Sylvie war dieses Jahr Ende des Sommers hunderte Kilometer weit weg von La Rochelle, dem Ort, wo sich Frankreichs Sozialisten seit Jahrzehnten am letzten Augustwochenende im Rahmen ihrer so genannten „Sommeruniversität“ ein dreitägiges Stelldichein geben. Fast zwanzig Mal hat sie als Basisdelegierte an dieser stets von Dramen und Zank, von Ränkespielen und Selbstdarstellungen begleiteten Parteiveranstaltung teilgenommen, bei der sich die Parteigrössen dem Fussvolk zeigen und an Beifall und Pfiffen ihre Popularität testen können.
Nicht nur dieses Jahr – mit der Anwesenheit der gerade frisch aus der Regierung geschassten Minister Montebourg und Hamon, glich dieses Treffen einer Schmierenkomödie, bei der die verfeindeten Parteigranden die Hälfte ihrer Energie darauf verwenden, sich in der kleinen Hafenstadt am Atlantik aus dem Weg zu gehen, durch Hintertüren verschwinden, hier die Kameras meiden, sie eine Stunde später, an anderem Ort, aber suchen.
Sylvie war dieses Jahr Ende August bei Freunden im Süden Frankreichs und wollte von der Nabelschau ihrer Parteigenossen möglichst verschont bleiben.
Verflogene Illusionen
In drei Monaten kann sie in Rente gehen, nach vier Jahrzehnten Arbeit für verschiedene Hilfsvereine in Paris und für die sozialistische Partei. Seit einigen Jahren schon hatte sie die Nase voll von den Baronen und Bonzen und dem Zustand des PS. François Hollande hatte ihr dann, bereits im Sommer 2012 als frischgebackener Präsident den Rest gegeben. "Als ich gesehen habe, wen er sich als Berater in den Elysée geholt hatte, hatte ich verstanden, wo der Weg hingeht", sagt Sylvie.
Zur jüngsten Regierungskrise und dem jetzt klaren, sozialliberalen Kurs von Präsident Hollande und Premierminister Valls will ihr heute, knapp zweieinhalb Jahre später, schlicht gar nichts mehr einfallen. Wenn sie aber im Zusammenhang mit dieser Politik auch noch das Wort „Reformen“ hört, steigt ihr doch noch die Zornesröte ins Gesicht. Hinter dem Wort Reform verberge sich doch die Vorstellung, dass es den Menschen dadurch besser gehen sollte, faucht sie in einer Wolke aus Zigarettenrauch. Ein sozialistischer Premierminister der vor den Spitzen des französischen Arbeitgeberverbandes ausruft: „Ich liebe die Unternehmen“, löst bei der altgedienten Parteisoldatin nur noch Kopfschütteln aus. Valls, den Kleinen, der sich mit seinen martialischen Kopfbewegungen wie ein Korporal gibt, hat sie ohnehin nie leiden können.
„Wir werden die Partei von Jean Jaurès und Léon Blum doch nicht den Wirtschaftsliberalen überlassen.“ Dieser Satz eines Parteifreundes bei der von ihr gemiedenen Sommeruniversität in La Rochelle spricht Sylvie aus der Seele. Sie gehört zu denen, die der Ansicht sind, Manuel Valls, der Premierminister, der bei den Urwahlen der Sozialisten im November 2011 für die Präsidentschaftskandidatur gerade 5% der Stimmen der sozialistischen Sympathisanten bekommen hatte, habe mit dem Rauswurf der Parteilinken Montebourg, Hamon und Filipetti aus der Regierungsmannschaft einen regelrechten Putsch gegen die Parteibasis inszeniert.
Hollandes Kalkül
Dabei wundert Sylvie im Grunde so gut wie nichts mehr. Denn schon während des Wahlkampfs im Frühjahr 2012 war ihr bitter bewusst geworden, dass es nicht der Mühe wert war, daran zu glauben, François Hollande würde seine Versprechen auch halten, sollte er wirklich Präsident werden.
Eine Bekannte aus der engeren Umgebung des künftigen Präsidenten hatte ihr auf einer Wahlveranstaltung damals schon jede Illusion genommen. Dutzende Versprechungen, so die Kollegin, habe man Hollande bei den Verhandlungen über sein Programm regelrecht entreissen müssen, ihn erst im letzten Moment über den Tisch ziehen können, damit diese Punkte dann schwarz auf weiss wenigstens im Wahlprogramm 2012 auftauchten - etwa das kommunale Wahlrecht für nicht EU-Ausländer, die seit über 5 Jahren im Land leben. Man solle aber bloss nicht glauben, dass Hollande, für den Fall, dass er gewählt werde, sich auch an das Programm halten werde, so die Vertraute des langjährigen Generalsekretärs der französischen Sozialisten. Wohlgemerkt, dieses Gespräch unter Parteigenossinen hatte bereits zu Beginn des Jahres 2012 stattgefunden. Sylvie hatte verstanden. Sie hatte gerade die 60 überschritten und ihr zweites Zuhause, die Sozialistische Partei Frankreichs, war ihr endgültig verloren gegangen.
