«Scham» ist das arabische Wort für Damaskus und für Syrien, das Wort kann auch auf die Provinz Scham des Osmanischen Reiches bezogen werden. In diesem Sinne umfasst Scham über Syrien hinaus auch das heutige Palästina und Libanon. Dies ist der Grund, weshalb man den neuen Namen sowohl als «Front zur Eroberung Syriens» übersetzen kann wie auch als «Front zur Eroberung der Levante».
Die Zweideutigkeit ist beabsichtigt. Zunächst dürfte das heutige Syrien als Zielpunkt der Gruppe dienen, doch eine Erweiterung ihrer Kriegsziele auf Palästina-Israel und auf Libanon liegt innerhalb des Begriffes Scham.
Freundliche Trennung
Der Chef der nun umbenannten Front, Muhammed al-Golani, ist zum ersten Mal in seiner Laufbahn im Fernsehen erschienen, um die Trennung von al-Kaida bekanntzugeben. Kurz zuvor hatte der Kaida-Führer Ayman al-Zawaheri seinerseits auf einem Videoclip mitgeteilt, dass er die Ablösung billige. Er sagte, die Einheit der Muslime sei wichtiger als ihre organisatorische Struktur. Wenn es zum Wohl der Muslime gereiche, solle sich Nusra von al-Kaida trennen.
Golani führte das gleiche Thema etwas detaillierter aus. Er erklärte: «Die Schaffung der neuen Front beabsichtigt, die Lücke zwischen den Jihad-Gruppen zu schliessen. Indem wir diese Verbindung abbrechen, zielen wir darauf ab, die Syrische Revolution zu schützen. Wir danken den Leitern von al-Kaida dafür, dass sie die Notwendigkeit, die Verbindung abzubrechen, verstehen.»
Zusammen mit al-Zawaheri meldete sich auch eine gewisser Abu Khaled al-Masri zu Wort, der als Stellvertreter al-Zawaheris bezeichnet wird. Er sagte: «Nachdem wir die Lage in Syrien studiert haben, stimmen wir allen Handlungen zu, die den Jihad in Scham aufrechterhalten können. Wir sagen den Führern der Nusra-Front: Tut, was die Einheit von Islam und Muslimen sowie den Jihad in Scham bewahrt! Wir drängen euch, die nötigen Schritte in diese Richtung vorzunehmen. Dies ist auch ein Aufruf an die anderen Jihad Gruppen in Scham, mit euch eine Front zu bilden, um unser Volk und Land zu schützen.»
Unverändert islamistische Ausrichtung
Der zuletzt genannte Abu Khaled al-Masri befand sich im April in Irbid bei der Nusra-Front. Er wohnte einer Zusammenkunft bei, in der ein bekannter ägyptischer Jihadist, Taha Rifa'i, mit Nusra verhandelte, um der syrischen Jihadgruppe eine Trennung von al-Kaida zu empfehlen. Am Tag nach dem Treffen in Idlib soll Rifa'i einem Drohnenangriff der Amerikaner zum Opfer gefallen sein. Von einer möglichen Loslösung der Nusra-Front von al-Kaida war in Jihadistenkreisen seit einiger Zeit die Rede.
Die bisherige Nusra, neu Eroberungsfront, gilt als eine der wichtigsten und schlagkräftigsten Rebellengruppen gegen das Asad-Regime. Sie ist und bleibt streng islamistisch. Das heisst, sie strebt einen Zustand an, der ihrem Verständnis der politischen und sozialen Zustände in Arabien unter Muhammed entspricht. Die Kämpfer dieser Front sollen zwischen 10’000 und 15’000 Mann zählen. Sie stehen in der Provinz Idlib und dominieren diese weitgehend. Es gibt auch etwa 700 weitere Nusra-, nun Eroberungsfront-Kämpfer im Süden Syriens in der Nähe der Stadt Deraa.
Die Front war einst der syrische Arm der Vorläuferorganisation des IS gewesen, als der spätere IS sich noch «Islamischer Staat im Iraq und in Syrien» (ISIS) nannte. Doch 2013 waren die beiden Fronten in Streit geraten, weil die damalige Nusra sich nicht mehr ihrer irakischen Ursprungsorganisation unterstellen wollte. Der Streit hatte zu Kämpfen geführt. Al-Zawaheri war als Schiedsrichter angerufen worden und hatte entschieden, Nusra solle in Syrien und al-Kaida im Irak zuständig sein.
Doch Abu Bakr al-Bagdadi, der Chef der irakischen Organisation, war mit dem Schiedsspruch nicht einverstanden und verliess al-Kaida. Kurz darauf eroberte seine Organisation Mosul und er erklärte das «Kalifat» des IS in Raqqa und Mosul. Die damalige Trennung al-Bagdadis von al-Zawaheri war – im Unterschied zur gegenwärtigen zwischen Nusra und al-Zawaheri – eine feindliche Scheidung gewesen.
Vereinigter islamistischer Widerstand gegen Asad
Aus den Erklärungen der Gruppenchefs auf beiden Seiten lässt sich erkennen: Der Zweck der gegenwärtigen Trennung ist eine verbesserte Zusammenarbeit von Nusra, nun Eroberungsfront, mit den anderen islamistischen Kampfgruppen, die in Syrien im Felde stehen.
