Während sich nach John Kerrys ergebnisloser „Architektur des Friedens“ für Israel und Palästina die Aufmerksamkeit der internationalen Politik auf den Bürgerkrieg in Syrien und seine Auswirkungen auf die arabischen Nachbarn und außerdem auf die Ukraine konzentrierte, trieben die Diskussionen vor Ort um die staatspolitische Zukunft des gemeinsamen Landes einem neuen Höhepunkt zu. Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch, den Extrakt dieser Debatten in vier Punkten zusammenzufassen:
1. Wie sind die Niederlagen der internationalen Diplomatie und hier insbesondere der USA und – nachgelagert – der Europäischen Union zu erklären? Hängt ihr Scheitern damit zusammen, dass sie nicht verstanden haben, dass die Forderung der Regierung in Jerusalem nach Anerkennung Israels als jüdischen Staat nichts anderes als die Zustimmung zur Annexion „Judäas und Samarias“, der „Heimat des jüdischen Volkes“, meint und die Welt vor der Etablierung einer „fremden Entität“ gewarnt wird?
2. Kann die Arabische Liga mit ihrer erstmals 2002 bekundeten Friedensinitiative die von den beiden Konfliktparteien und der internationalen Diplomatie hinterlassenen Schwächen und Fehler ausgleichen?
3. Welche Standpunkte prägen die regierungsamtliche Politik und die öffentlichen Debatten in Israel?
4. Welche Spannungen sind in den Beziehungen zwischen der Autonomiebehörde und der palästinensischen Zivilgesellschaft erkennbar?
Zum Schluss soll der jüngst in die politischen Debatten eingebrachte Vorschlag diskutiert werden, den UN-Sicherheitsrat zu einer Resolution mit dem Ziel zu ermutigen, um Israelis und Palästinenser auf das Ende des Jahrhundertkonflikts zu verpflichten. Außerdem sollen Alternativen zum staatspolitischen Status quo diskutiert werden[2].
I. Bewegungsabläufe der internationalen Diplomatie
Bei der Durchsicht der Resolutionen und Erklärungen der internationalen Diplomatie zum Nahostkonflikt fällt auf, dass die ihm innenwohnende Rationalität aus der Synthese von religiösen Basisüberzungen und landesgeschichtlichen Bindungen systematisch unterschätzt werden.
Stattdessen gewährt die Diplomatie den „unideologischen“ militärisch-technischen Sicherheitsansprüchen Israels Vorrang, als ob diese nicht dem theologischen Theorem vom „Vertrauen in Gott“ verhaftet seien. Kerrys Vorschläge für eine Rahmenvereinbarung bewegten sich im Rahmen des Konfliktverständnisses, das mit dem der israelischen Politik nicht kompatibel war:
Nachdem im vergangenen Jahr 2013 die Zahl der Wohneinheiten in den palästinensischen noch einmal verdoppelt wurde, solle Israel nunmehr große Teile den Siedlungsbau außerhalb Ost-Jerusalems einfrieren, öffentliche Ausschreibungen hierfür stoppen sowie die Ausweisung und Vermarktung von Bodenflächen in der Westbank beenden.
Die bis Weigerung, den „Land Israel“-Charakter aufzugeben, reicht bis in einen messianischen Aktivismus hinein, dem niemand nach der wunderbaren Befreiung „Judaäs und Samarias“ durch Gottes Eingreifen nicht zuwiderhandeln dürfe. Fünf Tage nach der Einstellung der Kampfhandlungen im Junikrieg 1967 schrieb der Dichter und Autor Nathan Alterman (1910 – 1970):
„Das ist die Bedeutung unseres Sieges: Er tilgte gegen alle praktischen Absichten die Unterscheidung zwischen dem Staat Israel und dem Land Israel. Zum ersten Mal seit der Zerstörung des Zweiten Tempels ist das Land Israel in unserer Hand. Seither sind der Staat und das Land eine Einheit[3].”
Auf diesem Hintergrund nimmt sich die Forderung von Machmud Abbas geradezu erschütternd aus, innerhalb der kommenden drei Monate, also bis Juni 2014, auf der Festlegung des Grenzverlaufs zwischen beiden Staaten zu bestehen.
Im Gefolge der Pendelmission Kerrys hat sich die Erklärung der EU-Außenminister vom 16. Dezember 2013 erneut auf dessen „rastloses Engagement“ verlassen und an die Führungsstärke Benjamin Netanjahus und Machmud Abbas‘ appelliert. Damit räumte sie ein, dass die Europäer den USA den Vortritt lassen und auf politische Entscheidungen in Jerusalem und in Ramallah keinen unmittelbaren Einfluss nehmen wollen und sich mit der Rolle als Erfüllungsgehilfen zufrieden geben. Dass die internationale Staatengemeinschaft das Verlangen nach Anerkennung Israels als jüdischen Staat ablehnt, rückt sie in den Verdacht, dass nicht nur die Palästinenser, sondern „die ganze Welt gegen uns ist“. Pünktlich zum Pessach-Fest wollten die Herausgeberin der „International Jerusalem Post“ ihre jüdisches Publikum daran erinnern, dass es zur Erinnerung an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten heiße, in jeder Generation hätten Menschen das jüdische Volk auslöschen wollen[4].
