Das Bündner Kunstmuseum in Chur richtet Ilse Weber (1908–1984) eine Retrospektive aus und lenkt unseren Blick nicht nur auf eine Künstlerin subtiler Zwischentöne, sondern auch auf eine wichtige Aufbruchphase der Schweizer Kunst.
«Der Wald» ist ein Werk Ilse Webers aus dem Jahr 1970 betitelt. Es schildert eine merkwürdige, wenn nicht irritierende räumliche Konstellation: Über einer sanften Dünenlandschaft schwebt im hellblauen Himmel eine breitgezogene Rhombus-Form – oder ist es, die Fransen würden dafür sprechen, ein fliegender Teppich? – aus der ein Stern ausgeschnitten ist. Durch diese Öffnung sehen wir einen dunkelgrünen Wald unter einem hellen Himmelsstreifen: Ein Bild im Bild.
Bei aller Unklarheit, was die Position des Waldes, was den Raum, was den Zusammenhang der einzelnen Bildelemente betrifft: Die Malerin schildert all das Unklare und Geheimnisvolle mit hoher Präzision, als zeige sie eine reale Situation, die sie vor sich sah. Dazu kommt ein ausgeprägter Hang zum Ornamentalen. Das Ornament gibt dem Wald die Aura einer sakral anmutenden Vision. Sie lässt uns staunen. Sie lässt uns auch ratlos: Wir sind fasziniert, ohne den genauen Grund dafür zu kennen. Als Ilse Weber dieses Bild malte, war sie 62 Jahre alt.
1971 war der Kanton Aargau Gastkanton der OLMA. Im Foyer des Stadttheaters St. Gallen wurde aus diesem Anlass die Ausstellung «Junge Aargauer Künstler» gezeigt. Dabei war, mit Bildern wie dem «Wald», die damals 63-jährige Ilse Weber. Ein Jahr später fand in Mailand eine Ausstellung «Giovane arte svizzera» statt. Dabei war wiederum Ilse Weber – zusammen mit Künstlern, die eine Generation jünger waren als sie. Junge Künstler sind unterschiedlich alt. Eine «junge Künstlerin» zu sein, ist offenbar nicht eine Frage des Jahrganges. Junge Künstler können «alt», alte Künstlerinnen «jung» sein. Ilse Weber ist ein Beispiel für den zweiten Fall.
Dunkeltonige Anfänge
In jüngeren Jahren war Ilse Weber jedoch noch den «alten» Künstlerinnen und Künstlern zuzurechnen: Sie malte, im Paris der Zwischenkriegszeit in die französische klassische «Peinture» eingeführt, solide brave Landschaftsbilder, Interieurs und Stillleben der für die Aargauer Kunst jener Jahre und weit darüber hinaus typischen dunkeltonigen Farbigkeit.
«Ich möchte einmal etwas malen, was ich noch nie gesehen habe.»
In den späten 1960er Jahren deutete sich in ihrer Arbeit, parallel zur Aufbruchsstimmung in der damaligen Kunst und zum politischen Klima jener Zeit, ein Positionswechsel an. Ihre Kunst wurde «jung», was nicht heisst, dass sie sich Ausdrucksweisen und Empfindungen der damals jungen Generation angeeignet hätte, wohl aber, dass ihre Perspektive wechselte: Blickte sie früher, malerischen Traditionen verpflichtet wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen, um sich und malte, was sie vor sich sah, so malte oder zeichnete sie nun, was sich in ihrem Innern an Bildern abspielte. «Ich möchte einmal etwas malen, was ich noch nie gesehen habe», soll sie gesagt haben.
Das rapportiert Ilse Webers Tochter, die Kunsthistorikerin Marie-Louise Lienhard, in ihrem 1982 erschienenen Buch über ihre Mutter. Damit korrespondierte Ilse Webers künstlerische Disposition mit jener mancher Künstlerinnen und Künstler der damals jungen Generation, wie sie sich etwa in der Aarauer Ziegelrain-Gruppe (Max Matter, Hugo Suter, Heiner Kielholz, Christian Rothacher) oder in einigen Künstlern in Luzern (Anton Egloff, Philippe Schibig, Rolf Winnewisser u. a.) manifestierte.
