Unsere Demokratie lebt nicht vom Heldentum einzelner Politiker – vielmehr vom Willen zum guteidgenössischen Kompromiss.
„Das Manifest von Ventotene“
1941, also vor 78 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg - als Gegner des Faschismus Gefangene auf der Insel Ventotene im Mittelmeer – schrieben Eugenio Colorni, Altiero Spinelli und Alberto Rossi dieses Manifest. Sie waren überzeugt, dass der Nationalstaat überwunden werden müsse um friedfertig zu werden. Sie plädierten deshalb für die europäische Einigung, Garant des inneren und äusseren Friedens. „Das Manifest liest sich wie ein Gegengift gegen die Niedertracht und die populistischen Irritationen unserer Tage“ (TA). Das patriotische Gefühl wird instrumentalisiert – durch die Demagogen und deren reaktionären Manipulationen, die so das Volksempfinden für sich gewinnen.
Die drei beliessen es nicht bei vagen Empfehlungen. Wenn sie von Europa sprachen, meinten sie: Es soll den Staaten jene Autonomie belassen werden, die eine plastische Gliederung und die Entwicklung eines politischen Lebens gemäss den besonderen Wesensmerkmalen der verschiedenen Völker sicherstellen würden.
Dieser visionäre Beschrieb eines europäischen Föderalismus entstand aus der Überzeugung, dass die Souveränität der Nationalstaaten als eigentliche Ursache des Zweiten Weltkriegs zu bezeichnen war. Bedenkenswert.
„Der Ruf der Horde“
Gegenwärtig ist der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, *1936, Nobelpreisträger, in aller Munde. In seinem neuen philosophischen Buch reflektiert er über Freiheit als Basis der Demokratie. Diese Freiheit „ist gefährdet durch den ´Ruf der Horde´, durch die Verführung ´Stammesdenkens´, das in allen Menschen niste und die Ursache von Nationalismus und Irrationalismus bilde“, so seine These (NZZ am Sonntag). Liberalismus ist eine Haltung gegenüber dem Leben und der Gesellschaft, auf Toleranz und Respekt gründend. Ebenso auf die Liebe zur Kultur und den Willen zum friedlichen Miteinander. Ein prägendes Vorbild war für Vargas Karl Popper, auf den ich weiter unten noch zurückkomme.
Unsere Zivilisation ist gefährdet durch den Populismus
Wer Gelegenheit hatte, im Mai 2019 Vargas am Schweizer Fernsehen (Sternstunde Philosophie vom 26.5.2019) zu beobachten dabei zu realisieren, wie versöhnlich und konzentriert der 83-jährige Romancier plauderte, war beeindruckt. Das Interview fand in seinem Haus in Spanien statt – der gepflegt wirkende, manchmal kurz und trocken lachende Autor sass in seiner Welt (die hauseigene Bibliothek). Seine Welt, das ist die Literatur, das sind Bücher. Er hat deren 59 geschrieben…
Er beklagte, dass im heutigen modernen Leben die Literatur zweitrangig geworden sei. Dies als Folge von Film, Fotos, Internet, einer Kultur des Bildschirms. Ideen seien weniger wichtig als Bilder. Doch eine Gesellschaft der Lesenden ist freier und kritischer, ist Vargas überzeugt. „Ein Volk, das nicht liest, ist viel leichter zu manipulieren. Die guten Leser sind Rebellen, im politischen, im religiösen, im sexuellen Sinn" (Das Magazin).
Unmissverständlich beklagt Vargas die in Europa grassierende Welle des Populismus, denn letzterer ist nicht zu trennen vom Nationalismus. Dieser ist mit allen Mitteln zu bekämpfen, im Namen von Demokratie und Freiheit – wenn jemand die zwei Weltkriege mit Millionen von Toten erlebt hat, weiss, wovon die Rede ist. Diese wurden verursacht durch den Nationalismus, Hauptbestandteil des Populismus. Was Populismus gegenwärtig anrichte, sei furchtbar - ein gewaltiger Erinnerungsverlust.
Vargas: „Die Demokratie ist die grosse Errungenschaft unserer Zeit.“ Den damit einhergehenden Liberalismus verteidigt er vehement, nicht aber dessen Auswüchse: Der freie Markt kann keinesfalls die Lösung für alle Probleme sein. Diesbezüglich eine interessante Aussage: Links und Rechts in der Politik ist heue kaum mehr realistisch als Zuordnung, der moderne Mensch tickt anders.
„Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“
Immer wieder erwähnt Vargas sein grosses Vorbild – Karl Popper (1902 – 1994), den österreichisch-britischen Philosophen, Autor des Klassikers „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ (1945). Schon damals mahnte Popper: „Wenn unsere Kultur weiter bestehen soll, wir mit der Gewohnheit brechen müssen, grossen Männern gegenüber unsere geistige Unabhängigkeit aufzugeben. Grosse Männer können grosse Fehler machen.“
Popper unterschied zwischen geschlossener und offener Gesellschaft. „Im Folgenden wird die magische, stammesgebundene oder kollekivistische Gesellschaft auch die geschlossene Gesellschaft genannt werden; die Gesellschaftsordnung aber, in der sich die Individuen persönlichen Entscheidungen gegenübersehen, nennen wir die offene Gesellschaft.“
Überall in Europa punktet der Populismus. Besorgnis erregend ist die Feststellung, dass viele „Followers“ dieses üblen Trends die beiden Weltkriege des letzten Jahrhunderts nicht gegenwärtig haben. Wie sollten sie, geboren nach 1945? Es bleibt zu hoffen, dass ihnen solche Erfahrungen erspart bleiben.