Zudem lehren alle bisherigen Erfahrungen, dass die israelischen Regierungen alle Regelungsansätze von außen haben scheitern lassen, wenn sie nicht mit ihnen vorab „abgesprochen und koordiniert“ worden seien – mit anderen Worten: Sie behalten sich ein Vetorecht vor. Im Gegensatz dazu hat sich die Autonomiebehörde auf amerikanische Kompromissformeln festlegen lassen, obwohl sie ihrem staatspolitischen Ziel keinen Dienst erwiesen haben. Stattdessen steht die Autonomiebehörde trotz milliardenschwerer Zuwendungen regelmäßig vor dem Konkurs.
Die Geberländer ihrerseits stehen vor dem Dilemma, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln und Instrumenten den Zusammenbruch verhindern zu müssen, um nicht Israels Politik in der Westbank zu beglaubigen. Denn die Auflösung der Autonomiebehörde käme der Regierung in Jerusalem höchst gelegen, weil sie ihr weitere Interaktionsspielräume eröffnen würde. Deshalb können Drohungen Washingtons, dass die Abdankung der Autonomiebehörde schwerwiegende Implikationen nach sich ziehen würde, im Interesse der eigenen politischen Glaubwürdigkeit nicht ernst genommen werden.
II. Das arabische Umfeld
Die Würdigung der „strategischen Bedeutung“ der Arabischen Friedensinitiative in der erwähnten Erklärung der EU-Außenminister übersieht die politische Handlungsschwäche ihrer Unterzeichner. Nicht von ungefähr zeigt sich Europa über die Entwicklungen in Ägypten, Syrien und im Libanon tief besorgt – in Jordanien gilt sein Augenmerk vor allem der syrischen Flüchtlingskatastrophe, von der die Stabilität des Regiments der Haschemiten nicht nachhaltig betroffen sei. Saudi-Arabien und die Golf-Emirate halten an ihrer traditionellen Zurückhaltung gegenüber den nationalen Ansprüchen der Palästinenser fest und zeigen sich lediglich bemüht, die Spannungen zwischen der PLO und „Hamas“ moderierend zu dämpfen.
Da die Autonomiebehörde eine kohärente politische Strategie vermissen lässt, neigt Abbas dazu, die um ihre eigene Legitimität besorgte Arabische Liga beharrlich um ihre diplomatische und finanzielle Hilfe zu bitten. Dabei vernachlässigt der Präsident die Erfahrung, dass im Oktober 1974 die Staats- und Regierungschefs im Vorfeld und im Nachgang der Anerkennung der PLO als einziger legitimer Repräsentantin des palästinensischen Volkes über Yasser Arafats ständige Zumutungen klagten, sie auf seine Interessen einzuschwören.
Die auf absehbare Zeit angelegte Schwäche der arabischen Staaten, die eine schwerwiegende Bedrohung Israels ausschließt, müsste die Politik in Jerusalem mehr denn je veranlassen, den Konflikt mit den Palästinensern zu beenden – wären da nicht die nationalreligiösen Prämissen. Zudem ist Abbas nicht gegen den Irrtum gefeit geblieben, dass die Ablehnung von Entwürfen wie jenen von Ministerpräsident Ehud Olmert im September 2008 nur der Anfang weiterer israelischer Zugeständnisse sein werde.
III. Israels zeitgeschichtliches und ideologisches Polster
Das Verhältnis zu den Palästinensern bewegt sich in Israel auf den Vorgaben der Balfour-Deklaration von 1917 und des Völkerbund-Mandats von 1920. In beiden Dokumenten wurde das Wohlwollen für die Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina bekundet, während es den „nichtjüdischen Gemeinschaften“ als national gesichtslosen Kollektiven den Schutz der bürgerlichen und religiösen Rechte zusagte. Nach 1948 standen die arabischen Landstriche Israels bis 1965 unter militärischer Überwachung. Die Beteiligung ihrer Bevölkerungen an den Parlamentswahlen erfolgte über Listen, die den jüdisch-zionistischen Parteien angeschlossen waren.
Nach 1967 fand eine Verschiebung der politischen Argumentation statt: Stand zunächst das materielle Sicherheitsbedürfnis im Mittelpunkt, repräsentiert durch das Verlangen nach Erweiterung der 16 Kilometer breiten „Taille“ zwischen Netanya und Tulkarem, so setzte sich mit dem Regierungsantritt Menachem Begins im Mai 1977 die Weigerung durch, auf Teile der Ursprungsheimat des jüdischen Volkes „Judäa und Samaria“ Verzicht zu leisten.
