Feuer, Barrikaden, mehr als hundert Verletzte und der ständige Ruf nach dem Rücktritt des Präsidenten geben zu denken. Gewiss, es gab die professionellen Schläger und Chaoten aus dem extrem rechten und dem extrem linken Lager. Zum Teil haben sie sich gar untereinander geprügelt. Aber es waren nicht nur sie. Hunderte, wenn nicht ein oder zweitausend Gelbwesten, die nicht nur zum friedlichen Demonstrieren gekommen waren, haben offensichtlich mitgemischt. Und nicht zu vergessen: Dutzende kampferprobte Jugendliche aus den Pariser Vorstädten, die bei derartigen Gelegenheiten vor allem auf das Plündern von Geschäften aus sind, waren auch dabei – und von Geschäften gab es rund um die Champs-Élysées und auf dem Boulevard Haussmann genügend.
Hilflosigkeit
Mehrere Tage nach den Ereignissen, von denen altgediente Sicherheitsspezialisten sagen, sie seien durch ein kaum jemals da gewesenes Ausmass von Gewalt charakterisiert gewesen, wirken Präsident Macron und seine Regierung ratlos, fast erschlagen und wissen keine Antwort auf die berühmte Frage: „Was tun?“
Der Präsident hatte am Sonntag, kaum zurück vom G20-Gipfel in Buenos Aires, seinem Premierminister aufgetragen, mit den Gelbwesten zu verhandeln. Doch die wollen offensichtlich nicht wirklich verhandeln, haben nach drei Wochen immer noch keine Struktur, keine wirklichen Sprecher oder gar einen, von allen akzeptierten Anführer oder eine Anführerin. Ihre Art und Weise zu agieren, zu reagieren und zu fordern, entspricht schlicht und einfach keinem Prozedere von bisherigen Protestbewegungen. „Du jamais vu“ – etwas, das man noch nie gesehen hat, heisst es immer wieder.
Keine Ansprechpartner
Für die Regierung ist das schlicht der Horror. Ihre Suche nach echten Ansprechpartnern ist bislang immer noch erfolglos geblieben. Premierminister Philippe hatte zunächst für Montag, dann für Dienstagnachmittag zu Verhandlungen geladen – und das bereits zum zweiten Mal innerhalb von 10 Tagen – doch schon Montagabend war klar, dass am Tag darauf keine einzige Gelbweste im Hôtel Matignon erscheinen wird.
Die einen sagen, sie hätten Todesdrohungen von anderen Gelbwesten erhalten, für den Fall, dass sie mit dem Regierungschef sprechen würden, die anderen hatten Vorbedingungen gestellt, die Präsident und Regierung nicht erfüllen konnten, ohne ihr Gesicht vollständig zu verlieren. Also: Nix mit Dialog und die Erkenntnis: die Gelbwesten wollen sich im Grunde von niemandem repräsentieren lassen. Eine Situation, die in den Kreisen der Macht, aber auch bei vielen Bürgern extreme Beunruhigung zur Folge hat. Zur Stunde scheint niemand zu wissen, wohin diese Bewegung führen wird.
Macron untergetaucht
Und Präsident Macron, der vor 18 Monaten allseits umjubelte Präsident, dem die Zukunft zu gehören schien, ist abgetaucht und schickt seinen Premierminister an die Front, der am Dienstag verkünden musste, dass der Präsident – erstmals seit seinem Amtsantritt im Mai 2017 – im Rahmen seines Reformmarathons einen echten Rückzieher macht. Die Ökosteuer auf Treibstoff, die zum 1. Januar 2019 geplant war und das berühmte Fass zum Überlaufen brachte, ist aufgeschoben, ebenso die längst überfällige Angleichung der Diesel- an die Benzinpreise und das Ende der reduzierten Dieselpreise für Unternehmer ebenso. Ausserdem werden die staatlich kontrollierten Gas- und Strompreise nicht – wie geplant – am 1. Januar angehoben, und der Mindestlohn soll um 3% erhöht werden. Keine Steuer sei es wert, so Premierminister Philippe bei seiner Ansprache am Regierungssitz, dass die Einheit der Nation gefährdet wird.
Das klingt gut und vernünftig, aber den Gelbwesten im ganzen Land reicht das bei weitem nicht. Bei ihnen kommt ein seit Jahrzehnten angestauter Frust von gut drei Fünfteln der Bevölkerung zum Ausdruck, die mit Löhnen zwischen 1200 und 2000 Euro oder mit Renten von 800 oder 900 Euro in der französischen Provinz schon seit langem nicht mehr über die Runden kommen und auch nicht in der Pariser Region oder im Einzugsgebiet von wirtschaftlich dynamischen regionalen Metropolen wie Nantes, Rennes, Toulouse oder Bordeaux leben. 24 Stunden nach den Zugeständnissen der Regierung und des Präsidenten ist klar: Es reicht bei weitem nicht, damit die aufständischen Bürger ihre gelben Westen wieder ausziehen.
Erneut Vermögenssteuer?
Prompt gab der Regierungssprecher am Mittwochmorgen zu verstehen, man könnte sogar daran denken, die Abschaffung der Vermögenssteuer wieder rückgängig zu machen, was inzwischen als eine Art Ursünde von Präsident Macron gilt und ihm schon sehr früh das Image eingebracht hatte, der Präsident der Reichen zu sein. Diese Abschaffung der Vermögenssteuer war einer der ersten symbolischen Akte des neu gewählten Präsidenten, nach dem Prinzip: Wenn man die da oben nur machen lässt und die Schwerreichen nicht zur Flucht ins Ausland treibt, kommt das irgendwann denen da unten auch zugute. Oder mit Macrons berühmtem Bild: Der erste in einer Seilschaft zieht die unteren, die da am Seil hängen, mit sich.
