Ein 23-jähriger Franzose, aufgewachsen in einer Vorstadt von Toulouse, ermordet innerhalb von acht Tagen drei Soldaten, drei jüdische Kinder und einen Lehrer. Die Tat eines Monsters und Fanatikers, sagt Staatspräsident Sarkozy, nach Erklärungen für diese Verbrechen zu suchen, sei ein moralischer Fehler.
Kein Bluff
Die Schockwelle, die Frankreich dieser Tage und auch am Wochenende noch durchlief, ist gewaltig - wegen der Abscheulichkeit der Taten, der Kaltbütigkeit, mit der sie ausgeführt wurden und des Zynismus, mit dem der erst 23-jährige Täter sie kommentierte und begründete. Er sprach, verschanzt in einer 30-Quadratmeter-Wohnung, stundenlang über Funk mit den Spezialeinheiten der Polizei und besonders mit einer Beamtin des Inlandsgeheimdienstes, die ihn erst vor vier Monaten ausführlich vernommen hatte - nach Mohamed Merahs Rückkehr von seiner zweiten Reise ins pakistanisch-afghanische Grenzgebiet.
Während der langen Gespräche im Laufe des Mittwochs musste die Beamtin plötzlich hören, dass sie als nächste auf der Liste des zum Gotteskrieger mutierten ehemaligen Kleinkriminellen aus einer Vorortsiedlung von Toulouse gestanden hatte. "Ich hätte dich auf jeden Fall ausgeraucht", wird Merah aus den Aufzeichnungen dieser Gespräche zitiert. Nach dem unerwartet heftigen Feuergefecht mit den Spezialeinheiten und seinem Tod wurden Dokumente gefunden, die beweisen, dass Mohamed durchaus nicht nur angegeben hatte.
Ein Sohn Frankreichs
Frankreich ist schockiert. Auch weil man sich nach den Ereignissen von Toulouse nichts mehr vormachen und nicht mehr darum herum reden kann: Die sieben Morde mit islamistsichem Hintergrund wurden nicht von aussen nach Frankreich hereingetragen. Der 23-Jährige war ein Sohn der Stadt Toulouse, ein französischer Junge, der die Schule der Republik durchlaufen hatte, in Frankreich sozialisiert wurde, in einer ihm vertrauten Umgebung eine Lehre als Karosserieschlosser absolviert und als solcher auch kurze Zeit gearbeitet hatte, bevor er in die Kleinkriminalität abdriftete und anschliessend umkippte, sich im Laufe von nur wenigen Monaten in eine ganz andere Welt begeben und sich dort eingeschlossen hat - in der Welt der strengen Salafisten und des radikalen Islamismus.
Noch dazu war er ein Junge mit einem Engelgesicht - die Videos und Photos, die von ihm veröffentlicht wurden, wenige Stunden, bevor er, wie angekündigt, mit der Waffe in der Hand sterben sollte, zeigten einen ausgelassenen jungen Mann, mit einehmendem Lächeln, der in seiner Vorstadt mehr als einem Mädchen den Kopf verdreht haben dürfte, einen harmlos wirkenden Angeber, mit den unter Vorstadtjugendlichen unerlässlichen Markenklamotten am Leib, der schnelle Autos und schwere Motorräder liebt. Ein ganz normaler Franzose, Anfang 20.
Frankreich ist nicht schuld
Wenn Präsident Sarkozy nun sagt, es sei ein moralischer Fehler, nach Erklärungen für Mohamed Merahs schreckliche Verbrechen suchen zu wollen, und hinzufügt, Frankreich sei nicht schuldig, es gebe in diesem Land kein Klima, welches derartige Verbrechen erklären könnte, so verschliesst auch der Präsident die Augen vor einer Realität, die sich in der französischen Gesellschaft leider sehr wohl etabliert hat. Es ist ein Klima, von dem das gesamte politische Establishement - nur die betroffenen Lokalpolitiker ausgenommen - seit Jahren möglichst nichts wahrhaben will.
Selbst die wochenlangen Vorstadtunruhen am Ende des Jahres 2005 haben daran nichts geändert. Man verdrängt die Realität: die immense soziale Misere in den Vorstädten des Landes, die Institutionen der französischen Republik, die dort immer weniger ausrichten können, sofern sie überhaupt noch präsent sind, ein ökonomisches Leben, das von der Parallelwirtschaft beherrrscht wird und ein politisches Leben, das dort schlicht niemanden mehr interessiert. Bei Wahlen gehen in den Vorstadtghettos Frankreich oft gerade 20 Prozent der Wahlberechtigten überhaupt an die Urnen! Die Republik, ihre Werte, Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten haben dort nur beschränkte Gültigkeit. Zu viele sind zu lange von ihr enttäuscht worden.
**Unsere Kinder **
Viele Politiker, Nachbarn oder einfache Passanten hatten nach der Ermordung - man muss eher sagen: den Hinrichtungen - der drei kleinen jüdischen Kinder und des Religionslehrers vor ihrer Thora- Schule morgens um kurz nach 8 Uhr spontan, sehr überzeugend und zurecht gesagt: Diese Opfer sind unsere Kinder, es ist, als habe man meine eigenen Kinder getötet.