1973, nur zwei Jahre nach der Neugründung der Sozialistischen Partei durch François Mitterrand, hatte sie sich als Parteimitglied eingeschrieben.
Es war eine Epoche, als diese Partei noch die Arbeiter und die kleinen Leute kannte, und die Nationale Front Le Pens noch nicht die erste Arbeiterpartei im Land war und Frankreichs Sozialisten nicht zu einer Partei verkommen waren, in der jedes dritte Mitglied irgendwo auch als Abgeordneter in einem Gemeinde, Departements- oder Regionalrat sitzt oder irgendeine bezahlte Funktion in der Partei inne hat.
Zweite Familie
Sylvie wurde im Pariser Araberviertel „Goutte d'Or“ geboren und war von ihrer Grossmutter aufgezogen worden. Sie gehört zu der mittlerweile seltenen Spezies von Sozialisten, die wirklich aus dem Volk kommt und die bis heute spricht, wie ihr das Maul gewachsen ist. Fast ein Leben lang war die Partei ihre Ersatzfamilie, sie hat sich ihr hingegeben, sich die Schuhsohlen abgelaufen und die Stimmbänder ruiniert für die PS. Und jetzt das - ein sozialistischer Präsident, dem rein gar nichts mehr gelingt, dessen Popularität bei 13% liegt, dessen ehemalige Lebensgefährtin mit einem Buch voll des Geflüsters aus dem Schlaf- und Badezimmer ihm einen weiteren Dolchstoss versetzt und ihn endgültig erniedrigt hat. Dazu eine Partei, die einen Abgeordneten in ihren Reihen zählte, der Staatssekretär geworden war und nach nur 9 Tagen gleich wieder gehen musste - weil er schlicht drei Jahre lang keine Steuern bezahlt hatte! Immerhin war dieser smarte Endvierziger Sprecher der sozialistischen Fraktion in der Nationalversammlung gewesen. Er habe eine „administrative Phobie“ lautete die Entschuldigung desjenigen, der sich jetzt auch noch standhaft weigert, sein Abgeordnetenmandat zurückzugeben und nicht den blassesten Schimmer davon zu haben scheint, wie katastrophal die Auswirkungen seines Verhaltens für die Partei, ja für die gesamte politische Klasse sind. „Gibt es denn niemand unter uns, der ihm mal die Faust ins Gesicht hauen könnte“, raunte dieser Tage ein sozialistischer Abgeordneter in den Wandelhallen der Nationalversammlung.
Sylvie rauft sich nicht mal mehr die Haare. Sie hat in ihrem Innersten fertig mit dieser Partei.
Die Bande des 18. Arrondissements
Dabei hat sie aus nächster Nähe miterlebt, wie man es schaffen kann, als Sozialist in Frankreich an die Macht zu kommen.
Sylvie hat ihren Anteil daran, dass aus der so genannten "Viererbande" des 18. Pariser Arrondissements etwas geworden ist. Sie hat ihnen in den 70-er und 80-er Jahren, bei Wahlkämpfen, bei ersten Erfolgen und während langer Durststrecken die Händchen gehalten und die Drecksarbeit gemacht - Plakate geklebt, Sympathisanten für Versammlungen zusammengetrommelt, Wahlveranstaltungen vorbereitet, im Hintergrund gewerkelt und organisiert. Die Herren, für die sie diese Arbeit machte, hiessen: Lionel Jospin, später Premierminister; Daniel Vaillant, später Innenminister und fast 20 Jahre Bürgermeister des 18. Pariser Arrondissements mit seinen 200‘000 Einwohnern; Claude Estier, über zwei Jahrzehnte lang einflussreicher Senator und schliesslich Bertrand Delanoé, der 2001 erster sozialistischer Bürgermeister von Paris wurde.
Sie weiss so ziemlich alles über diese Viererbande, kennt ihre Schwächen, ihre Liebschaften, ihre Charaktereigenschaften. Sie durfte zurecht stolz sein, als der zugeknöpfte Lionel Jospin 1997 Premierminister wurde und Bertrand Delanoé, nur vier Jahre später, nach über einem Vierteljahrhundert, Chirac und dessen Clique im Pariser Rathaus als Bürgermeister ablöste.
Doch im März dieses Jahres 2014 hat sie sich erstmals geweigert, bei den Kommunalwahlen über eines der Wahllokale im 18. Pariser Arrondissement zu wachen. Sie hat einfach Nein gesagt. Genug, es reicht, basta.
Delanoé, der nach 13 Jahren als Pariser Bürgermeister freiwillig nicht noch ein drittes Mal kandidierte, hatte sie während des vorhergehenden Wahlkampfs im Februar und März 2014 jeden zweiten Tag angerufen, um sie noch einmal zu motivieren, ihre in Jahrzehnten geknüpften Kontakte und Beziehungen spielen zu lassen und dafür zu sorgen, dass die Leute auch wirklich zur Wahl gehen - doch Sylvie hatte auch da schon abgelehnt. Erstmals, seit sie Parteimitglied ist.