Das Dumme ist: Die Gelbwesten und Millionen Franzosen haben davon nach 18 Monaten Macron schlicht und einfach nichts gespürt – im Gegenteil: Abgaben und Steuern stiegen weiter und am Ende hatten die Ärmsten und die von Armut bedrohte untere Mittelschicht den Eindruck, man wolle vor allem ihnen mit der Ökosteuer erneut an ihren ohnehin schon leeren Geldbeutel.
Ausgelaugte Ordnungskräfte
Eines ist klar seit Samstag, dem 1. Dezember 2018: Ordnungskräfte allein – ob sie nun 4000, 5000 oder 10’000 sind, die man für diese, man kann schon fast sagen „Samstagdemos“ mobilisiert – sie können kaum etwas ausrichten gegen Demonstrationen, die schlicht nicht angemeldet sind, bei denen es auch keinen klassischen Demonstrationszug gibt, sondern bei denen sich, via soziale Netzwerke, hier ein paar hundert und dort ein paar hundert Gelbwesten oder Chaoten in Gelbwesten zusammenfinden, losziehen, irgendwann auf Ordnungskräfte treffen und dann die Konfrontation suchen. Der Ruf nach noch mehr Ordnungskräften macht angesichts der jüngsten Ereignisse einfach keinen Sinn. Dazu kommt, dass die Ordnungskräfte auf dem Zahnfleisch gehen, nach jahrelanger Überforderung seit den Terroranschlägen 2015 einfach nicht mehr können. Der eine oder andere hat letztes Wochenende jegliche Pflicht der Zurückhaltung, der er unterliegt, über Bord geworfen und fast verzweifelt in die Mikrofone diktiert: Er und seine Kollegen seien am Ende, sie könnten einfach nicht mehr und fühlten sich bei diesen gewaltsamen Demonstrationen wie Schlachtvieh.
Gleichzeitig ist klar: Sollte es bei den Konfrontationen auch nur einen einzigen Toten unter den demonstrierenden Gelbwesten geben, der auf das Konto der Ordnungskräfte geht – würde das Ganze definitiv aus dem Ruder laufen. Dass die Gelbwestenbewegung selbst inzwischen vier Tote und Aberhunderte Verletzte im ganzen Land zu verantworten hat, spielt dann keine Rolle mehr.
Le roi est nu
Macrons Schweigen seit dem Ausbruch der Gelbwestenbewegung und die Tatsache, dass er jetzt seinen Premierminister vorschickte, um ein paar Zugeständnisse zu verkünden, ist in den Augen derer, die seit drei Wochen im ganzen Land an den Strassensperren stehen – darunter erstaunlich viele mit bereits grauen Haaren – schon wieder ein Beispiel dafür, dass der Präsident sie geringschätzt. Anders herum aber: Würde der Präsident momentan sich per klassischer Fernsehansprache an das Volk wenden, würde er nur Hohn und Spott ernten. Die Geschwindigkeit, mit der sich die gelbe Welle auf den Präsidenten persönlich eingeschossen hat und ihm gegenüber einen bislang kaum vorstellbaren Hass zum Ausdruck bringt, ist schwindelerregend.
Dienstagabend begab sich Macron unangekündigt in die zutiefst konservative und erzkatholisch geprägte Provinzstadt Le Puy en Velay im Zentralmassiv. Dort hatten die Gelbwesten am Wochenende doch tatsächlich die Präfektur – die Vertretung des Zentralstaates – in Brand gesteckt. Für diesen ansonsten verschlafenen Ort ein unglaublicher Vorgang. Und was passierte? Macrons unangemeldeter Besuch in der Stadt endete damit, dass bei seiner Abfahrt Gelbwesten den Präsidentenkonvoi zu Fuss verfolgten, ihre Wut herausschrien und auf das ein oder andere Auto der Wagenkolonne einschlugen.
System der 5. Republik
Für Macron ist das und die gesamte Stimmung im Land eine wahrlich brutale Retourkutsche für sein Agieren seit 18 Monaten und ein Zeichen dafür, dass die von der Verfassung der 5. Republik herrührende republikanische Monarchie in derartigen Zeiten eher untauglich, ja gefährlich ist.
Seit Jahrzehnten wird vor jeder Präsidentschaftswahl davon geredet, ein Kandidat müsse, um erfolgreich zu sein, eine direkte Beziehung mit dem Volk aufbauen. Nun ist sie da – diese direkte Beziehung und plötzlich steht der republikanische Monarch sehr alleine da. Macrons spektakulärer Wahlsieg hat die klassischen Parteien zertrümmert – als Puffer und Vermittler taugen sie derzeit einfach nichts, sind aussen vor, haben kein Gewicht mehr.
Nach den Parteien hat Macron auch die Gewerkschaften nicht gerade zerschlagen, aber sie zumindest als zu vernachlässigende Grösse behandelt. Und auch das rächt sich jetzt. Auch sie taugen derzeit nicht als Puffer oder Verhandlungspartner. Macron sitzt für sein Auftreten als Jupiter und seine vertikale Machtausübung, die er bislang offensiv verteidigt hatte, in einer gefährlichen Klemme. Die momentane Situation ist ein herber Rückschlag für den einst so strahlenden jungen Präsidenten. Und wenn nicht alles täuscht, wird er kaum eine der weiteren, angepeilten Reformen – z. B. die Reform des Rentensystems – in den kommenden Jahren durchsetzen können. Nach 18 Monaten scheint der Zenith seiner 5-jährigen Amtszeit bereits überschritten.