In einer Rede vor dem UN-Sicherheitsrat vom 28.Dezember 2016 beklagte der damals noch amtierende US-Aussenminister John Kerry, dass es in dem von Israel allein kontrollierten Teil des Westjordanlandes in den Jahren 2014 und 2015 nur eine einzige Baugenehmigung für Palästinenser gegeben habe; im selben Zeitraum dagegen seien Hunderte neuer Siedlungshäuser errichtet worden.
Die Besatzung
Auch seien im Jahr 2016 etwa 1´300 Palästinenser, darunter 600 Kinder, durch Zerstörungen ihrer Häuser heimatlos geworden. In seiner Rede fasste mit John Kerry erstmals ein US-Aussenminister die schreckliche Lage der Palästinenser so zusammen: „Derzeit leben 2,75 Millionen Palästinenser unter militärischer Besatzung. ... In ihren täglichen Bewegungen sind sie durch ein Netz von Kontrollposten behindert. Ohne eine israelische Erlaubnis dürfen sie nicht in die Westbank hinein oder aus der Westbank hinaus reisen. Wenn es nur einen (israelischen, Anm. des Autors) Staat gäbe, würden Palästinenser in der Mitte der Westbank in von einander getrennten Enklaven leben, ohne wirkliche politische Rechte ... unter permanenter militärischer Besatzung, die sie der fundamentalen Freiheiten berauben würde. ... Würde irgendein Israeli so leben wollen? Würde irgendein Amerikaner so leben wollen?“
Wie schon in den Jahren 1936-1939, als die Palästinenser im von ihnen so bezeichneten „Grossen Arabischen Aufstand“ gegen die jüdische Einwanderung und gegen die britische Mandatsmacht kämpften, riefen sie auch unter rein israelischer Besatzung zum Widerstand - in der ersten Intifada von 1987 bis 1993 und - nachdem die mit der PLO abgeschlossenen so genannten Friedensverträge von Oslo - nicht zur Gründung eines eigenen Staates geführt hatten - von 2000 bis 2005.
Mauern, Mauern, Mauern
Die politische Erfolglosigkeit der PLO führte zur Gründung radikalerer Widerstandsgruppen wie der Hamas und des „Islamischen Dschihad“. Um sich vor palästinensischen Selbstmordattentätern zu schützen – bei denen etwa in der Stadt Netanja zwischen 1995 und 2005 siebzig israelische Zivilisten getötet und Hunderte verletzt wurden - baute Israel einen Sperrwall. Dieser Sperrwall allerdings dient auch weiterer Landnahme und der Zerstörung der Lebensgrundlagen der Palästinenser.
Während etwa die Grenze zwischen Israel und dem Westjordanland nur 314 Kilometer zählt, beträgt die Länge der Mauer etwa 700 Kilometer. Denn allein Städte wie der überwiegend von Palästinensern bewohnte Ostteil Jerusalems sind von 166,5 Kilometer Mauer umgeben, eine Stadt wie Qalqilia im Norden ist von der Mauer vollständig eingekreist. Nur durch einen Tunnel, dessen Zugang leicht von israelischem Militär zu kontrollieren ist, gelangt man in die Stadt. Für den Bau der Mauer wurden 35.411.250 Quadratmeter palästinensischen Landes entschädigungslos enteignet. Von den insgesamt neun Millionen Olivenbäumen im Westjordanland sind gut eine Million nach dem Mauerbau nur noch schwer oder gar nicht für die palästinensischen Besitzer zugänglich. Zwischen 2000 und 2005 haben die Israelis 465´945 Olivenbäume gefällt.(8)
Politische Unerbittlichkeit
In den fünf Jahrzehnten seit dem Junikrieg von 1967 versuchten alle israelischen Regierungen, palästinensischen Widerstand gewaltsam zu unterdrücken. Zum Symbol für diese unnachgiebige Haltung wurde einer der Führer der zweiten Intifada, Marwan Barghouti. Barghouti wurde von Israel am 6.Juni 2004 als „Terrorist“ zu einer mehrfachen lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Zum Vergleich: Auch Nelson Mandela war - etwa für Ronald Reagan und Margret Thatcher - ein „Terrorist“. Insgesamt 27 Jahre sass er in Haft.
Beigetragen zu dieser politischen Unerbittlichkeit hat der Mord an Premierminister Yitzhak Rabin am 4.November 1995. Der Täter, Yigal Amir, war ein kompromissloser Gegner der Friedenspolitik Rabins. Kronzeugen für die Verschärfung der israelischen Politik nach dem Mord sind keine anderen als ehemalige Chefs des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet.
Das fatale Wirken des Schin Bet
In dem Film „Töte zuerst“ des israelischen Dokumentarfilmers Dror Moreh (7) äussern sie sich zu diesem Mord und über ihre militärischen Angriffe auf palästinensische „Terroristen“, wie sie sagen - etwa über die Ermordung von Hamasführer Scheich Yassin am 22.März 2004 und die Liquidierung des Bombenbauers Yahya Ayash am 5.Januar 1995. Die Schlussfolgerungen, welche die Geheimdienstleute aus dieser Politik der Vergeltung ziehen, sind überraschend. Nach Jahren der Kriegführung gegen die Palästinenser geben die Interviewten zu, dass all ihre Gewalt zu keiner friedlichen Lösung geführt habe. Mehr noch: Der Mord an Rabin durch einen radikalen Siedlerfreund wie Yigal Amir habe allmählich zu immer grösserer Unnachgiebigkeit gegenüber den Palästinensern geführt.