Der Regierungschef erteilte dem im Ausland stationierten Diplomaten die Anweisung, auf die Bezeichnungen „Westbank“ und „verwaltete Gebiete“ zu verzichten. Da jedoch, wie der Politologe Zeev Sternhell ausgeführt hat, schon in der Mandatszeit von allen Parteien die Definition „Land Israel“ mitgetragen wurde[5], verschoben sich nunmehr endgültig die politischen zugunsten der ideologischen Parameter. So bezeichneten 2008 in einer Umfrage 55 Prozent der jüdischen Befragten die Westbank als „befreite Gebiete“[6]. Folgerichtig werden palästinensische Abwehraktionen gleich welcher Art und Qualität als Terrorismus bewertet. Schulbücher, Medien und Parlamentarier stimmen in diesen Chor ein.
Jüngst ist noch einmal von dem ehemaligen Botschafter Israels in Kanada Alan Baker in der Traditionslinie früherer Begründungen seitens des Rechtshistorikers Yehuda Z. Blum, des Generalstaatsanwalts Meir Shamgar und des Regierungsberaters Meir Rosenne unterstrichen worden ist – um gleichlautende Stimmenaus dem Lager der heutigen Koalition zu vernachlässigen – dass den Palästinensern das Recht auf staatliche Anerkennung mit den Argumenten nicht zustehe, weil sie die internationalen Kriterien „dauerhafte Wohnbevölkerung“, „definiertes Territorium“, „handlungsfähige Regierung“ und „Ordnung der internationalen Beziehungen“ nicht erfüllen würden[7].
Aus der ersten Amtszeit zwischen 1996 und 1999 ist von einer Forderung Netanjahus nach Anerkennung Israels als jüdischen Staat nichts bekannt, erstmals 2010 wurde sie von ihm öffentlich vorgetragen, und zwar in den USA.
Der an der Universität Tel Aviv lehrende Jurist Chaim Gans hat dazu ausgeführt, dass die Palästinenser nur dann zur Anerkennung eines jüdischen Staates veranlasst wären, wenn zunächst in Israel selbst die Gleichbehandlung zwischen jüdischen und arabischen Staatsbürgern Verfassungsrang hätte und damit der Status als unterdrückte Beisassen („subtenants“) aufgehoben wäre. Ein solcher „egalitärer Zionismus“, so Gans weiter, würde Optionen für die Zwei-Staaten-Lösung wie für einen binationalen Staat erschließen[8].
Am Rande zu vermerken ist, dass gemäß dem Urteil des Obersten Gerichts 1958 im Fall des zum Katholizismus übergetretenen Bruders Daniel die nach einigen zehntausend Personen zählenden messianischen Juden in die Gefahr geraten könnten, ihre Staatsbürgerschaft zu verlieren, solange sich Israel nicht als Staat aller seiner Bürger versteht.
Die Etablierung Israels aus einzigen ethnisch und kulturell homogen Staat in der Region hätte unweigerlich gravierende Rückwirkungen auf die jüdische „Diaspora“: Sie würde, wie schon vor einem halben Jahrhundert von dem französischen Soziologen Georges Friedmann prognostiziert wurde[9], die weitere Schwächung oder gar das Ende der zionistisch-israelischen Zentrumsidee zugunsten einer weltweiten „Normalisierung“ jüdischen Lebens als religiöse Gemeinschaft neben den anderen Konfessionen und Bekenntnissen begünstigen. Für die dortige Gesamtgesellschaft steigert sich damit die Verpflichtung zur Abwehr des Antisemitismus.
IV. Die israelische und die palästinensische Zivilgesellschaft
Wie an anderer Stelle ausgeführt, haben sich die Kontakte zwischen Angehörigen des israelischen und des palästinensischen Friedenslagers erheblich vermindert.
[1] Abgeschlossen am 22. April 2014 mit einer Ergänzung am 25.04.2014.
[2] Vgl. dazu meine Ausführungen in dem Zwischenruf „Das westliche Missverständnis: Staat Israel oder Eretz Israel?“ in der Menüleiste „Veröffentlichungen“ unserer Homepage.
[3] Nathan Alterman am 16.06.1967 in der Zeitung „Maariv”.
[4] Liat Collins: Never trivialize!, in „The Jerusalem Post“ 25.04.2014, S. 20.
[5] Zeev Sternhell: Eine Vereinbarung, die insgesamt eine palästinensische Kapitulation ist, in „Haaretz“ 18.04.2014 (Hebr.).
[6] Daniel Bar-Tal and Eran Halperin: Societal Beliefs and Emotions as Socio-Psychological Barriers to Peaceful Conflict Resolution, in „Palestine-Israel Journal” 19(2014)3, S. 18 ff.
[7] Alan Baker: Palestinian Deception and the Unwarranted Trust of the West: The Case of Palestinian Accession to International Conventions. „The Jerusalem Center for Public Affairs”, April 17, 2014. Das „Center“ steht unter der Leitung von Dore Gold, einem engen politischen Weggefährten Netanjahus.
[8] Chaim Gans: Jewish state and egalitarian Zionism, in „Haaretz“ 11.04.2014. Der hebräische Originalbeitrag „Jüdischer Staat und egalitärer Zionismus“ ist einen Tag zuvor, am 10.04.2014, erschienen.
[9] Georges Friedmann: Das Ende des jüdischen Volkes? Reinbek bei Hamburg 1968.