Durchschaut! Es ist von entscheidender Bedeutung, diesen Begriff auf eine einheitliche Basis zu stellen: durchschaut! ist vergleichbar mit dem Aha-Erlebnis einer überraschenden Erkenntnis. Einen Menschen zu durchschauen heisst, dessen wahre Gestalt, dessen getarnten Motivationen oder vertuschten Zielsetzungen durch den äußeren Schein hindurch aufzudecken. Dieser Mensch mag sich der Mythen bedienen, um seine Machtbasis zu stärken. Somit sind zwei weitere Definitionen angebracht.
Jedes Land kennt seine eigenen Mythen
Mythen sind vergangenheitsgerichtete Geschichten oder Legenden. Jedes Land kennt seine eigenen Mythen. Wilhelm Tell, Rütlischwur, „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern“, - alle Schweizerinnen und Schweizer wissen sofort, was gemeint ist. Ohne Tell gäbe es keine Armbrust als CH-Marke. Ohne Rütli keine AUNS. Der Mythos ist eine Erzählung, mit der Menschen und Kulturen ihr Welt- und Selbstbildnis zum Ausdruck bringen. Allerdings verfälschen Mythen die Wahrnehmung der Realität. Mythos und Wirklichkeit haben wenig miteinander zu tun. Jene, die Mythen instrumentalisieren, sind in der Regel begnadete Geschichten- und Märchenerzähler.
Macht wird gemeinhin definiert als „Befugnis, über Menschen und Verhältnisse zu bestimmen, Herrschaft auszuüben“. Schon das Wort Herrschaft weist diskret darauf hin, dass Machtausübung eine eher männliche Domäne darstellt. Personen, die Macht suchen und haben, sind – dank staatlicher Machtbefugnis oder grosser privater, finanzieller Machtbasis – in der Lage, das Handeln von anderen zu steuern oder zumindest beeinflussen.
Das Erwachen zu wirklichem Denken
Nachdem nun der gemeinsame Startort der Reise mit Hilfe dieser Klarstellungen definiert ist, bleibt das einheitliche Ziel festzulegen: Menschen verstehen wollen.
Seit vor 2500 Jahren der abendländische Mensch im antiken Griechenland zum wirklichen Denken erwachte und sich von der Götterwelt seiner Vorfahren verabschiedete, reihen sich die philosophischen Deutungsversuche unserer Welt und ihrer Bevölkerung wie Perlen auf der Kette zu einem wertvollen Schatz. Mit jener griechischen Wissensexplosion aus archaisch-mythisch geprägter Vorstellung heraus, begann sich das Streben nach Vernunft unaufhaltsam zu erweitern.
Parallel dazu verfeinerte sich das menschliche Wissen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft formten und schliffen sich über die Jahrhunderte des mentalen Zeitraums. Geist, Vernunft und Verstand führten zu bemerkenswerten Entdeckungen. Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, auf der Schwelle zum integralen Weltverständnis, erschüttern die Verwerfungen eines neuen Denkens einmal mehr die Menschheit. Doch wie steht es um dieses Wissen?
Vorbild Albert Einstein
Wer auch wissenschaftliche Befunde als Leitplanken seines Denkprozesses akzeptiert, stellt fest, dass seit Anbruch des integralen Zeitverständnisses, bahnbrechende, neue Erkenntnisse jene wertvollen Arbeiten früherer Suchenden ergänzen und zum Teil neu formulieren. Mit integral ist hier übrigens ganzheitlich, auch Fokussierung auf das Ganze, gemeint. Gebieterisch drängen heute die äusserlichen Zeichen des Wandels – Globalisierung und Internet/Computing/Big Data, also die neue Erfahrung in Raum und Zeit - an die Oberfläche.
Die erste Wegmarke postierte Albert Einstein mit seinen Relativitätstheorien. Zweifellos kann sein Lebenswerk als Modell einer von der Ganzheit geprägten Weltsicht verstanden werden. Als Mathematiker und Physiker involvierte er sich in die Politik, die Wirtschaft und las seinen Mitmenschen gern und schalkhaft die Leviten.
