In der sich aufheizenden Atmosphäre im Frühjahr 1967 stiess Nasser an die Grenzen seiner Politik. Er machte entscheidende Fehler. So forderte er etwa UN-Generalsekretär U Thant auf, die UN-Truppen (Unef: United Nations Emergency Force) vom Sinai abzuziehen, schickte selber mehr ägyptische Soldaten auf die Halbinsel und schloss die Strasse von Tiran für die israelische Schifffahrt.
Fehlkalkulation
Zwar war diese Blockade für Israel nicht lebensgefährlich – alle israelischen Mittelmeerhäfen blieben offen. Avi Shlaim schreibt, Nasser habe den psychologischen Effekt seiner Massnahme durchaus gekannt: Denn Israels Strategie sei es immer gewesen, seinen eigenen Willen seinen Feinden aufzuerlegen und nicht auf einseitige Schritte dieser Feinde zu reagieren. „Indem er die Strasse von Tiran für die israelische Schiffahrt schloss, liess er (Nasser) sich auf ein fürchterliches Spiel ein – und er verlor.“
Avi Shlaim fügt hinzu, im Grunde sei es Israel nicht um die Strasse von Tiran gegangen, sondern um sein Überleben. (3) Diesen Reflex, durch den Holocaust tief in die jüdische Seele eingegraben, hatte Nasser allerdings nicht einkalkuliert.
Totale Niederlage
Am Kulminationspunkt der immer wieder aufbrechenden politischen und militärischen Konflikte sah Israel 1967 – neunzehn Jahre nach seiner Gründung – abermals eine grosse Chance gekommen, durch einen militärischen Schlag Nasser politisch entscheidend zu schwächen. Am Morgen des 5.Juni 1967 vernichtete Israel – in einem völkerrechtlich zweifelhaften Präventivkrieg – die ägyptische Luftwaffe. Unter dem Befehl von Ariel Scharon eroberte die israelische Armee den Suezkanal und die Halbinsel Sinai. Auch der arabische Ostteil Jerusalems wurde besetzt (und 1980 annektiert). Am 10.Juni war der Krieg zu Ende.
700‘000 Palästinenser wurden vertrieben. Das eigens 1949 für palästinensische Flüchtlinge gegründete UN-Flüchtlingshilfswerk UNWRA (United Nations Works and Relief Agency for Palestinian Refugees in the Near East) zählt insgesamt 3,7 Millionen palästinensische Flüchtlinge – das sind jene, die im Krieg von 1948/49 und jene die 1967 vom israelischen Militär vertrieben wurden und deren Nachkommen.
Anders als 1948/49, als die Araber ihre Niederlage gegen Israel ihren eigenen korrupten Regierungen anlasten konnten, war die Katastrophe von1967 eine Niederlage der Araber selbst. Der von Nasser geschaffene arabische Nationalismus – dahin. Der von Nasser praktizierte Sozialismus arabischer Spielart – dahin.
Fatale Kolonialpolitik
Nasser, der Herausforderer der alten Kolonialmächte England und Frankreich und des von ihnen geschaffenen Staates Israel war zwar nicht, wie von Anthony Eden einst gefordert, getötet worden, aber politisch entscheidend geschlagen. Letztlich war diese arabische Niederlage auch ein Erfolg der englischen Kolonialpolitik. Die hatte es erreicht, die arabische Welt nach dem ersten Weltkrieg in kleine Parzellen einzuteilen: Irak, Syrien, Jordanien, Libanon, das Mandatsgebiet Palästina – alles Gebilde, die es bis dato nicht gegeben hatte. Diese Vivisektion und die mit ihr verbundene Übertragung des europäischen Nationalstaatsgedankens auf eine von Stämmen geprägte Region, die 1916 erstmals im englisch-französischen Sykes-Picot-Geheimabkommen geplant worden war, raubte den Arabern die Chance, sich in einem gemeinsamen Staat oder einem Staatenbund zu organisieren.