Tränen beim Kolloquium
Sylvie hatte nicht vergessen, was ihr im September 2012 wiederfahren war. Vier Monate lang war Präsident Hollande im Elysée und sie konnte sich schon nicht mehr darüber freuen.
Als Expertin war sie damals zu einem Kolloquium in der Nationalversammlung geladen, das unter der Schirmherrschaft des Parlamentspräsidenten, Claude Bartolone, stand - einen, den sie ähnlich gut kennt, wie die Viererbande aus dem 18. Pariser Arrondissement. Über zehn Jahre lang hatte Sylvie im Norden von Paris einen Hilfsverein geleitete, der sich um die Prostituierten aus Afrika und dem Balkan kümmerte und gegen den damit verbundenen Menschenhandel ankämpfte. "Bus der Frauen", hiess der Verein und der Bus zirkulierte, Nacht für Nacht in den nördlichen Randbezirken von Paris - bot Tee, Präservative, Gespräche und administrative oder juristische Hilfe an, den zum Teil erst 16-Jährigen aus Nigeria, die kaum ein Wort Französisch Sprachen, noch weniger als die fast ebenso jungen Albanerinnen oder Bulgarinnen. Das war ein Jahrzehnt lang Sylvies Arbeit - als Frau, als Bürgerin und als aktive Sozialistin.
Als sie im September 2012 unter den Goldstuckdecken der Nationalversammlung bei diesem Kolloquium ihr Wissen und ihre Erfahrung über den mit der Prostitution verbundenen Menschenhandel weitergab, kamen ihr vor versammelter Runde plötzlich die Tränen. Tränen, die nicht aufhören wollten zu rinnen. Sie redete weiter, aber auch die Tränen rannen weiter. Irgendwo war ein Band gerissen, plötzlich konnte sie nicht mehr daran glauben, das ihr Auftritt in dem erlauchten Kreis auch nur die Spur eines Sinns hätte. Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen, dass Bartolone, der anwesende Parlamentspräsident, Hollande, der Staatspräsident und die anderen an der Regierung, immerhin ihre Parteigenossen, mit all dem, wogegen sie mehr als ein Jahrzehnt lang gekämpft hatte, mit diesen Untiefen der französischen Gesellschaft, wo Prostitution, Menschenhandel und organisiertes Verbrechen zu Hause sind, im Grunde rein gar nichts am Hut haben. Dieses Kolloquium, so wurde ihr plötzlich klar, dient nur dazu, dass diese Herrschaften, meine jetzt machthabenden Parteigenossen, ein gutes Gewissen haben und so tun können, als würden sie wirklich etwas bewegen wollen. All das wurde Sylvie an diesem Septembertag 2012 schlagartig klar und sie weinte. Danach war sie ein Jahr lang einer Depression verfallen und in psychiatrischer Behandlung.
„Ich sag Euch, in sechs Monaten wird es auf der Linken eine neue Partei geben in diesem Land. Eine Teil der Linkspartei, Leute von den Grünen und eine ganze Reihe von Sozialisten sind bereit dafür, mit der PS ist es vorbei“, ist Sylvie überzeugt.
Wer freilich der französische Lafontaine sein könnte, der 15 Jahre später „Die Linke“ in Frankreich ins Leben rufen soll, um die schrödersche Politik zu bekämpfen, die Präsident Hollande und Premierminister Valls nach der letzten Regierungskrise nun offen und ohne etwas schön zu reden auf den Weg bringen wollen, das weiss auch sie nicht so recht zu sagen.
An der Loire
Wenn Sylvie von ihrer sozialistischen Parteivergangenheit erzählt, dann liegt auch ein wenig Verbitterung in der Luft. Sie war nah dran an den Mächtigen, hat ihnen Jahre lang gedient und viel Drecksarbeit gemacht, nur gelegentlich von ihnen profitiert, um einen Job zum Überleben zu finden. Jetzt, da sie in Rente geht, wird sie die Hauptstadt, die ihr Leben war, mehr oder weniger notgedrungen verlassen müssen. Die 950 Euro Miete, die sie bislang in Paris bezahlen musste, wird sie als Rentnerin nicht mehr hinblättern können.
In einem 800-Seelendorf an der Loire, 200 Kilometer von Paris entfernt, richtet sie sich gerade ein und wird dort sicher nicht weiter für die Partei agitieren. Dass ihr Dorf nur ein paar Kilometer von Château-Chinon, François Mitterrands politischer Wahlheimat, entfernt liegt, ist Zufall. Die nächste grössere Stadt ist Nevers. Dort hatte der sozialistische Premierminister, Pierre Béréguevoy, am 1. Mai 1993 Selbstmord begangen, als seine Partei nach den Parlamentswahlen gerade noch 58 von 570 Abgeordneten in der Nationalversammlung stellte. Damals, vor 20 Jahren, hat Sylvie noch mit angepackt, um ihre daniederliegende Partei nach der Tragödie wieder auf die Beine zu bringen. Heute zuckt sie nur noch mit den Achseln.