculums und seiner Fetische.
Aber wenn auch Faulkner schrieb, die Vergangenheit sei nie tot, sie sei nicht einmal vergangen, so kann ich doch sagen: Jetzt hab ich endlich mehr Platz im Keller. Für die verschiedenen neuen Tourenski und die Mohair-Felle mit Hotmelt Adhesion.
Denn wie man sieht: Das «immaterielle Kulturerbe» bringt ganz schön viel Material hervor.