Die grösste Zeitspanne ihres Künstlerinnen-Daseins widmete Hannah Villiger (1951–1997) ihrem eigenen Körper. Obwohl die Fotografie ihr Medium war, verstand sie sich immer als Bildhauerin.
«Ich horche mit der Kamera meinem nackten kahlen Körper entlang, um ihn herum, in ihn hinein, durch ihn hindurch … Mein Ziel ist nicht ein Abbild des Gegebenen, sondern ein autonomes Werk.» Hannah Villiger 1986
Sechs beinahe quadratische Fotos, C-Prints von Polaroid-Fotos, fügen sich zu einem Ganzen. Aus dunklem Grund leuchten helle Gliedmassen, die wir nur schwer bestimmten Körperteilen zuordnen können. Wir erkennen wohl Arme, Beine, eine Rückenpartie, Füsse, doch wie genau sie auf einander bezogen sind, ist schwer zu sagen. Wir sehen eine dünne, verletzliche, von Sommersprossen übersäte und sicher hochsensible Haut und dunkle, sich ordnendem Kämmen widersetzende Haare. Die fotografierten Körperteile fügen sich zu einer sich über alle sechs Tafeln von links unten nach rechts oben weich und lebendig fliessenden Linie, zu einer Art Bilder-Strom. «Block XXX» heisst die 1993/94 entstandene Arbeit von respektabler Grösse (254 x 377 cm). Der Titel wirkt lapidar, wie in Stein gemeisselt, und er verzichtet auf jeden inhaltlichen Brückenschlag: ein entschieden kompromissloses Statement.
«Block XXX» ist im Muzeum Susch im Engadin zu sehen. Die Arbeit ist Teil der Retrospektive, welche die Kuratorinnen Madeleine Schuppli und Yasmin Afschar der 1997 im Alter von nur 46 Jahren verstorbenen Künstlerin Hannah Villiger im Muzeum ausrichten. Die polnische Unternehmerin und Mäzenin Grażyna Kulczyk gründete diese Institution vor vier Jahren im mit viel Stilbewusstsein renovierten Gebäudekomplex im Dorfzentrum von Susch. Das Haus widmet sich nicht ausschliesslich, aber doch vor allem der Kunst von Frauen und rückt oft Künstlerinnen in den Fokus, die nicht (mehr) im Zentrum des allgemeinen Interesses stehen. Beispiele sind Laura Grisi, Evelyne Axell, Carolee Schneemann.
Intimität und Distanz
In den Körperfragmenten, die «Block XXX» zeigt, und die Hannah Villiger zu dieser komplex strukturierten Linie fügte, zeigt die Künstlerin sich selbst: Sie tastet ihren eigenen Körper mit der Polaroid-Kamera in der Hand gleichsam ab. Die Distanz zwischen Kamera und Objekt entspricht ihrer Armlänge. Damit führt sie die Augen der Betrachterinnen und Betrachter ungewohnt nahe an ihren Körper. Mehr an irritierender Intimität scheint nicht möglich. Mit ihrem ästhetischen Bewusstsein, mit formalen Qualitäten, mit der Perfektion der Fertigung, aber auch mit der Selbstverständlichkeit, mit der sie sich den Betrachtern gegenüber öffnet, schafft sie jene Distanz, welche ein nüchternes Reflektieren ermöglicht und dem Betrachter die Voyeur-Rolle erspart.
Die Folge sind Bilder, die herkömmlichen Aktbildern radikal widersprechen – nicht nur dem von der Werbung kultivierten «verführerischen» Frauenbild, sondern auch jenem, das in der fast ausschliesslich von Männern geschaffenen Aktmalerei und -fotografie durch all die Jahrhunderte der Kunstgeschichte meist manifest wird. Deren mögliche Anbiederungsversuche lagen Hannah Villiger fern. Umgekehrt lassen sich manche Bilder als Chiffren für Einsamkeit und Isolation interpretieren, aber ebenso, und das ist wohl wichtiger, als ein klares Bekenntnis zu einem kompromisslosen Künstlerinnen-Bewusstsein. In ihren Werken ist die Frau nie (manipulierbares) Objekt, sondern stets selbstbewusst handelndes Subjekt. Das betrifft in einigen Werken auch ihre mit grosser Selbstverständlichkeit ins Bild gesetzte Beziehung zur eigenen sexuellen Empfindung.