Anzeichen eines epochalen Neubeginns
Seither mehren sich die Anzeichen eines epochalen Neubeginns. Hier eine kleine, subjektive Auswahl aus der wissenschaftlichen Forschung:
- Der Zusammenhang zwischen Verstand und Gefühl, seit Descartes dualistisch definiert, wird neu interpretiert. Emotionen konditionieren die Ratio. Medizin, Neurowissenschaften, sind sich (fast) einig.
- Die Hinterfragung des wissenschaftlichen Bildes des Menschen als rationales Wesen hat zu einer fundamentalen Neuformulierung in der Wirtschaft geführt. Deren Nutzentheorie, die auf der Annahme des rationalen Verhaltens der Teilnehmer fundiert, ist in sich zusammengebrochen. Diese Entdeckung wurde mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet.
- Die Erkenntnis, dass unbewusste Gedanken unser Alltagsleben steuern, mag nicht so ganz revolutionär sein. Der Ausganspunkt des Rationalismus, der Denken als bewussten Vorgang implizierte, jedoch, ist widerlegt. Das jedenfalls meint die kognitive Wissenschaft. Denken geschieht grösstenteils unbewusst. „Ich denke, also bin ich“, wirklich?
- Darwins Theorien „Kampf ums Überleben“ oder „Krieg der Natur“ werden für den Menschen aus der Sicht der Medizin, Molekular- und Neurobiologie erweitert: Die menschlichen Gene sind nicht egoistisch, sondern funktionieren als Kooperatoren. Der Mensch ist ein auf Resonanz und Kooperation angelegtes Wesen.
- Aus der Physik kommen neue Töne. Das Zeitalter der Emergenz ersetzt den Mythos von der absoluten Macht der Mathematik. Es ist gleichzeitig das Ende des Reduktionismus und der falschen Ideologie der menschlichen Herrschaft über alle Dinge.
Milliardenprojekt Gehirn-Simulation
2013 erreichte uns die Nachricht, dass die ETH Lausanne von der EU den Zuschlag für das Milliardenprojekt zur Simulation des Gehirns erhalten hat. Der Kopf hinter diesem gigantischen Vorhaben ist Henry Markram. Sein Ansatz ist neu. „Solange wir nicht verstehen, wie die vielen Einzelteile zusammenpassen, mühen wir uns vielleicht an den falschen Orten ab.“
„Solange wir nicht verstehen.“ Diese beiläufige Bemerkung des Hirnforschers ist entscheidend. Weil im Gehirn alles mit allem zusammenhängt, weil „alles so unglaublich verwoben ist, dass jede Tat, jede Aktion, die jemand tut, einen immens tiefen Eindruck auf die Gesamtheit der Dinge hinterlässt“, deshalb kommt der Mediziner und Physiologe zur Einsicht, dass mit dem Human Brain Project entscheiden neues Wissen geschaffen werden könnte.
Der „Reisende durch den Kosmos des menschlichen Gehirns“, wie Markram auch genannt wird - präsentiert er mit seinem neuen Denken eine moderne Analogie des Global Village? Im 21. Jahrhundert malt er mit seinem simulierten Bild des Gehirns eine Parallele zum neuen Weltbild: Nur wenn der Mensch die Gesamtheit seiner Aktivitäten in Betracht zieht, handelt er zeitgemäss.
Aspekte neuen Denkens
Verstehen heisst nicht, einverstanden zu sein. Doch verstehen zu wollen, warum Mitmenschen gelegentlich für uns völlig unmögliche, ja unglaubliche Thesen vertreten – das ist spannend und gleichzeitig neues Denken. Heute brechen wir auf unserer persönlichen (Zeit-)Reise ganz selbstverständlich in Jets auf und programmieren nach Ankunft das GPS, um ohne Irrfahrten am Ziel zu landen. Warum also nicht auch andere, weniger geläufige Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts akzeptieren? Hier zwei Beispiele.
