Die absolute Mehrheit, auf die sich die Sozialisten von Ministerpräsident António Costa im Parlament stützen konnten, hat keine klaren Verhältnisse garantiert. Costa ist nun ins Visier der Strafermittler geraten und hat seinen Rücktritt erklärt. Ob die als wahrscheinlich geltenden Neuwahlen eine klare Alternative anderer Couleur schaffen, steht dahin.
Das Stimmvolk in Portugal, das zuletzt im Januar 2022 sein Parlament gewählt und dem Partido Socialista (PS) von Regierungschef António Costa überraschend eine absolute Mehrheit der 230 Sitze anvertraut hatte, dürfte Anfang 2024 wieder vorzeitig an die Urnen gerufen werden. Noch ist das nicht sicher, am Donnerstagabend dürfte Staatspräsident Marcelo Rebelo de Sousa aber Klarheit schaffen. Nach Costas Rücktritt am Dienstag rief er für diesen Mittwoch zunächst Vertretungen der im Parlament vertretenen Parteien zu sich. An morgigen Donnerstag tagt der Staatsrat, ein Organ zur Beratung des Präsidenten. Erst nach Anhörung der Parteien und des Staatsrates könnte der Präsident laut Verfassung das Parlament auflösen und Neuwahlen ansetzen – und damit ist wohl am ehesten zu rechnen.
Nach 42 Durchsuchungen der 14. Abgang
Schon in den letzten Monaten hätten immer weniger Menschen im Land darauf gewettet, dass diese Regierung – es ist die dritte von Costa, der seit November 2015 im Amt ist – bis zum regulären Ende der Legislaturperiode im Jahr 2026 durchhalten würde. Sie war im Juni mit 17 Ministerinnen und Ministern sowie 36 StaatssekretärInnen angetreten. Immerhin 13 Abgänge – von einer Ministerin, einem Minister und 11 StaatssekretärInnen – hat sie schon erlitten. Im Mai erklärte ein weiterer Minister seinen Rücktritt, den Costa aber nicht annahm. Und nun warf Costa selbst das Handtuch. Mit diesem 14. Abgang fällt die ganze Regierung.
Von einem Erdbeben war in den Medien die Rede, und Erdbeben kommen unerwartet. Am Dienstagmorgen teilte das Amt der Generalanwältin mit, dass 42 Durchsuchungen in öffentlichen Institutionen – im Amtssitz des Regierungschefs, in Wohnungen und Anwaltskanzleien im Gange seien. Es gehe um Verdachte der aktiven und passiven Korruption, der Untreue und der ungebührlichen Einflussnahme in Verbindung mit drei grossen Projekten: bei der Erteilung von Lizenzen zum Abbau von Lithium (für die Batterien von Elektroautos) im nordportugiesischen Landkreis Montalegre; für den Bau einer Anlage für die Stromerzeugung aus grünem Wasserstoff in der Hafenstadt Sines, 160 Kilometer südlich von Lissabon; um den Bau eines Data Centers für 3,5 Mrd. Euro, ebenfalls in Sines.
Verdächtigungen inkompatibel mit der Würde des Amtes
Fünf Personen wurden festgenommen, nämlich Vítor Escária, Bürochef von Costa; Diogo Lacerda Machado, als «Berater» bekannter enger und langjähriger Freund von Costa, den dieser wiederholt mit besonderen Aufgaben betraute; Nuno Mascarenhas, sozialistischer Bürgermeister von Sines; zwei Manager des Unternehmens, das den Bau des Data Centers plante. Ermittelt werde auch, so teilte das Amt der Generalanwältin mit, gegen Infrastrukturminister João Galamaba und den Präsidenten der nationalen Umweltagentur. Im Zuge der Ermittlungen sei schliesslich auch der Verdacht aufgekommen, dass Ministerpräsident Costa bei der Erleichterung von Prozeduren geholfen habe.
Costa rief für 14 Uhr am Dienstag die Medien zu sich, um seinen Rücktritt bekanntzugeben. Er bestritt jedwedes Fehlverhalten, die Würde seines Amtes sei aber mit Verdächtigungen nicht kompatibel. Mit «erhobenem Haupt» und «ruhigem Gewissen» versicherte er, dass er weder noch einmal für das Amt des Ministerpräsidenten noch für das des PS-Generalsekretärs kandidieren werde.
Vieles könnte auf der Strecke bleiben
Der Rücktritt – der noch nicht wirksam ist – kommt in einer denkbar schwierigen Situation. Auf der Strecke bliebe möglicherweise das Staatsbudget für 2024, den das Parlament grundsätzlich, aber noch nicht endgültig gebilligt hat, da die Detailberatungen noch andauern. Geplante Steuererleichterungen und diverse andere Massnahmen träten vorerst nicht in Kraft. Zur Zeit schwelt eine schwere Krise im Gesundheitswesen, wo die Regierung im Clinch mit den Verbänden der Ärzteschaft liegt. Und nicht zuletzt könnte die Regierung über die Verwendung mancher Gelder aus dem Corona-Hilfsfonds der EU nicht entscheiden.
Neuwahlen mögen als sehr wahrscheinlich gelten, diese Lösung wäre jedoch nicht zwingend. So könnte der Staatspräsident es einer anderen Persönlichkeit aus Costas Partei erlauben, ohne Wahlen eine Regierung zu bilden, wenigstens als Übergangslösung. Nicht ganz undenkbar wäre die Zusammenlegung der Parlamentswahl mit der Wahl der portugiesischen Mitglieder des EU-Parlaments am 9. Juni nächsten Jahres. Gegen diese Lösung spräche aber schon die Tatsache, dass der 10. Juni, der Montag, ein Nationalfeiertag und der 13. Ein lokaler Feiertag in Lissabon ist. Von daher würden zahlreiche Stimmberechtigten den Urnen fernbleiben.
Was sich durch Neuwahlen (nicht) ändern würde
Über allfällige vorgezogene Neuwahlen hatten schon um die Jahreswende 2022/2023 rege Spekulationen gebrodelt. Mit Neuwahlen würde sich nicht viel ändern, hatte der Staatspräsident im Dezember gesagt, und auch jetzt ist keine stabile Konstellation für eine neue Regierung absehbar. Jüngere Umfragen gaben sowohl den Sozialisten als auch dem bürgerlichen Partido Social Democrata (PSD) je unter 30 Prozent der Stimmen, mal lag die eine Partei vorn, mal die andere, mit Differenzen zwischen zwei und vier Prozentpunkten. PSD könnte ohne die rechtsextrem-xenophobe Partei Chega, derzeit drittstärkste Kraft im Parlament, keine absolute Mehrheit stemmen. Nicht auszuschliessen wäre, dass die Summe der Stimmen für die Sozialisten, den Linksblock, die Kommunisten und die kleine linke Splitterpartei «Livre» immer noch höher ist als die Summe der Stimmen für die Parteien des rechten Lagers. In den Jahren 2015-2019 hatte Costa mit einer Minderheitsregierung dank der Duldung durch kleinere linke Parteien gar eine volle Legislaturperiode überstanden. Ob eine Neuauflage dieser Lösung möglich wäre, hinge nicht zuletzt davon ab, wer Costa an der Spitze des PS ablöst.