Während sich die internationale Diplomatie unter Führung von John Kerry unbeirrt um das Ende des israelisch-palästinensischen Konflikts bemüht, sind die Diskussionen auf beiden Seiten längst anders verortet. Jüngst haben sich die Siedler-«Frauen in Grün» zur Stelle gemeldet und eine Propaganda-Offensive «aus einem schlichten Grund» ins Visier genommen: «Das ist unser Land, das Land Israel, die historisch-biblische Heimat des jüdischen Volkes. Dieses grundlegende Prinzip steht über allen anderen Erklärungen und Betrachtungen, auch wenn diese wahr sein mögen.»
Verschärfte Spannungen
Die Lobbyarbeit in der Knesset soll verstärkt und die Öffentlichkeit auf künftige Annexionen eingeschworen werden. Ermutigung finden solche Stimmen durch die Rückkehr von Avigdor Lieberman, der in der Siedlung Nokdim südlich von Betlehem wohnt, nach dem Freispruch vom Vorwurf des Betrugs und des Amtsmissbrauchs Benjamin Netanjahu und Shimon Peres ausdrücklich begrüsst haben.
Zusätzlich sorgen der Argwohn, dass Yasser Arafat 2004 vom israelischen Geheimdienst ermordet worden sein könnte, und die Spannungen um das Jerusalemer «Noble Heiligtum», das Haram al-Scharif der Muslime – der «Tempelberg» der Juden, weit über Palästina hinaus für höchst explosive Aufwallungen. Derweil lässt es sich der Chef des Politischen Büros von «Hamas», Khaled Meshal, nicht nehmen, einen Staat Palästina zwischen Mittelmeer und Jordan zu beschwören. Die Extremisten spielen sich wieder einmal die Bälle zu. Die letzte Gesprächsrunde unter Leitung von Tsipi Livni und Saeb Erakat endete im heftigen Streit.
Netanjahus «linke Neigungen»
Dass die «Frauen in Grün» – welch Ironie! – den «linken» Netanjahu wegen seiner Zwei-Staaten-Rhetorik auf internationaler Bühne ins Reich der politischen Lächerlichkeit abschieben, kann nicht überraschen. Warum es der Ministerpräsident denn nicht wage, seine entsprechenden Zusagen auf die Agenda des Kabinetts zu setzen? So hat die politisch altgediente frühere Abgeordnete Geula Cohen – «Land Israel»-Ikone und gleichwohl Trägerin des Staatspreises – süffisant nachgefragt.
Nur in einem einzigen Punkt unterscheiden sich die Annexionisten voneinander: Es ist die Frage, welchen Status man den 100’000 Palästinensern einräumen solle, wenn in einem ersten Schritt die Zone C mit 60 Prozent der Westbank einverleibt wird. Die Bandbreite reicht von der vollen Staatsbürgerschaft unter bestimmten Voraussetzungen über eingeschränkte Autonomierechte bis zu einem regional gestaffelten Proportionalwahlrecht. So würden etwa die Wahlkreise von Jericho und Afula oder Kalkilya mit Kfar Saba zusammengelegt.
Palästinas Nachbarn
Jede Endstatus-Regelung wird nicht ohne den scharfen Blick auf die Umbrüche im arabischen Umfeld auskommen. Insbesondere sind folgende Problemfelder zu beachten.
- Golan: An eine Rückführung der von Israel eroberten Gebiete an Syrien ist unter den gegebenen Bedingungen nicht zu denken, so dass sich hier die EU-«Leitlinien über die Förderung israelischer Einrichtungen und ihrer Tätigkeiten» in den besetzten Gebieten als irrelevant erweisen. Welche Auswirkungen hätte Syrien als «failed state» in der Nachbarschaft zum Irak und zur Türkei?
- Jordanien: Welche Gefahren entwickeln sich in dem Staat, dessen König sich gegen die Umwandlung in eine konstitutionelle Monarchie wehrt? Welche Ziele verfolgt die palästinensische Bevölkerungsmehrheit, die trotz ihrer jordanischen Staatsbürgerschaft seit dem verhängnisvollen Verzicht König Husseins auf die Westbank im Juli 1988 an das Auswärtige Amt in Amman verwiesen ist? Sie stellt die Führung der «Islamischen Aktionsfront», den politischen und parlamentarischen Arm der Moslembruderschaft. Lassen sich die Konsequenzen eines Daueraufenthalts Hunderttausender von Flüchtlingen aus Syrien unter Kontrolle halten?
- Libanon: Droht die seit Jahrzehnten labile Balance zwischen den ethnischen und religiös-kulturellen Gemeinschaften unter dem Druck der Kämpfe in Syrien endgültig zerstört zu werden? Wird Teheran unter Führung von Hassan Rouhani das Verhältnis zur «Hisbollah» neu ordnen? Lassen sich die rund 400’000 palästinensischen Flüchtlinge weiterhin domestizieren?
Alle diese Unwägbarkeiten werden auf das Beziehungsgeflecht im israelisch-palästinensischen Verhältnis fühlbar einwirken.
Vor dem politischen Spagat
Wenn es entgegen allen Zweifeln dennoch zu einem souveränen Staat Palästina kommen sollte, steht die Entscheidung über die 300’000 israelischen Siedler in der Westbank – ungeachtet der Präsenz weiterer 200’000 in Ost-Jerusalem – auf der Tagesordnung. Da ihre Evakuierung nach den Worten von Finanzminister Yair Lapid Israel «in Stücke reissen» würde – also ausgeschlossen ist –, dürfte eine heftige Diskussion losbrechen mit dem Tenor: Wenn die Siedler nicht an ihren jetzigen Wohnorten bleiben können, müssen die israelischen Staatsbürger arabischer Volkszugehörigkeit den Preis bis hin zur Abschiebung bezahlen. Damit hätte sich Netanjahus Forderung nach dem «jüdischen Staat» erfüllt.
Die internationale Diplomatie steht mithin vor einer Herkulesaufgabe: Sie muss darauf bedacht sein, Syrien, Libanon und Jordanien vor der Desintegration zu bewahren, Teheran mit ins Boot nehmen und an der Zwei-Staaten-Lösung festhalten. Ob dieser Spagat gelingt, erscheint höchst ungewiss, zumal da immer der ortsübliche Vorwurf der Einmischung in die inneren Angelegenheiten droht. Würde wiederum das Ziel zweier Staaten aufgegeben, hätten sich die Wünsche der extremen Rechten in Israel und die der palästinensischen Islamisten erfüllt. Es bliebe bei einem Staat, dem auf Dauer der Konflikt eingeschrieben ist.
Warten wir ab, ob in Berlin eine grosse Koalition aus Union und Sozialdemokraten, wie angekündigt, zu einem neuen aussenpolitischen Selbstbewusstsein findet und ob dieses im Nahen Osten Gestalt annimmt. Aber vielleicht kommen die westlichen Regierungen insgesamt zum Schluss, ihren diplomatischen Aufwand in der Region die Stufe einer «mission impossible» zu verringern, wie dies von Barack Obama schon angedeutet worden ist.
Denn warum sollte im historischen Palästina auf einen zweiten Staat hingearbeitet werden, wenn die Nachbarschaft in Stücke bricht? Der von Kerry für Januar 2014 angekündigte amerikanische Regelungsentwurf für den Fall, dass die laufenden israelisch-palästinensischen Gespräche endgültig scheitern, wird niemanden in Jerusalem und in Ramallah überzeugen. Zu häufig landeten Initiativen wie diese in den Aktenschränken.