Benjamin Netanyahu hatte gerade eine schwierige Sitzung hinter sich, in der Eckdaten für den Staatshaushalt 2013/14 beschlossen wurden, und anschließend das Sicherheitskabinett über die Lage nach der Bombardierung von Munitions- und Chemiewaffenlagern in der Nähe der syrischen Hauptstadt informiert, als ihn auf dem Flug nach China die Nachricht erreichte, dass die Regierung in Peking sich anschicke, ihre traditionelle Zurückhaltung abzulegen, indem sie die internationale Position zur Zwei-Staaten-Lösung mit den Palästinensern bekräftigte.
Kalte Schulter für arabische Friedensinitiative
Dabei hatte der Ministerpräsident sich vorgenommen, Israels Sicherheitsinteressen angesichts des iranischen Nuklearprogramms und der vermeintlichen Bedrohung durch den syrischen Bürgerkrieg in den Mittelpunkt seiner Gespräche gemäß der Devise zu stellen, dass die Beziehungen zu den 1967 besetzten Gebieten ausschließlich der eignen Innenpolitik vorbehalten bleibe. Der Rückgriff auf die plötzlich aus der Versenkung geholte Arabische Friedensinitiative vom März 2002, die Israel die Normalisierung der Beziehungen im Zuge des Verzichts auf die palästinensischen Gebiete anbot, ist deshalb in Jerusalem umgehend auf Ablehnung gestossen.
So war Netanyahu an einer Begegnung mit dem ebenfalls in China weilenden Machmud Abbas nicht gelegen, auch weil der Präsident ihm nichts anbieten kann. Netanyahu weiß um die innere Zerrissenheit und die strategische Schwäche der Palästinenser auf dem Weg zum eigenen Staat, die sich für die Besatzungspolitik vorteilhaft auswirken. Und er weiss, dass die Europäer und andere Staaten auch künftig mit grosszügiger Hilfe für die Palästinenser aufwarten werden. Dass Netanyahu trotz des Bürgerkrieges in Syrien die Reise nach China antrat, lässt sich überdies als Zeichen deuten, dass er bei den von dort ausgehenden Risiken auf sein Militär vertrauen kann. Schließlich ist den Einheiten auf den Golanhöhen ein Blankoscheck zu sofortigen Vergeltungsschlägen ausgestellt worden, ohne dass diese der Abstimmung mit dem Generalstab bedürfen.
Politischer Aufpasser für Tzipi Livni
Der plötzliche Vorstoss Pekings, Israelis und Palästinensern an den Verhandlungstisch zu bringen, zeigte einmal mehr, dass sich die internationale Diplomatie regelrecht überfordert, wenn sie eine Vermittlerrolle einnehmen will – eine Erfahrung, die nach China auch Aussenminister John Kerry und seinem Team bevorstehen dürfte, denen der Auftritt Netanyahus in Fernost nicht gerade genehm sein dürfte, soll er doch dem weltpolitischen Rivalen eine Einflugschneise in den israelisch-palästinensischen Konflikt öffnen. Die chinesische Zusage, dass in einem Vertrag mit den Palästinensern Israels legitime Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden müssten, ist in Netanyahus Augen irrelevant.
Derselbe Stellenwert ist seiner – widersprüchlichen - Zusage an Kerry beizumessen, die Ausschreibung für weitere Wohnungseinheiten in den Siedlungen der Westbank bis Mitte Juni einzufrieren, ohne – wie beim zehnmonatigen Moratorium 2009/2010 – bereits im Bau befindliche Bauten in das Angebot einzubeziehen; Ost-Jerusalem ist selbstverständlich von vornherein ausgenommen. Tzipi Livnis Beauftragung, neben ihrem Amt als Justizministerin in neue Verhandlungen mit den Palästinensern konstruktiv einbezogen zu werden, ändert an der harten Linie der Mehrheit im israelischen Kabinett keinen Deut. Ihre Reise nach Rom zum Gespräch mit Kerry wurde denn auch von Netanyahus politischem Intimus Itzhak Molcho begleitet.
Insofern wiederholen sich ihre Erfahrungen in der Epoche Ehud Olmerts, als sie in ihrer Funktion als Aussenministerin auf militärische Mässigung gegenüber dem Libanon und dem Gazastreifen zu drängen suchte. Selbst eine so erfahrene Politikerin wie Livni ist nicht davor gefeit, politische Fehleinschätzungen zu wiederholen.
Provozierende Manifestanten am „Jerusalem-Tag“
Die pünktlich am „Jerusalem-Tag“ mit Fahnen randalierend durch die Altstadt und durch arabische Wohnviertel ziehenden vielen Tausend Juden aus allen Schichten der Bevölkerung des Landes dürften bei Netanyahu ein Gefühl der Genugtuung ausgelöst haben, zumal da die „Feiern“ von einem affirmativen Medienspektakel sondergleichen begleitet wurden. Die Teilnahme an der Festsitzung in der Knesset konnte er sich ersparen.