Gravierender war das Desaster der Niederlage von 1967 für die arabische Psyche. Der palästinensische Nasser-Biograph Said K. Aburish schreibt, die arabische Jugend sei nicht in Schützengräben untergegangen, in denen sie heroisch gegen die Kolonialmächte und gegen die Zersplitterung ihrer Heimat durch das Sykes-Picot-Abkommen gekämpft hätte. Im Gegenteil: „Sie (die arabische Jugend) wurde zu einer verlorenen Generation, weil sie ihre Ehre verlor und weil sie genauso (für die Niederlage) verantwortlich war wie ihre Führer und die Regierungen, an deren Spitze ihre Führer standen.“ Daher, so Aburish, sei diese Niederlage „unerwartet in ihrer Totalität und betäubend in ihrer Proportion sowie seelenzerstörend in ihrer Auswirkung“ die grösste Katastrophe der Araber im 20. Jahrhundert.“(4)
Die Stunde des politischen Islam
Letztlich war die Katastrophe von 1967 auch die Geburtsstunde des politischen Islam. Nachdem alle europäischen Importideologien wie Nationalismus, Sozialismus oder Liberalismus im arabisch-muslimischen Kulturraum gescheitert waren, bekam das Schlagwort: „Islam ist die Lösung“ – angebracht an Taxis, Kleinbussen, Häuserwänden – immer mehr Zustimmung. Nachdem der Revolutionär und Geistliche Ayatollah Chomeini 1979 in Iran die Macht vom korrupten Schah-Regime übernommen und damit den anglo-amerikanischen Putsch gegen den iranischen Premier Mohammed Mossadeq von 1953 in sein Gegenteil verkehrt hatte, wurde der politische Islam endgültig zu einer festen Grösse in der Region, aber auch auf der weltpolitischen Bühne.
Die Besetzung des Westjordanlandes, Ostjerusalems und des Gazastreifens im Juni 1967 brachte erstmals das gesamte historische Palästina unter israelische Kontrolle. Der Staat Israel und die Bewegung des Zionismus standen vor der Frage, was mit den eroberten Gebieten zu tun sei. Der israelische Auslandsgeheimdienst Mossad sandte unmittelbar nach dem Sieg Vertreter in die Gebiete, die mit palästinensischen Vertretern über die Zukunft diskutierten.
Die Arroganz der Macht
Die Empfehlung der Geheimdienstler: Israel solle unter der Kontrolle seiner Armee und in Übereinstimmung mit der palästinensischen Führung „einen unabhängigen palästinensischen Staat“ schaffen. (5) Die israelischen Autoren Idith Zertal und Akiva Eldar kommentieren diesen „revolutionären Vorschlag“, wie sie schreiben, mit den Worten, dass die Annahme dieses Ratschlags „die Geschichte Israels und des gesamten Mittleren Ostens“ in eine andere Richtung hätte lenken können. Aber, schreiben die Autoren, „die Stimme der Klugheit und der Voraussicht“ der Mossadleute sei im „Geschrei und in der Euphorie jener Tage“ verloren gegangen.
Es war vor allem ein Mann wie Hannan Porat, Rabbi und Politiker, welcher die Regierung drängte, etwa an einem Ort wie Kfar Etzion südlich von Jerusalem, eine Siedlung zu bauen – in Erinnerung an den 13. Mai 1948, den Tag vor der offiziellen Gründung Israels – als 129 Kämpfer der Haganah und Kibutzbewohner im Kampf gegen Palästinenser gefallen waren. Die Leute um Hannan Porat, Mitglieder des national-religiösen Lagers, sahen den Sieg vom Juni 1967 als „Big Bang“, welcher dem religiösen Zionismus die Möglichkeit gegeben habe, durch den Bau jüdischer Siedlungen in den eroberten Gebieten „am nächsten Schritt der Erlösung“ teilzunehmen. (6)
Früh setzte sich so der Gedanke in den Köpfen israelischer Politiker fest, die eroberten Gebiete durch den Bau von jüdischen Siedlungen langsam aber sicher immer enger an Israel zu binden. Schon im September 1967 empfahl ein Komitee unter der Leitung von Schimon Peres, rund um Jerusalem Siedlungen zu bauen. Auch sollten Plätze, die man im Krieg von 1948/49 hätte verlassen müssen, neu besiedelt werden, unter anderem Hebron.