So schmerzvoll es ist und so brutal es klingt: Auch Mohamed Merah ist unser Kind, ein Kind der französischen Gesellschaft, so wie sie im Jahre 2012 nun einmal ist. Der Horror von Toulouse könnte unter anderem auch dazu dienen, davor nicht mehr die Augen zu verschliessen.
Mohamed Merah ist während eines 18-monatigen Gefängnisaufenthaltes zum radikalen Islamismus übergelaufen. Sein grosser Bruder soll dabei eine Rolle gespielt haben, vielleicht auch andere Mitgefangene. Wie auch immer, es passierte im Laufe des Jahres 2009, in einem französischen Gefängnis und nicht in einer Koranschule im Iran oder in Ägypten. Der gut aussehende junge Mann, der die Diskotheken der Bannmeile von Toulouse ausgiebig frequentiert hatte, kniete plötzlich auch nachts auf seinem Gebetsteppich in der Gefängiszelle und hörte den Tag über von CDs radikale Hasspredigten gegen die Welt des Westens und die Ungläubigen.
La desintegration - ein Film
Es konnte einem letzte Woche in Frankreich schon kalt den Rücken herunter laufen. Nicht nur angesichts der besonderen Abscheulichkeit der Verbrechen und des diabolischen Drehbuchs, das ein 23-Jähriger da mit einer Kaltblütigkeit und Risikobereitschaft in die Tat umgesetzt hat, vor denen jeder erprobte korsische Profikiller nur erblassen kann.
Das gilt um so mehr, als die Realität die Fiktion auf schier unglaubliche Weise überholt hat. Gerade fünf Wochen ist es her, da war ein Film des nicht übermässig bekannten Regisseurs Philippe Faucon in die französischen Kinos gekommen. Sein Titel: "La desintégration". Die Ähnlichkeiten zwischen den Ereignissen in Toulouse und der Handlung des Films sind fast beängstigend. Die Geschichte des Streifens ist in einer Vorstadt von Lille und nicht von Toulouse angesiedelt. Am Ende begehen drei frisch Indokritinierte ein Sprengstoffattentat vor dem Sitz der NATO in Brüssel. Lille und Brüssel: Dies sind schon die wichtigsten Unterschiede zwischen Fiktion und Realität.
Philippe Faucon, der Regisseur, hat ansonsten in seinem vor zwei Jahren geschriebenen Drehbuch fast sämtliche Ingredenzien vereint, die im Werdegang des Serienmörders von Toulouse eine Rolle gespielt haben: die Welt der Vorstadt mit ihrem sozialen Elend, Diskrimierungen im Alltag, fast unüberwindliche Schwierigkeiten, einen Job zu finden, die Bedeutung des Computers und der virtuellen Welt, eine Mutter, die sich plagt und drei Kinder mehr oder weniger alleine gross gezogen hat, ein Vater, der so gut wie nicht präsent ist, die gläubigen Moslems, die im Viertel unter freiem Himmel beten müssen und radikale Islamisten, die ihr Nest machen und einige frustrierte Jugendliche für ihre Sache gewinnen.
Im Film sagt einer der radikalen Missionare, nachdem er den jüngsten Sohn der Familie und zwei andere junge Männer des Viertels auf seine Seite gezogen hat: "Von nun an seid ihr keine Franzosen mehr. Eure Brüder sind die Moudjahidin, die in Palästina oder Afghanistan kämpfen"
Es ist, als hätte Mohamed Merah in Toulouse diese Worte gehört und an sie geglaubt. In seinem Kopf war er wohl wirklich kein Franzose mehr, als er die drei kleinen jüdischen Kinder, den Lehrer und die drei Fallschirmjäger ermordete - letztere Soldaten wie er, Franzosen nordafrikanischer Herkunft.
Die letzte Ruhestätte
Einer der Fallschirmjäger, den Mohamed Merah erschossen hat, trug denselben Vornamen wie der Täter. Aber dem genügte es, einen französische Soldaten vor sich zu haben, dessen Einheit in Afghanistan im Einsatz gewesen war. Ein anderer ermorderter Fallschirmjäger hiess Imad. Auf den erschreckenden Videoaufzeichnungen, die Mohamed Merah von all seinen Taten gemacht hat, ist zu hören, wie ihm der Täter sagte, bervor er schoss: "Du tötest meine Brüder, also töte ich dich". Imad, der französische Elitesoldat, ist am Sonntag beigesetzt worden, aber nicht in Frankreich.
Beisetzung in der Heimat ausserhalb Frankreichs: Auch das ist eine Realität der französischen Gesellschaft. Ohne sie bewerten zu wollen, gibt sie zu denken. Die Entscheidung über den Ort, an dem man sich begraben lassen möchte oder wo die Angehörigen einen begraben lassen, ist so radikal wie der Tod selbst. Man möchte dort für immer ruhen, wo man sich hingehörig fühlt, wo so etwas wie das Zuhause war. Die Zahl der Franzosen nordafrikanischer Herkunft, die nicht in Frankreich beerdigt werden, ist selbst in der dritten oder vierten Generation beachtlich. Auch das sagt viel aus über den tatsächlichen Zustand der französischen Gesellschaft. Imad, der stolze Fallschirmjäger der französischen Armee, geboren und aufgewachsen in einem Vorort der normannischen Stadt Rouen, dessen Eltern ebenfalls in Frankreich leben, ist am Sonntag im Norden Marokkos zur letzten Ruhe bestattet worden.