Es kam einem Wunder gleich, dass sich bei den Zusammenstössen und Demonstrationen die Zahl der Verletzten in Grenzen hielt. Die Proteste nach der vorübergehenden Festnahme des Jerusalemer Grossmufti Mohamed Hussein, die Warnung Jordaniens, den israelischen Botschafter auszuweisen, sowie die Drohung der Arabischen Liga, die Vereinten Nationen anzurufen, lassen keinen nachhaltigen Eindruck bei der Regierung in Jerusalem erkennen. Vielmehr hat sie ihre Aufmerksamkeit voll dem Besuch des zyprischen Präsidenten Anastasiadis gewidmet. Angesagt ist diplomatische Kleinteiligkeit.
Angela Merkel und die Gretchenfrage
Jerusalems Politik lebt von der Hoffnung, dass der syrisch Bürgerkrieg und der vermehrte Einfluss der ägyptischen Muslimbruderschaft auf das Regierungshandeln in Kairo die USA zwingen würden, an Israel als strategischem Bollwerk in der Region festzuhalten. Doch die eigenen Haushaltssorgen könnten die Administration und den Senat dazu zwingen, das Auslandshilfsprogramm für das grösste Empfängerland zu kürzen oder in die Privilegien einzugreifen, die Bürger bei Spenden und Zuwendungen an israelische Einrichtungen, zu denen die Siedlungen gehören, bei der Einkommen- und Vermögensteuer entlastet.
Auch die deutsche Regierung will sich wie eh und je nicht entscheiden, ob sie Israel eine politische Radikalkur zu dessen eigenem Nutzen zumuten soll. Die mehrfachen Warnungen Angela Merkels an die Adresse Netanyahus werden bei diesem auch ferner kein Gehör finden, solange ihm nicht die Gretchenfrage gestellt wird: Was sind Deine Bekenntnisse für den Frieden mit den Nachbarn politisch tatsächlich wert? Der FDP-Politiker Christian Lindner hat der israelischen Politik kurz vor seinem Eintreffen in Tel Aviv seine Aufwartung gemacht, indem er Merkels Staatsräson-Bekenntnis als Facebook-Eintragung übernahm – als ob Merkel inzwischen nicht neu über ihr Bekenntnis vom März 2008 überdenken würde. Am 22. Mai soll die Bundeskanzlerin in der Brüsseler Hauptsynagoge den „Lord Jakobovits Prize of European Jewry“ erhalten. Der Entscheidung voraus ging die Tagung des Jüdischen Weltkongresses in Budapest, bei dem als antijüdisch deklarierte Vorfälle um das Kölner Beschneidungsverbot kritisiert wurden. Mit der Verleihung sollen alte politische Loyalitäten neu eingekauft werden.
Klaffende Löcher im Staatshaushalt
Allein Bill Clintons Lehrsatz „It’s the economy, stupid“ könnte einen kleinen Fingerzeig bieten, dass die israelische Regierung nicht darum herumkommt, zumindest innenpolitisch einen gewissen Kursschwenk vorzunehmen. Rating-Agenturen haben die Kreditwürdigkeit Israels herabgestuft, und der Haushaltsentwurf im Volumen von 304,5 Milliarden Neuen Shekel (knapp 66 Milliarden Euro) – „Sonderausgaben“ für Siedlungen und bestimmte Sicherheitsdienste nicht mitgerechnet – geht für die kommenden zwölf Monate von einem Defizit von 4,65 Prozentpunkten aus, und zwar bei einer Steigerung der Ausgaben um sieben Prozentpunkte, dem höchsten Anstieg im OECD-Vergleich.
Mit dieser Bürde im Rücken sind massive Steuerhöhungen, die Anhebung der Mehrwertsteuer und von Versicherungsbeiträgen, Einschränkungen bei Kinderzuschlägen und bei Zuweisungen an Tagesstätten bereits angekündigt, und weitere Einschnitte in die Sozialhaushalte, so bei der Gesundheitsversorgung, werden folgen, weil die angekündigten Kürzungen im Militärhaushalt von etwa vier Milliarden Neuen Shekel nicht ausreichen, die Löcher zu stopfen. Auch Touristen werden künftig stärker zur Kasse gebeten. Israel dürfte eine neue Welle sozialer Proteste bevorstehen, bei der die Frage ernsthafter als im Sommer 2011 diskutiert wird, ob sich das Land mit den Ausgaben um die Siedlungstätigkeit herum nicht übernimmt.
Falke und Machiavelli
Schon macht der Spruch die Runde, dass Israel schließlich besser Zypern und Griechenland dastehe. Nachdem Finanzminister Yair Lapid in den Curricula ultraorthodoxer Schulen säkulare Fächer wie Mathematik und Englisch erzwingen will und angedroht hat, ansonsten die Zuweisungen um bis zu 70 Prozentpunkte zu kürzen, haben ihre Sprecher ihm vorgeworfen, das Judentum zerstören zu wollen.
Noch zeigt sich Netanyahu nach aussen als zögerlicher Falke gelassen, während er nach innen Machiavellis Kunst fortsetzt, widerstreitende Interessen in seiner Koalition zum eigenen Vorteil auszunutzen. Die Mehrheit des israelischen Volkes hat ihn aus den Wahlen im Januar zum zweiten Mal als Sieger bestätigt – seit David Ben-Gurions Zeiten eine exklusive Meisterleistung.