„Es war eine schwierige Situation“, sagt Oswald Oelz. „Wir waren auf 5100 Meter, nicht weit unterhalb vom Gipfel. Gert hatte eine offene Unterschenkelfraktur. Ich habe ihn mit einem Kamerastativ geschient und ihn am Fels festgebunden. Was an Vorräten noch da war, ein wenig Whisky und eine Dose Pflaumenkompott, habe ich ihm gegeben. Dann habe ich ihm gesagt, er solle versuchen zu überleben, und ich würde versuchen, Hilfe zu holen.“
Oswald Oelz sitzt beim grossen Kachelofen. In der Stube im alten Bauernhaus im Zürcher Oberland hängen Bilder von Berglandschaften. Der Arzt und Spitzenalpinist ist heute 75. Das Drama am Mount Kenya habe sein Leben und das Leben seines Freundes Gert Judmaier verändert, hat er einmal gesagt. Schaut man zum Fenster hinaus, sieht man den Raureif und ersten Schnee auf den Wiesen nach einer kalten Nacht am Bachtel. Am Mount Kenya war es kälter. Damals. Das ist jetzt bald ein halbes Jahrhundert her.
Eine Klettertour in Afrika
1970 war Oelz 27 Jahre alt. Zusammen mit seinem Tiroler Kletterfreund Gert Judmaier fasst er den Plan, den Mount Kenya zu besteigen, einen einsamen Fünftausender, der das „Matterhorn von Afrika“ genannt wird. Die erfahrenen jungen Bergsteiger suchen und finden eine Route durch eine 700-Meter-Wand zum Gipfel. Doch auf dem Abstieg passiert das Unglück: Beim Einrichten der ersten Abseilstelle bricht ein Block aus und Gert Judmayer stürzt mit ihm in die Tiefe. Oelz hat noch keine Seilbremse angelegt, er versucht, das Seil zu stoppen, doch es saust ihm durch die Hände, reisst ihm Haut und Fleisch ab, er kann den andern erst halten, als dieser weiter unten auf einem Band aufschlägt.
Sie hatten kein Funkgerät, Mobiltelefone gab es noch nicht. Schneefall setzte ein, wie jeden Nachmittag am Mount Kenya. Es gab keine organisierte Bergrettung in Kenia und somit keine Aussicht auf Hilfe. Sie fanden sich allein, in einer Felswand in Afrika. Als Ärzte wussten sie beide, was das bedeutete: Mit einem offenen Knochenbruch würde Judmaier die Nacht kaum überleben.
Oelz ist überzeugt, dass man in solchen Situationen Energien mobilisieren kann, von denen man selbst nicht weiss, dass man sie hat: „Ich bin dann mit meinen kaputten Händen im Schneesturm die Wand hinunter geklettert und habe stellenweise mit dem stark beschädigten Seil abgeseilt.“
Er erreicht die Kami-Hütte, die nicht weit vom Wandfuss liegt. In der Hütte trifft er Amerikaner und britische Bergsteiger vom Mountain Club of Kenya. Einer macht sich auf zur nächsten Funkstation, um Hilfe anzufordern, andere erklären sich bereit, zu dem Verletzten aufzusteigen. Der erste Versuch misslingt. Der Amerikaner, der Oelz begleitet, wird höhenkrank, und sie müssen umkehren.
„Am zweiten Tag haben wir es dann geschafft“, erinnert sich Oelz. 48 Stunden nach dem Unfall erreicht er zusammen mit einem in Kenia lebenden italienischen Bergsteiger den Verletzten:
„Er hat zu meinem grossen Erstaunen noch gelebt. Inzwischen war es wieder am Schneien. Wir konnten ihm dann Flüssigkeit geben und Medikamente gegen die Schmerzen, er hatte saumässige Schmerzen.“
Von da an beginnt um das Leben von Gert Judmaier ein Kampf, der noch fünf lange Tage und Nächte dauern sollte: „Ich bin dauernd bei ihm oben gewesen. Da waren inzwischen ein paar Dutzend Helfer vom Mountain Club Kenya am Berg. So hatte ich auch Infusionen bekommen. Die waren gefroren, und ich musste sie mit dem Kocher auftauen. Und ich habe wohl Dutzende mal stechen müssen, denn seine Venen waren kollabiert, und meine Hände waren kaputt. Aber irgendwann ist es gegangen und die Infusionen haben hineinlaufen können.“
Es gelingt zwar, den Verletzten ein Stück weit abzuseilen, doch die Aktion scheitert bald an technischen Problemen: „Da war ein riesiger Grat mit einem Turm, und zu dem Turm hätten wir eine Seilbahn bauen müssen. Aber dazu waren wir mit den verbliebenen Seilen nicht in der Lage.“
Ein Helikopter, welcher Material zur Kami-Hütte bringen soll, stürzt in der dünnen Luft ab und zerschellt in den Felsen.
Die Innsbrucker Bergwacht fliegt nach Kenia
Doch inzwischen war eine Rettungsaktion angelaufen, die in ganz Ostafrika und auch in europäischen Zeitungen Schlagzeilen machte. Der Vater von Gert Judmaier hatte die Innsbrucker Bergwacht aufgeboten. Ein Rettungsteam war nach Nairobi geflogen und von dort unterwegs an den Mount Kenya. Die kenyanischen Behörden halfen mit allen Mitteln, die sie zur Verfügung hatten, vor allem mit Trägern, Zelten und Fahrzeugen.