- Kooperation statt Krieg. Einige der oben zitierten, überraschenden Befunde lassen es ratsam erscheinen, Andersdenkende nicht instinktiv und stur zu bekämpfen, um zu „siegen“. Kampf und Sieg sind Techniken aus jener Zeit, als versucht wurde, Macht in blutigen Kämpfen und Kriegen zu erringen. Überreste dieser Denkart treffen wir noch immer bei jenen politischen und wirtschaftlichen „Führern“, die rückwärtsblickend im Alten verhaftet sind und ihre Gegner bekämpfen. Heute treten Menschen innerhalb von Kooperationen weltweit an, um gemeinsam Resultate zu erreichen. Die EU, die NATO, die UNO – alles sind letztlich Bündnisse, um Kriege zu vermeiden.
- Öffentliches Teamwork statt geheimer Einzelkämpfe. Wurde in Wirtschaft und Wissenschaft früher hinter verschlossenen Türen geforscht und anschließend Entdecktes patentiert, geht die Taktik der Erfolgreichsten heute oft anders: Probleme werden definiert, per Internet (Cloud Computing and Big Data) in die Welt hinaus geschickt. Interessierte nehmen die Herausforderung an, schicken ihre Lösungsvorschläge zurück an den Absender. Aus geheim wird öffentlich, statt Jahre lang zu suchen, werden – dank Real Time und Teamwork oft in kurzer Zeit – die neuen Erfindungen abgeholt, überall auf der Welt. Global Village.
Mythen und Macht zerfallen
Die Mythen verblassen. Obwohl heute Klarheit besteht, dass die alten Mythen in die Kategorie Märchen einzureihen sind, bedienen sich populäre Märchenonkel unbeirrbar ihrer Faszination. Außer den Ewiggestrigen, lassen sich aufgeklärte Menschen nicht länger verführen. Besonders die Jugend hat längst spannendere mediale Orientierungsquellen. Freiheit und Sicherheit zu versprechen, also etwas, das nie garantiert werden kann – diese einst erfolgreiche Mythenpflege, auch sie vergilbt täglich mehr.
Doch auch neue Mythen haben ihr Ablaufdatum überschritten. „Der Mensch, das rationale Wesen.“ „Die Märkte, immer im Gleichgewicht.“ „Ich denke – also bin ich.“ „Krieg, der Vater aller Dinge.“ „Glaube macht selig.“ „Der Mensch, Beherrscher der Welt.“
Die Macht zerfällt. Jetzt verlieren sie die Mächtigen der Welt. Nach den Kirchenfürsten und Generälen, erfahren dies Staatschefs, Diktatoren und Parteien. Wie sagte es Jean Gebser: „Wer den Machtanspruch zurückstellt, entgeht der Ohnmacht“. Noch klammern sich Großbanken an ihre überholten, medial wirksam formulierten Grundsätze. „Grösse = Macht.“ Doch diese Gleichung stimmt nicht mehr. Die mächtige UBS in der kleinen Schweiz wurde 2008 mit einem Milliardenpaket vom Staat, respektive vom Steuerzahler, vor dem Untergang gerettet. „Too big to fail“ – hilfloses Resultat falschen Machtgehabens.
Auch die Rolle der etablierten politischen Parteien schrumpft generell und weltweit in Demokratien. Die unflexibel und dualistisch ausgerichteten Grossstrukturen des Gegeneinanders werden durch dynamisch vernetzte Denkstrategien des Miteinanders abgelöst.
Was bleibt in Zukunft?
Wenn Mythen verblassen und Macht zerfällt, verlieren Menschen, Projekte, Strategien, die auf Mythen oder Machterhalt beruhen, ihr Erfolgspotenzial. Vor den Augen involvierter Menschen zerrinnt – wie in der Sanduhr – die Substanz. Übrig bleibt das leere, durchsichtige Glasröhrchen. Wie gewonnen, so zerronnen!
Weiter oben wurde die These vertreten, wonach Menschen, die sich der Mythen bedienen, um ihre Macht auszuspielen, ihre wahren Beweggründe verschleiern. Spätestens jetzt spielt es keine Rolle mehr, ob sie nur missionarisch getrieben sind, oder ob sich hinter der Fassade der gut getarnte Versuch versteckt, überholte Privilegien zu retten. Still und leise wird auch das durchschaut!
Wer das zu verstehen versucht, ist gut unterwegs auf seiner Lebensreise in die Zukunft.