Atomstrom ja oder nein, die Meinungen gehen weit auseinander. Der in der Schweiz mit der Energiestrategie 2050 beschlossene Ausstieg aus dem Atomstrom wird scharf kritisiert oder vehement verteidigt – es lohnt sich, genau hinzusehen, von wem und warum. „Unsere Atomkraftwerke sind sicher, eine Endlagerlösung zeichnet sich ab“, sagen Verfechter der Atomlobby. Beides ist zu bezweifeln.
Wie sicher ist sicher?
Seit jeher argumentieren die Befürworter der Atomenergie in unserem Land mit der Sicherheit unserer (veralteten) Anlagen. Ob dabei alle potenziellen Risiken beachtet werden, ist unklar. Etwa die Zweifel, ob Personal und Verantwortliche von Atomkraftwerken in der Lage wären, Schwachstellen wie die Verwundbarkeit ihrer Anlagen durch Cyber-Attacken überhaupt zu erkennen. Diesem Problem sei bisher zufolge fehlender Erfahrung wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Zu viele industrielle Kontrollsysteme seine diesbezüglich unsicher (Chatham House Report – The Royal Institute of International Affairs, London, September 2015).
Erdbebensicherheit in der Schweiz: Seit vielen Jahren liegt der Auftrag beim Ensi (Eidgenössisches Nuklearsicherheits-Inspektorat), diesen Gefahrenherd neu zu definieren. Bisherige Studien waren gemäss Expertenteams mangelhaft. Besonders zu denken gibt, dass der Schutz der Bevölkerung vor AKW-Unfällen auf veralteten Erdbebendaten beruht.
Gemäss Medienberichten will der Bund das Risiko von Flugzeugabstürzen neu beurteilen. Untersuchungen zufolge wäre die Gefahr einer grossräumigen radioaktiven Verstrahlung gross. Ein Pilot kritisiert im „Tages-Azeiger“ das Ensi und äussert seine Befürchtung, unsere AKW wären mitnichten sicher gegen gezielt herbeigeführten Flugzeugabstürze.
Als wären alle diese Warnungen nicht genug, kritisiert auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) die Schweizer Regierung. Das Ensi ist ihr nicht unabhängig genug von den politischen Behörden. Offensichtlich sind damit relevante Sicherheitsentscheide gemeint.
Ganz anderer Meinung sind die Vertreter der Atomkraftwerke. So verurteilt der Geschäftsführer des Nuklearforums Schweiz die vom Schweizer Stimmvolk beschlossene gutgeheissene Marschrichtung als überstürzte energiepolitische Kehrtwende. Als peinlich bezeichnet er den Atomausstieg, als Teil der Lösung die Kernenergie mit ihrer bewährten Technologie.
Beznau I, ältestes AKW der Welt
Wie sicher ist Beznau I? Offensichtlich ist das nicht so genau zu definieren. Jedenfalls bleibt das AKW vorerst bis Juli 2016 ausser Betrieb. Die Axpo als Betreiberin braucht länger als vorgesehen, um dessen Sicherheit nachzuweisen. Man hört, der Reaktordruckbehälter weise Schwachstellen auf. Bei einer Ultraschallprüfung wurden „Unregelmässigkeiten“ gefunden. In einem Dokument des Verbands der europäischen Atomaufsichten wird kritisiert, dessen Herstellung sei 1969 nicht vollständig protokolliert worden („the heat treatment procedure for the unit has not been found in detail“).
Gar von tausend Schwachstellen im Herzen von Beznau I schrieb der „Tages-Anzeiger“ im Oktober 2015. Obwohl laut Insidern die Probleme gemäss Experten „weit gravierender als bis anhin bekannt“ wären, schweigen Axpo und Ensi beharrlich. Seither hat die Axpo ihre Planungen laufend geändert. Aussenstehenden ist nicht klar, ob finanzielle Überlegungen eine endgültige Stilllegung verhindern. Die Axpo selbst rechtfertigt sich: „Beznau I leistet einen positiven Deckungsbeitrag und ist deshalb ökonomisch sinnvoll“.
Wenig beeindruckt von diesen Unklarheiten, hat der Ständerat im Herbst 2015 ein Abschaltdatum für Atomkraftwerke abgelehnt. Der wegweisende Entscheid der bürgerlich dominierten Energiekommission war schon vorher auf scharfe Kritik gestossen. Auch eine Stärkung der Atomaufsicht des Ensi lehnte der Rat ab. Die grünliberale Verena Diener als Verliererin der Abstimmung konnte es nicht lassen, Vertreter der Bürgerlichen herauszufordern mit der Frage, ob sie zum Wohl der Bevölkerung oder zum Wohl der AKW-Betreiber gestimmt hätten. Als „ungeheuerlich“ wies Georges Theiler von der FDP diese maliziöse Frage zurück. Ungeheuerlich oder unbequem – Leserinnen und Leser sollen entscheiden.
Derweil droht die Axpo schon mal präventiv damit, im Fall eines politischen Abschalt-Diktats auf Schadenersatz in der Höhe von bis zu zwei Milliarden Franken zu klagen. Wer gegen wen um wieviel pokern wird, bleibt offen; so oder so kommt der Steuerzahler zum Zug.
