Im Ostteil Aleppos harren noch immer zwischen 200'000 bis 300'000 Menschen in den zum grossen Teil zerstörten Häusern aus. Die östliche Hälfte der einstigen Metropole – 37 Distrikte – wird von zahlreichen unterschiedlichen Rebellengruppen dominiert. Seit dem 16. Juli ist auch die letzte Strasse, die in die östlichen Stadtteile führt, von Asads Regierungstruppen abgeschnitten worden. Über diese Strasse hatten Hilfsorganisationen Nahrungsmittel für 100'000 Menschen in die Stadt gebracht. Diese Hilfe ist nun versiegt.
Asads Truppen haben nicht nur den Ostteil Aleppos abgeriegelt: Die syrische und russische Luftwaffe haben die Bombardierung der belagerten Stadtteile intensiviert. Offanbar werden dabei auch die letzten noch verbliebenden Spitäler absichtlich angegriffen. Dass Absicht vorliegt – und nicht blosse Nachlässigkeit – beweisen die zahlreichen präzisen Treffer, die ein Spital nach dem andern zerstören. Ziel dieser Bombardierungen ist es, die letzten Bewohner zur Flucht zu bewegen, so dass sich die Kämpfer isoliert in den Ruinen befinden.
„Ergebt euch“, sagt Asad
Wenn sie damit rechnen müssen, verwundet zu werden und gleichzeitig wissen, dass sie keine oder nur sehr ungenügende medizinische Hilfe für sich und für ihre Familien erwarten können, dürften sich auch jene Zivilisten zur Flucht entschliessen, die sich bisher gesagt hatten: Lieber in den Überresten meiner Stadt ausharren, als heimat- und obdachlos an den syrischen Grenzen auszuharren und vergeblich darauf zu warten, nach der Türkei, nach Jordanien oder nach Libanon eingelassen zu werden – wie dies zurzeit das Schicksal von Hunderttausenden ist.
Die Armee Asads hat die Kämpfer in der belagerten Stadt bereits aufgerufen, ihre Waffen zu strecken und sich unbewaffnet zu ergeben. Es ist unwahrscheinlich, dass viele diesem Ruf folgen werden. In Syrien weiss man nur allzu gut, was Menschen erwartet, die vom Regime „Terroristen“ genannt werden und in Gefangenschaft geraten: ein langsamer Tod unter Folter und Hunger in den überfüllten Gefängniszellen des syrischen Staates.
Moskau schaltet sich ein
Der russische Verteidigungsminister Sergei Shoigu hat erklärt, Russland wolle drei „humanitäre Korridore“ schaffen, über die die Menschen Ostaleppo verlassen können: zwei für Zivilisten und einen für Kämpfer, die bereit seien, sich zu ergeben. Shoigu sagte sogar, es werde ein vierter Korridor im Norden geschaffen, bestimmt für Rebellen, die mit ihren Waffen abziehen wollten.
Wenn die Not zunimmt, werden vielleicht mehr und mehr Zivilisten diesen Ausweg benützen. Den Kämpfern sicherte der russische Minister „medizinische Versorgung“ zu. Die wenigsten von ihnen werden auf solche Verlockungen eingehen. Sie müssen damit rechnen, in den Gefängnissen Asads zu landen.
Belagerung als Kampfmethode
Die Methode von „mittelalterlichen Belagerungen“, wie der Uno-Generalsekretär sie nannte, wird von Damaskus oft angewandt. Sie hat für die Regierung Asads den Vorteil, dass Nahkämpfe in den Städten vermieden werden. Solche sind nicht nur verlustreich für die eindringenden Soldaten, sie bringen auch Belagerer und Belagerte nahe zusammen, was Überläufer zu Frontwechseln ermuntern kann. Wenn es sich um nicht alawitische Truppen handelt, muss Asad auch heute damit rechnen, dass seine sunnitischen Soldaten, falls sie dazu Gelegenheit erhalten, die Front wechseln könnten. Belagerungen aus der Distanz mit Panzer und Kanonen erlauben es eher, die eigenen Truppen unter Kontrolle zu halten.
Vorstädte, die nah bei Damaskus liegen und sich gegen Asad erhoben, wurden schon zu Beginn des Bürgerkrieges, 2011 und 2012, „mittelalterlich belagert“. Das Vorgehen gegen solche "rebellische Ortschaften" in denen Bewaffnete Gruppen Widerstand leisten, ist immer dasselbe. Die Regierung schneidet Elektrizität, Wasser und Gas ab. Sie sperrt alle Zugänge und bombardiert die Ortschaften mit Panzern und Artillerie. Spitäler und Kliniken sind stets bevorzugte Ziele.
Eingeschleuste Geheimdienste
Wenn die Not der Belagerten gross wird, bietet die Regierung Verhandlungen an. In erster Linie geschieht dies, um die immer knapper werdenden Truppen zu schonen. Die Bedingungen sind unterschiedlich, je nach der Bedeutung, welche die belagerte Stadt für die Gesamtstrategie der Regierung besitzt. Ein Faktor ist auch die geschätzte Stärke der bewaffneten Gegner. Je nach Lage bietet die Regierung unterschiedliche Bedingungen an. In allen Fällen fordert sie die Auslieferung der schweren Waffen des Widerstandes; manchmal lässt sie den Widerstandskämpfern ihre eigenen Gewehre. Manchmal auch erlaubt sie den Kämpfern sogar den Abzug mit ihrer persönlichen Waffe. Dies war in Homs der Fall.
Es gab auch Fälle, in denen die Regierung die Abgabe der schweren Waffen forderte, dann in einen Waffenstillstand einwilligte und die Lieferung von Nahrungsmitteln zuliess. Doch dann musste der Widerstand damit rechnen, dass die Regierung die berüchtigten Geheimdienste in die Ortschaften einschleuste. Die belagerten Orte und ihre Kämpfer willigen normalerweise erst dann zu Kompromissen mit der Regierung ein, wenn der Hunger ein unerträgliches Ausmass erreicht hat.
Aleppo – ein Symbol
Ostaleppo ist sehr viel grösser als alle bisher belagerten Orte. Der symbolische Wert einer Wiedereinnahme der aufständischen Distrikte ist unvergleichlich gewichtiger als in allen bisherigen Fällen. Mit der Einnahme der einst grössten Stadt Syriens würde die Regierung Asad die fast völlige Herrschaft über „das nützliche Syrien“ (ohne die Wüsten und ohne die Ostprovinzen jenseits des Euphrats) zurückerhalten.
Anders als bei früheren kleineren Belagerungen sind in Aleppo offensichtlich auch die Russen massgeblich beteiligt. Sie bombardieren nicht nur, sie sind auch gewillt – wie das Angebot des Verteidigungsministers zeigt – diplomatisch und propagandistisch einzugreifen.
Da der Ostteil Aleppo ein weites Gebiet umfasst, könnte die Belagerung lange dauern. Ob das Eingreifen Russlands bewirkt, die Frist abzukürzen, muss sich zeigen.