Ami Ayalon, Schin-Bet-Chef von 1996 bis 2000, gibt zu Protokoll: „Im Nachhinein hat das meine ganze Welt verändert. Plötzlich sah ich Israel mit anderen Augen. Mir war das ganze Ausmass von Hetze und Hass gar nicht bewusst gewesen. Die Kluft in unserer Gesellschaft, wie wir unsere Zukunft sehen ... oder warum wir überhaupt hierher gekommen sind.“
Avi Dichter, Schin-Bet-Direktor von 2000 bis 2005, räumt ein, dass die israelische Politik, palästinensischen gewaltsamen Widerstand mit Ermordung der Anführer zu beantworten, nichts als weitere Aufstände provoziere. Er sagt: „Es lief klar auf eine neue Intifada hinaus, auf den Aufstand eines Volkes, das glaubt, es habe nichts mehr zu verlieren.“ Und er fügt hinzu: „Wir wollen Sicherheit und bekommen Terror, sie wollen einen Staat und sehen immer mehr Siedlungen.“
Yuval Diskin, Schin-Bet-Direktor von 2005 bis 2011, sieht die Aussichtslosigkeit der israelischen Kriegführung: „So bekommen wir keinen Frieden. Frieden müssen wir uns aufbauen, auf einer Vertrauensbasis, mit oder ohne militärische Schritte.“
Carmi Gillon, Schin-Bet-Direktor von 1994-1996, fordert ernsthafte Verhandlungen mit den Palästinensern: „Israel kann sich den Luxus nicht leisten, nicht mit dem Feind zu reden.“
Avraham Shalom, Schin-Bet-Direktor von 1981 bis 1986, stimmt zu: „Ich würde mit allen reden, ausnahmslos, auch mit der Hamas und auch mit dem Islamischen Dschihad. Das schliesst auch Ahmadinedchad ein.“ (zum Zeitpunkt der Aussage iranischer Präsident).
Verpasste Chancen
Unmittelbar nach dem Krieg von 1967 empfahl der Auslandsdienst Mossad die Gründung eines palästinensischen Staates. Knapp ein halbes Jahrhundert später empfahl der Inlandsdienst Schin Bet, Israel müsse mit allen seinen Feinden sprechen. Die Oslo-Verträge zwischen der PLO und Israel von 1993 und 1995 weckten zwar die Hoffnung auf eine friedliche Lösung. Aber, wie Ami Ayalon sagt, der Mord an Yitzhak Rabin habe die israelische Haltung verschärft: „Ein kleiner elender Angreifer mit einer kaum tauglichen Pistole“ habe alle Hoffnungen auf eine politische Wende zunichte gemacht.
Selten in der Geschichte hat die überlegene Partei politisch klug gehandelt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärte sich der Westen zum Sieger, sprach vom „Triumph westlicher Werte“ (9) - und verpasste es, die mögliche Chance auszuloten, zusammen mit dem Unterlegenen ein gemeinsames Sicherheitssystem in Europa aufzubauen. Statt dessen dehnte man die Nato bis zur russischen Grenze aus. Ähnlich kurzsichtig handelte Israel. 1967 ging der weise Ratschlag, einen palästinensischen Staat zu gründen, in der blinden Euphorie des Sieges unter. 2017 ist in Israel eine Regierung an der Macht, die ihre militärische Überlegenheit dazu nutzt, das gesamte historische Palästina unter jüdische Kontrolle zu bringen, die Palästinenser in Bantustans zu isolieren und damit einen Apartheid-Staat zu schaffen.
Frieden: ein Schimpfwort
Auch Besatzung ist Gewalt. Gewalt erzeugt Gegengewalt. Das ist das fatale Muster des vergangenen halben Jahrhunderts. Indem Israel erst allmählich, dann immer schneller das eroberte palästinensische Land besiedelt, hat es den Junikrieg von 1967 mit Landenteignungen, Bulldozern, Kränen, Betonmischern fortgesetzt. Israel leistet sich den „Luxus“, wie der ehemalige Schin-Bet-Chef Carmi Gillon sagt, „nicht mit dem Feind zu reden“.
Frieden? Die israelische Regierung unter Premierminister Benjamin Netanjahu habe, schrieb die Süddeutsche Zeitung, „bewusst ein Klima geschaffen“, in welchem das „Wort Frieden zum Schimpfwort mutierte“. (10) Damit ist die Region - 50 Jahre nach dem Sechstagekrieg - von einem Frieden weiter entfernt denn je.
(7) Originaltitel „The Gatekeepers“. Koproduktion 2012 von ARTE-Frankreich u.a. mit dem NDR. Bereits zweimal auf ARTE Deutschland gezeigt.
(8) Saree Makdisi: Palästina. Innenansicht einer Belagerung. Laika Verlag Hamburg 2011, S. 55. Makdisi, libanesisch-palästinensischer Herkunft, ist in den USA als Literaturkritiker und als Kommentator arabischer Politik tätig.
(9) Bernd Stöver: „United States of America - Geschichte und Kultur. Von der ersten Kolonie bis zur Gegenwart.“, München 2013, S. 520
(10) Peter Münch: „Kollision mit Bibistan“, SZ vom 26.4.17, S.4
Dieser Beitrag ist in den Blättern für Deutsche und Internationale Politik, Juniausgabe 2017, erschienen und wurde für das Journal21.ch vom Autor überarbeitet und erweitert.
Teil 1 dieser Serie erschien am 29. Mai 2017 unter dem Titel: Sechs Tage für die Ewigkeit, Teil 2 erschien am 31. Mai 2017 unter dem Titel: Nassers Irrtum gebiert Desaster