In diesem Zusammenhang sei wieder einmal daran erinnert, dass unsere AKWs erstaunlicherweise für die Folgen eines Schadenfalls völlig ungenügend versichert sind. Markus Allemann (Greenpeace) wies schon vor mehr als zwei Jahren darauf hin, dass im Ernstfall gewaltige Schadensummen entstehen könnten. Auch Stilllegungs- und Entsorgungsfonds sind stark unterdotiert. Dies alles lässt den Schluss zu, dass die wahren und steigenden Risiken und Kosten unserer AKWs nicht durch ihre Betreiber, sondern von allen Schweizerinnen und Schweizern zu bewältigen sein werden.
Verdrängte Folgekosten
Stilllegung und Verschrottung eines AKW kosten gigantische Summen, die in den Kosten der Stromproduktion nicht annähernd einkalkuliert sind. Aus einem Beitrag in der „Zeit“ (3.9.2015) wissen wir, dass das frühere Vorzeigekraftwerk Lubmin seit zwanzig Jahren „geräumt“ wird. Ursprünglich hätte das Monsterprojekt 2008 beendet sein sollen, heute wird damit gerechnet, dass die Arbeiten nicht vor 2025 beendet sein werden.
Der Rückbau des Reaktors im britischen Nuklearkomplex Sellafield kostete bisher doppelt so viel wie geplant. Noch gar nicht kalkulierbar sind die Kosten für die Entsorgung der Abfälle. Die Autoren der „Zeit“ stellen deshalb die Frage: Stiehlt sich die Industrie aus ihrer Verantwortung?
In der Schweiz kritisierte Kurt Rorbach, Präsident des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen im Herbst die vom Bundesrat beschlossene Revision der Stilllegungs- und Entsorgungsfonds-Verordnung (SEFV). In diese Fonds zahlen die Betreiber von AKW regelmässig Beiträge mit dem Ziel, die Kosten für Stilllegung und Entsorgung dereinst zu berappen. Neu soll ab 2016 der Bund (Departement für Energie, Verkehr, Umwelt und Kommunikation – Uvek) mehr Kompetenzen erhalten bei der Führung dieser Fonds, bei denen in der Vergangenheit personelle Verflechtungen (Interessenskonflikte) zu reden gaben. Die Anpassung der Berechnungsgrundlagen, die zur Erhöhung der relevanten Beiträge führt, haben AKW-Betreiber gerichtlich angefochten.
Die Kosten für Stilllegung und Entsorgung werden auf 20,7 Milliarden Franken geschätzt. Davon hätten diese Fonds 11,5 Milliarden Franken und die Betreiber 9,2 Milliarden Franken zu bezahlen. Angesichts der oben geschilderten Erfahrungen im Ausland scheint allerdings fraglich, ob diese Budgets überhaupt realistisch sind.
Ewige Lagerung des Atommülls
Völlig ungelöst ist die Frage des Standorts eines oder mehrerer Tiefenlager in unserem Land. Die Schweizerische Energiestiftung schreibt dazu: „Nach mehr als 40 Jahren intensiver Forschung in der Entsorgung des Atommülls bleiben diverse Probleme ungelöst. Unbekannt sind zum Beispiel technische Aspekte wie die Auswirkung der Gas- und Wärmeentwicklung des strahlenden Mülls auf Behälter und Umgebungsgestein. Es ist auch unklar, wie die Standorte für die nachfolgenden 33’000 Generationen gekennzeichnet werden sollen und wie unsere Nachfahren vor Bohrungen in den verseuchten Untergrund gewarnt werden können. Die Suche nach dem sichersten Ort und Konzept wird in der Schweiz wie im Ausland noch Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dauern. Deshalb fordert die SES reversible Lösungen auf Zeit, anstatt Nagra-Scheinlösungen für alle Ewigkeit.“
Von allen Problemen, die mit den AKW verknüpft sind, ist die Entsorgung des radioaktiven Mülls jenes – nach dem gegenwärtigen Stand der Forschung – ohne Aussicht auf eine Lösung überhaupt. Zwischenlager jedenfalls sind nicht für die Ewigkeit. In der Schweiz sucht die Nagra. Findet sie einen „geeigneten“ Standort, schiebt ein Aufschrei der betroffenen lokalen Bevölkerung den Bemühungen einen Riegel vor. Der einzige (vermeintliche) Trost: auch in den Nachbarländern sucht, bohrt, evaluiert man vergeblich. Weltweit stehen 439 Atomkraftwerke in dreissig Ländern, und noch gibt es nicht ein einziges Endlager. Verzögerungen sind die einzige Konstante weltweit bei der Problemlösung.
Nicht lernfähig
Viele „Sachverständige“ sind unentwegt optimistisch bezüglich AKW, sie verstehen sich als objektive Diskussionsteilnehmer. Doch was wäre, wenn ein Erdbeben von der Stärke wie in Fukushima in Europa oder gar der Schweiz auftreten sollte? „Auszuschliessen“, sagen sie. Was sie nicht sagen: Müssten die AKW für solche Erdbeben sicher sein, wäre ihr Strom teurer als andere Energien. Das Restrisiko wird dem Profit untergeordnet. Nicht zu Ende gedacht oder fatalistisch? Nach der nächsten Atomkatastrophe irgendwo auf der Welt wird die ganze Diskussion wieder bei Null beginnen.