«Eine ältere Dame»
Stephan Kunz, Künstlerischer Direktor des Bündner Kunstmuseums Chur, lässt die Ausstellung «Ilse Weber – Helle Nacht», die erste Einzelausstellung Ilse Webers seit dreissig Jahren, mit den ab Mitte der 1960er-Jahre entstandenen Werken beginnen. Da war der Bruch mit der Vergangenheit weitgehend vollzogen, und da verschrieb sich die Künstlerin, dem «Zeitgeist» jener Jahre entsprechend, bereits schwergewichtig der Zeichnung, deren Sensibilität des Strichs und deren ephemerer Charakter der Intimität ihres Schaffens entsprechen.
«Man wusste, die Künstlerin ist eine ältere Dame. Aber eigentlich hat man bei ihren Bildern vergessen, ob sie alt oder jung ist.»
So traten Verwandtschaften mit den «Jungen» zutage, und bald nahm die Nachfolgegeneration das Schaffen Ilse Webers wahr, ohne nach ihrem Alter zu fragen. Die Künstlerin Silvia Bächli, die Ilse Weber in den Siebzigern begegnete, sagt in einem im Churer Katalogbuch abgedruckten Gespräch: «Man wusste, die Künstlerin ist eine ältere Dame. Aber eigentlich hat man bei ihren Bildern vergessen, ob sie alt oder jung ist.»
Aus dieser Aussage spricht auch eine gewisse (ehrfurchtsvolle?) Distanz. Das würde dem Gehabe Ilse Webers entsprechen, denn sie fühlte sich kaum einer «Szene» zugehörig, mied Betriebsamkeiten, Selbstinszenierung und alles Bohèmehafte. Sie trieb ihre Arbeit in stiller Konzentration im Atelier in der ausgedienten Spinnerei in Wettingen voran. Dahin zog sie 1974, als sie im Zuge der künstlerischen Neuorientierung den Arbeitsraum in ihrem Wohnhaus in Wettingen aufgab.
Lebensmetaphern
Die Ausstellung im Bündner Kunstmuseum Chur vereinigt rund 130 Werke von etwa 1960 bis 1984, dem Todesjahr der Künstlerin. Stephan Kunz setzt nicht auf eine reine Chronologie, sondern gruppiert die Werke lose nach Motiven – im Wissen darum, dass es oft um Gleichzeitigkeit statt um zeitliche Abfolgen geht. So wird deutlich, dass Ilse Weber sich immer wieder ähnlichen Themen zuwandte, und dass sie einmal Fomuliertes später erneut aufnahm und variierte.
Konstanten in Ilse Webers Werk sind – unabhängig von der gewählten Technik – Landschaften, Bäume, Fliessendes, Wasser immer wieder, Innenräume (zum Beispiel die geheimnisvolle Zeichnung «Wasserstern»), Ereignisse, Nachtbilder, Stillleben-Ähnliches. Durch alle diese Motive, die sich auch in der traditionellen Malerei wiederfinden, ziehen sich die Rätsel einer eigenständig entwickelten Bildsprache. Manche Motive bieten sich für Lebensmetaphern geradezu an. In der Komposition wirken die Werke meist klassisch-gemessen und ornamental. Gleichzeitig erschliessen sie Zwischenreiche voll scharfer Gegensätze.
Erstaunlich mag sein, dass Ilse Weber die Zeichnung nicht als spontane Notiz verstand. Sie komponierte sie wie Gemälde: sorgfältig, mit Sensorium für die Proportionen und für die räumliche Wirkung, die das Bildmotiv sich frei entfalten und atmen lässt. Prominentes Beispiel dafür ist die Zeichnung «Flasche».
Traumbilder – oder Visionen?
