Eine der vielen Absurditäten des real existierenden Surrealismus auf Kuba besteht darin, dass ein Kofferträger in einem Touristenhotel an einem guten Tag mehr an Trinkgeldern verdient als ein Arzt in einem Monat. Erfasst im guten kubanischen Witz: «Unser Chefarzt ist grössenwahnsinnig geworden.» – «Ach, was ist passiert?» – «Er behauptet, er werde Portier.»
Pflichtbewusstsein
Niemand bezweifelt die Qualität der Ausbildung eines kubanischen Arztes, sie steht wohl derjenigen eines Schweizer Mediziners kaum nach. Nachher gibt es allerdings ein paar Unterschiede. Ein kubanischer Doktor verdiente bislang als Startgehalt 425 Pesos im Monat (das sind rund 15 Franken), ein Zahnarzt 468 Pesos, eine Krankenschwester 320 Pesos (11 Franken). Dass das kubanische Gesundheitssystem dennoch nicht zusammengebrochen ist, beweist ein kaum vorstellbares Pflichtbewusstsein und eine Arbeitsmoral, von der sich manche Schweizer Mediziner mehrere Scheiben abschneiden könnten.
Aber jetzt gibt es eine gute Nachricht. Ab 1. April wird ohne Scherz das Grundgehalt eines Arztes auf 1’110 Pesos (42 Franken) mehr als verdoppelt, eine Krankenschwester verdient neu ab 595 Pesos. Und endete bislang ein Spitzengehalt bei 627 Pesos, so sind es neu 1’600 (immerhin 61 Franken). Die gute Nachricht überbrachte die Parteizeitung «Granma».
Absurdes Lohngefüge
Diese Verdoppelung war auch dringend nötig. Denn neben den Absurditäten, die durch die Zweitwährung im Tourismusbereich existieren (dort herrscht der sogenannte CUC, Wechselkurs 1: 25 zum kubanischen Peso), wurden diverse andere staatlichen Saläre in den letzten Jahren angehoben. So verdient ein normaler Buschauffeur im öffentlichen Transportsystem Havannas immerhin 725 Pesos im Monat. Also bislang mehr als der Chefarzt eines Spitals, an dem auch in Kuba Herztransplantationen und High-Tech-Medizin betrieben werden.
Allerdings verdiente und verdient ein solcher Chefarzt immer noch das Mehrfache seines offiziellen Gehalts, wenn er in besseren Zeiten für seine revolutionären Verdienste einen Lada geschenkt bekam und diesen in seiner Freizeit als Taxifahrer einsetzt. Hatte ich in Kuba mal ein Wehwehchen, wusste ich, dass ich vor einem allfälligen Spitalbesuch spätestens beim dritten Taxifahrer von einer ambulanten Sprechstunde profitieren konnte. In leichteren Fällen beim Fahren, wurden körperliche Untersuchungen nötig, hielten wir kurz an und mir wurde der Puls genommen, die Lymphdrüsen abgetastet oder mittels Stethoskop mal kurz der Herzschlag gecheckt. Und natürlich ein Rezept ausgestellt.
Alles ist relativ
Allerdings kann der durchschnittliche Kubaner auch mit 61 Franken im Monat keine grossen Sprünge machen. Nachdem die auf der Rationierungskarte Libreta zu massiv subventionierten Preise erhältlichen Lebensmittel auf ein Minimum zusammengestrichen wurden, braucht eine vierköpfige Familie so viel Geld alleine für ihre Ernährung. Und von einer Zusammenführung der beiden Währungen auf Kuba wird zwar immer mal wieder offiziell gesprochen, sie liegt aber wohl noch in weiter Ferne.
Also wird sich durch diese relativ gewaltige Lohnerhöhung nichts daran ändern, dass das kubanische Gesundheitssystem im Prinzip weiterhin für alle gratis ist. In der Realität ist es aber so, dass der erkrankte Kubaner gut daran tut, ein Bakschisch zum Arztbesuch mitzunehmen. Von Naturalgaben wie Nahrungsmittel, ein nicht mehr gebrauchtes Paar Schuhe oder Kinderkleidung aufwärts bis zu einer milden Geldspende. Das verkürzt Wartezeiten ungemein, macht eine Röntgenaufnahme oder eine Laboruntersuchung möglich oder verkürzt die Karenzfrist bis zu einer Operation.
Der Export boomt
Kubanische Ärzte haben schon seit Längerem die Möglichkeit, eine ganz andere Geldquelle anzustechen. Über 40'000 kubanische Ärzte und Mitarbeiter der Gesundheitswesens befinden sich auf sogenannten internationalen Missionen. Das bedeutet, dass sie in Ländern wie Venezuela, Bolivien oder Brasilien arbeiten. Dafür stellt der kubanische Staat monatlich im Schnitt 4’000 Dollar in Rechnung, von denen der Dienstleistende so etwa 1’000 Dollar bekommt.
Die Hälfte kriegt er in bar ausbezahlt, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die andere Hälfte wird ihm auf ein Konto in Kuba einbezahlt. Das soll ihn dazu motivieren, nach Beendigung seines Einsatzes wieder auf die Insel zurückzukehren und sein Heil nicht im Verbleiben im Land seines Einsatzes zu suchen – oder den Weg in die USA anzutreten, wo er dank der absurden US-Gesetzgebung aus Zeiten des Kalten Kriegs bis heute sofort eine Niederlassungsbewilligung und eine Arbeitserlaubnis bekommt.
Schön und hässlich
Es wäre nicht Kuba, wenn auch hier nicht Himmel und Hölle nahe beieinander lägen. Welche Bevölkerung eines Drittweltlandes hat schon eine europäische Lebenserwartung, wo sonst liegt die Kindersterblichkeit sogar unter derjenigen der USA. Zudem sind in Pakistan oder in Haiti oder sonstwo auf der Welt, wo eine Naturkatastrophe hereinbrach, immer zuerst US-Ärzte vor Ort – die Hand in Hand mit ebenfalls sofort eintreffenden kubanischen Ärzten das schlimmste Leid zu lindern versuchen. Zudem bildet Kuba weiterhin gratis und franko pro Jahr über 1’000 Medizinstudenten aus der Dritten Welt aus.
Auf der anderen Seite macht sich der Einsatz von Zehntausenden von kubanischen Ärzten im Ausland auf der Insel bemerkbar. Es fehlen an allen Ecken und Enden Spezialisten, mehrere Hausarztkonsultorien werden vom gleichen Arzt betreut. Und Hand aufs Herz, kann es wirklich sein, dass ein Spezialist, der Tag für Tag mit grossem Einsatz um das Leben seiner Patienten kämpft, weiterhin nicht mehr verdient als ein Hotelportier neu an zwei guten Tagen?