Die wichtigste dieser Gruppen ist «Ahrar al-Scham» (die Freien Syriens). Dies ist ein Zusammenschluss von syrischen Kampfgruppen, die alle einen islamischen Staat in Scham anstreben, das heisst zunächst einmal im gegenwärtigen Syrien. Nusra hatte mit den Ahrar während des Jahres 2015 zusammengearbeitet. Die beiden hatten sogar eine gemeinsame Dachorganisation gegründet, die sich «Dschaisch ul-Islam» nannte, Islamisches Heer.
Doch innerhalb dieses sogenannten Heeres hatte es immer Reibungen gegeben, und 2016 hatte es sich praktisch aufgelöst. Die Freien Syriens (Ahrar al-Scham) warfen Nusra vor, sie sei an al-Kaida gebunden und daher keine «syrische» Kampforganisation, sondern eine weltweite und primär anti-amerikanische, wie al-Kaida selbst.
Wer zählt zu den Terroristen?
Der Unterschied hatte eine gewichtige praktische Bedeutung: Nusra als al-Kaida-Tochter galt den Amerikanern und den Russen als terroristische Gruppierung und wurde daher zum Ziel der Bombenangriffe beider Grossmächte. Bei Ahrar asch-Scham lag es anders. Für die USA waren sie Revolutionäre gegen das Asad-Regime und als solche potentielle Verbündete. Für Russland hingegen gehörten auch sie zu den Terroristen, weil sie mit Nusra zusammenarbeiteten. Saudi-Arabien unterstützte die Ahrar, konnte und wollte jedoch Nusra nicht unterstützen, weil Nusra zu al-Kaida gehörte. Doch Nusra soll dem Vernehmen nach trotzdem Finanzhilfen von Privaten aus der Golfregion erhalten haben.
Die Trennung von al-Kaida und die Namensänderung wurde wahrscheinlich nicht in der Hoffnung vollzogen, dass die Amerikaner allein deswegen ihre Bombardierungen einstellen könnten. Dies wären allzu unrealistische Hoffnungen gewesen. Vielmehr ging es um «Einigkeit», wie die Erklärungen sowohl Zawaheris wie auch des Chefs der Nusra-Eroberungsfront unterstreichen. Die Ahrar und verwandte Gruppen sollen vor die Tatsache gestellt werden, dass die Nusra-Eroberungsfront nun nicht mehr zu al-Kaida gehört. Damit soll den Ahrar Grund oder Vorwand dafür genommen werden, dass sie nur zögerlich mit der Nusra-, beziehungsweise Eroberungsfront zusammenarbeiteten.
Amerikanisch-russische Koordination
Die Sache war besonders heikel geworden, weil die Russen den Amerikanern schon mehrmals vorgeschlagen hatten, gemeinsam gegen IS und Nusra vorzugehen. Nach anfänglichem Zögern waren die Amerikaner offenbar auf dieses Ansinnen eingegangen. Am vergangenen Mittwoch erkärten Kerrry und Lavrov sie hätten einige Möglichkeiten der Zusammenarbeit gegen beide Gruppen ins Auge gefasst. Erwähnt wurden die Koordination beider Luftwaffen bei Schlägen gegen IS und Nusra und als Gegenleistung Versuche, der Asad-Regierung die Bombardierung «gemässigter» Rebellengruppen zu untersagen.
Dass die Amerikaner die Russen von ihrem Standpunkt abbringen könnten, wonach Gruppen wie die Ahrar, die mit Terroristen zusammenarbeiten, selbst Terroristen sind und daher bombardiert werden müssen, ist allerdings unwahrscheinlich. Dass die Amerikaner sich entschliessen könnten, auch die Ahrar auf die Liste der Terroristen zu setzen, die von ihnen bombardiert werden sollen, ist auch nicht anzunehmen. Sie würden damit den Saudis und anderen Golfstaaten, die offiziell zu der Koalition gehören, welche die USA gegen den IS anführen, zuwiderhandeln und eine der wichtigsten Gruppen bombardieren, denen die Saudis helfen und auf welche sie ihre Hoffnungen setzen, dass Asad doch noch besiegt werden könnte.
Einheit der Jihadisten als Ziel
Die Nusra-Eroberungsfront will durch die Loslösung von al-Kaida die Ahrar und verwandte Gruppen vor eine Entscheidung stellen: entweder sie treten auf die Seite der Front und nehmen mit ihr in Kauf, Ziele der Bombenangriffe von Amerikanern und Russen zu werden – oder sie halten sich auf der Seite der Amerikaner und Russen und verzichten damit auf ihr bisheriges Ziel eines «Islamischen Staates in Scham».
Da es innerhalb der Ahrar unterschiedliche Flügel gibt – einen, der den Amerikanern zuneigt und sich bereit fand, an den Friedensgesprächen in Genf teilzunehmen und der daher als «gemässigter Flügel» gelten kann, sowie einen anderen, der in Sachen islamischer Staat keinerlei Kompromisse eingehen will und daher als «radikal» gelten kann –, ist es denkbar, dass die Le Nusra-Eroberungsfront auf eine Spaltung der Ahrar spekuliert. Die radikalen Bestandteile würden sich zu ihr schlagen und damit im Sprachgebrauch al-Zawaheris und Golanis die Einigkeit der wahren Glaubenskämpfer in Scham zustande bringen oder mindestens stärken.
Der nächste Zug im islamistischen Schachspiel ist nun von Ahrar al-Scham zu erwarten.