Im Zusammenhang mit Ilse Weber ist oft zu hören, sie schildere in ihren Werken Träume oder Traumbilder. Das ist vielleicht eine Ausflucht. Mit dem Hinweis auf Träumerisches, das man nicht fassen und klar kanalisieren kann, lässt sich beinahe alles Fremde und Entrückte erklären und deuten – wenn möglich gar psychologisch deuten, was denn oft zu einem problematischen Eindringen in die Intimität der Künstlerinnenpersönlichkeit führt. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis von Marie-Louise Lienhard bemerkenswert, dass Ilse Weber (vielleicht zum Selbstschutz?) psychologischen Argumentationen mit grösster Skepsis begegnete. Das mag vielleicht auch heutige Interpreten zur Zurückhaltung, vielleicht gar zur Scheu in der Deutung veranlassen.
Betrachter und Betrachterin bringen sich mit ihren Emotionen, ihrer Befindlichkeit, ihrem Vorwissen in die Bild-Lektüre ein und «vollenden» für sich das Bild.
Ob der Begriff «Vision» hilfreicher ist, um sich diesen Werken zu nähern, weil er, im Gegensatz zum Traum, eine von der Künstlerin bewusst gewählte Sicht der Dinge beinhalten kann? Die Hintergründe dieser Sicht legt die Künstlerin nicht dar; sie bleiben ihr Geheimnis. Wie damit umzugehen ist, bleibt Sache des Betrachters und der Betrachterin, die sich mit ihren Emotionen, ihrer Befindlichkeit, ihrem Vorwissen in die Bild-Lektüre einbringen und das Bild für sich «vollenden», getreu dem Buchtitel von Wolfgang Kemp «Der Betrachter ist im Bild» (1991). Mit anderen Worten: Viele Interpretationen sind möglich.
Ein Beispiel dazu: Das Bild, das sich bei Ilse Webers unvermitteltem Tod 1984 auf der Staffelei befand, ist das Aquarell «The Side Entrance». Wir sehen den düstern Hintereingang zu einem Holzhaus, zu erreichen über eine wackelige Treppe. Nebenan blüht ein Rosenstock. Für Marie-Louise Lienhard malte Ilse Weber hier «die Metapher ihres Todes». Diese Interpretation der Tochter ist persönlich, verständlich und berechtigt.
Doch berechtigt wäre auch eine andere, und sie könnte ebenso ertragreich sein: Ilse Weber wandte sich in diesem Bild mit Sorgfalt und Liebe jenen kleinen Unwichtigkeiten des Lebens zu, die auch zum Wesentlichen des Daseins gehören. Das zieht sich – neben anderem – als roter Faden durchs ihr ganzes Lebenswerk. Möglich und sinnvoll sind schliesslich beide und vielleicht auch weitere Interpretationen. Was die Bedeutung von Ilse Webers Gesamtwerk unterstreichen mag.
Ilse Weber wurde 1908 in Baden geboren. Ausbildung zur Pianistin im Konservatorium Zürich. 1930 begann sie zu malen. 1936/1937 in Paris und Arbeit im Atelier des dem Fauvismus nahestehenden Othon Friesz. 1940 Heirat mit dem Maler Hubert Weber, der 1944 starb. Ilse Weber lebte in Wettingen. 1957, nach dem Tod ihrer Eltern, verlegte sie sich auf eine privatere Bildsprache, vor allem in Zeichnung und Aquarell. Ausstellungen 1967 im Kunsthaus Aarau, 1972 und 1975 in der Galerie Raeber in Luzern. In den 1970er Jahren wurde sie mehrfach in Gruppenausstellungen junger Schweizer Kunst gezeigt. 1982 übersiedelte sie mit der Familie ihrer Tochter nach Washington, wo sie 1984 starb. 1992 war im Kunsthaus Zürich ihrem Werk in einer Einzelausstellung zu begegnen. Harald Szeemann nahm sie auf in seine Schau «Visionäre Schweiz» (Zürich, Madrid, Düsseldorf 1992/93). 1999 zeigte das Kunsthaus Aarau Ilse Webers Arbeiten auf Papier zusammen mit Meret Oppenheim und Louise Bourgeois.
Bündner Kunstmuseum Chur, bis 30.Juli
Begleitbuch mit Texten von Stephan Kunz, Elisabeth Bronfen und Romina Ebenhöch sowie mit einem Gespräch mit den Kunstschaffenden Silvia Bächli und Rolf Winnewisser. 38 Franken