So läuft eine internationale Bergrettung an, die niemand für möglich gehalten hätte. Oswald Oelz erinnert sich an den Moment, als das Wunder geschah: „Als wir am siebten Tag nach dem Unfall an der Stelle waren, wo es nicht mehr weiter ging, tauchte als erster Werner Heim auf, ein Tiroler Heeresbergführer. Der zog drei Seile hinter sich her. Da haben wir die Seilbahn bauen können, und um Mitternacht hatten wir Gert unten am Wandfuss, – mehr tot als lebendig, aber immer noch lebendig.“
Die österreichischen Bergführer hatten im Tag-und-Nacht-Einsatz die gesamte Rettungskette aufgebaut. Fixseile waren gelegt und Abseilstellen eingerichtet worden. Dies in völlig unbekanntem Gelände, bei schlechtem Wetter in einer verschneiten Wand. Eine Leistung, die selbst mit dem heutigen Hightechgerät kaum zu schaffen wäre.
„Wir haben nichts mehr für das Bein gegeben“
Als Judmaier auf der Kami-Hütte aus seinem Schlafsack ausgepackt wird, muss der Anblick des gesplitterten Knochens grauenhaft gewesen sein. „Das hat gestunken, und der Knochen hat grau ausgesehen“, sagt Oelz. „Manni Markreiter, der Arzt der Bergwacht, hat das angeschaut und zu mir nur so eine Geste gemacht, eine Handbewegung: Abschneiden. Also wir haben für das Bein nichts mehr gegeben.“
Auf der Homepage der Bergrettung Innsbruck kann man noch lesen, was einer der beteiligten Bergfüher später schrieb: „Am Äquator geht die Sonne um 18 Uhr ziemlich rapide unter. Genau zu dieser Zeit, in der Dämmerung, erreichte der Tross mit dem Verletzten das Base Camp, wo Vater Judmaier schon wartete. Es läuft mir heute noch kalt über den Rücken, wenn ich an die Szene denke, wie der Vater Judmaier damals, beim letzten Licht des neunten Tages nach dem Unfall, den Trägern entgegenging und seinen Sohn auf der Trage umarmen konnte (…) Man hat keinen Begriff, welche Ausmasse die Aktion bereits angenommen hatte. Reporter von allen Zeitungen, sogar ein Inder von der Quick war da und fotografierte und interviewte mitten im Dreck und Schlamm, der durch den andauernden Regen bereits knöcheltief war.“
24 Stunden später ist Gert Judmaier im Spital in Nairobi, wo die Chirurgen das gebrochene Bein nur säubern und einbetten, um den Verletzten sofort weiter in die Klinik nach Innsbruck zu schicken. Dort geschieht das zweite Wunder: Die Ärzte amputieren nicht, sondern versuchen, das Bein zu retten. Nach langen Monaten wiederholter Operationen gelingt es ihnen.
47 Jahre später
Vor ein paar Wochen, am 21. Oktober 2017, stand Gert Judmaier im bayrischen Tegernsee auf der Bühne und nahm zusammen mit dem Filmteam den grossen Preis des diesjährigen Bergfilmfestivals entgegen. „Mount Kenya – still alive“ heisst die erste Regiearbeit von Reinhold Messner. Es ist eine Dokumentation, in der die beiden Protagonisten, Oswald Oelz und Gert Judmaier, ihr Abenteuer am Mount Kenya erzählen. In den nachgespielten Szenen werden die beiden dargestellt von den Tiroler Top-Alpinisten Hansjörg und Vitus Auer. Produziert wurde der Film von Servus-TV, dem Sender von Redbull.
Judmaier erzählt auf der Bühne, wie alles anfing. 1970 lag er in Innsbruck mit seinem gebrochenen Schienbein im selben Spital wie Reinhold Messner, welchem damals am Nanga Parbat die Zehen erfroren waren. Messner war schon damals überzeugt, die Rettung am Mount Kenya sei eine Wahnsinns-Geschichte, die man verfilmen müsse. Es dauerte dann mehr als 40 Jahre, bis er sich daran machte, die Idee in die Tat umzusetzen. Mit Judmaier, Oelz und einem Fernsehteam fuhr er nach Kenia.
„Ich wollte die Ereignisse so wahrheitsgetreu wie möglich darstellen“, sagte Messner in einem Interview. „Die Tatsachen, die Details sollten stimmen. ‚Still alive‘ ist aber nur in zweiter Linie ein Bergfilm. Die emotionale Seite der Geschichte ist mir ebenso wichtig. Für mich ist der Film eine Dokumentation über Kameradschaft, Liebe, Freundschaft, Leben und Tod.“
Die Jury prämierte den Film mit der Begründung, dass es von Anfang bis Ende glaubwürdig sei, was da ohne allzuviel Pathos erzählt wurde. Die Landschaftsaufnahmen seien grandios, befand die Jury. State of the Art sei auch die Perfektion, mit der die Szenen am Berg gedreht wurden.
Gert Judmaier hinkt ein wenig. „Das Sprunggelenk ist versteift, ein Teil vom Knochen fehlt“, sagt Oelz. „Aber er kann eigentlich alles machen, auch Skitouren und Klettern.“