Bruch der vierten Genfer Konvention
Im Frühjahr 1968 fand sich eine Gruppe von Israelis unter Leitung des Rabbi Moshe Levinger zur Feier des Passover-Festes in Hebron ein, versprach aber dem palästinensischen Bürgermeister, am nächsten Tag wieder abzureisen. Das geschah nicht. Oberhalb Hebrons entstand die Siedlung Kiryat Arba. Die Siedlung wurde zu einem berüchtigten Ort. Am 25.Februar 1994 drang Baruch Goldstein, Siedler aus Kiryat Arba, in die Patriarchengruft von Hebron ein, tötete 29 betende Palästinenser und verwundete 150. Goldstein wurde getötet, die Siedler von Hebron bauten ihm ein Heldendenkmal.
Mit dem Bau der Siedlung Kiryat Arba begann ein Bruch internationalen Rechtes, der bis heute fortdauert. Denn nach der vierten Genfer Konvention von 1949 ist es einer Besatzungsmacht nicht erlaubt, ein erobertes Gebiet mit eigenen Staatsangehörigen zu besiedeln. Da die – zu Unrecht so genannte – „internationale Gemeinschaft“ diesen Bruch des Völkerrechtes schon ein halbes Jahrhundert lang hinnimmt, wohnen heute in den 1967 eroberten Gebieten inklusive des arabischen Ostteils von Jerusalem etwa 500‘000 Siedler.
Zerstörung palästinensischer Häuser
Ihre Wohnblöcke reichen weit in die besetzten Gebiete hinein, so dass die Gründung eines unabhängigen selbstständigen palästinensischen Staates unmöglich ist – zumal diese Siedlungen über eine eigene, vom palästinensischen Umland unabhängige Infrastruktur verfügen. Nach Angaben des „Office for the Coordination of Humanitarian Affairs“ (OCHA), einer UN-Organisation, hat es bereits im Jahr 2008 im Westjordanland insgesamt 1661 Strassen gegeben, welche nur von Siedlern und deren Angehörigen benutzt werden dürfen und welche, mithin, für Palästinenser geschlossen sind.
Jede dieser Strassen, die viele Siedlungen miteinander verbinden und oft direkt nach Jerusalem führen, hat auf beiden Seiten eine Pufferzone von bis zu 75 Metern, die von Palästinensern nicht betreten werden darf. Zum Bau dieser „Nur-für-Israeli-Strassen“ wurden ungerechnet etwa 168 Quadratkilometer palästinensischen Landes konfisziert.
Um möglichst viel Land für Israel zu requirieren, werden viele palästinensische Häuser, von den Israelis als „illegale Strukturen“ bezeichnet, abgerissen. Nach Angaben des „Israeli Committee Against House Demolitions“ – einer von Jeff Halper, einem aus New York eingewanderten Juden, gegründeten Organisation – sind seit 1967 insgesamt 48‘488 palästinensische Häuser von den israelischen Behörden zerstört worden.
(3) Avi Shlaim: The Iron Wall. Israel and the Arab World. London 2000, S. 237 f.
(4) Said K. Aburich: „Nasser – The Last Arab.“ New York 2001, S. 249
(5) Idith Zertal, Akiva Eldar: „Lords of the Land. The War over Israel‘s Settlements in the Occupied Territories 1967–2007, New York 2009, S.7
(6) All dies bei Zertal/Eldar, a. a. O. S. 4f., S. 7f.
Dieser Beitrag ist in den Blättern für Deutsche und Internationale Politik, Juniausgabe 2017, erschienen und wurde für das Journal21.ch vom Autor überarbeitet und erweitert.
Teil 1 dieser Serie erschien am 29. Mai 2017 unter dem Titel: Sechs Tage für die Ewigkeit
Teil 3 folgt.