Ob Hannah Villiger mit diesen Aufnahmen ihres eigenen Körpers bewusst eine Gegenposition einnehmen wollte? Agitation im Sinne eines kämpferischen Feminismus ist kaum auszumachen, ebenso fehlt jene Provokation, welche zum Beispiel die 1932 geborene Amerikanerin Joan Semmel mit ihren erotischen Malereien wohl beabsichtigte.
«Ich bin die Skulptur»
Doch ihre ganze rund 25 Jahre andauernde künstlerische Tätigkeit ist geprägt von einem Unabhängigkeitsstreben der Künstlerin, die stets kompromisslos auf ihrem eigenen Weg bestand. Dieser Weg setzte ein an der damaligen Kunstgewerbeschule in Luzern in der Klasse «Bildnerisches Gestalten» Anton Egloffs. Ein zentrales Thema war damals die Dimension des Raumes, die wechselseitige Beziehung des Menschen zum ihn umgebenden Raum, und ebenso die den Raum verändernde Kraft der Natur und ihres Wachstums. Die Ausstellung in Susch wartet dazu mit zahlreichen und bisher nie öffentlich gezeigten Belegen wie poetischen und zugleich kraftvollen Zeichnungen auf. Diesen Anfängen in der Bildhauer-Klasse ist Hannah Villiger stets treu geblieben. Sie wehrte sich gegen die Etikette «Fotografin», denn sie verstand sich immer als Bildhauerin und verwendete für ihre Arbeiten häufig den Titel «Skulptural».
Die Ausstellung wirft auch einen Blick auf die dreidimensionalen Arbeiten aus Hannah Villigers Anfängen. Sie sind meist nur in Fotos belegt oder waren als energiegeladene fotografierte Performances konzipiert. Ebenso macht die Retrospektive deutlich, dass sich in der Entwicklung ihrer Arbeit die Biographie Hannah Villigers andeuten mag. Um 1980/81 – zu Beginn ihrer Beschäftigung mit der Polaroid-Fotografie – spielten Anekdotisches und Alltägliches eine Rolle: Die Künstlerin thematisierte, hier humorvoll, dort resignativ, die Beziehung zu ihrer Partnerin Susan Wyss. Nach einer gemeinsamen Weltreise (1981/82) ging diese Beziehung zu Ende. Hannah Villiger zog sich zurück. Auf die Weite der grossen Welt folgte die Nähe zu sich selbst. Die «Bildhauerin» entdeckte ihren eigenen Körper als Arbeitsgrundlage und «Material»: «Ich bin die Skulptur» notierte sie 1983 in ein Arbeitsheft, und drei Jahre später: «Ich bin mein nächster Gegenstand». Mitte der 1980er Jahre zeichneten sich verschränkende Glieder die Tiefe eines Raumes ab – eine klassisch einfach konstruierte Komposition aus Quadrat- und Diagonal-Elementen. Ähnlich in der Grundanlage, aber komplexer in der Wirkung sind um 1990 entstandene «Skulptural»-Arbeiten. In wiederum anderen reduzierte Hannah Villiger ihre Formensprache auf wenige sparsam eingesetzte Linien bis hin zur Abstraktion. Dem entspricht auch die blass-zurückhaltende Farbigkeit der Polaroid-Technologie.
Hannah Villiger (*1951) wächst in Cham auf und besucht die Schule für Gestaltung in Luzern. Sie lässt sich in Basel nieder. Ab 1976 pendelt sie zwischen Rom, Montefalco und der Schweiz. 1980 erkrankt sie an Tuberkulose, was lange Spitalaufenthalte nach sich zieht. 1981/82 Weltreise mit Susan Wyss. Rückkehr nach Basel und Trennung von Susan Wyss. Ab 1986 in Paris. Sie lernt Mansour Kébé kennen, mit dem sie einen Sohn hat, und den sie 1995 heiratet. Ausstellungen in ganz Europa. Werke in wichtigen Museen (u.a. Luzern, Basel, Zug, Centre Pompidou). Im August 1997 stirbt sie an Herzversagen. 2001 erscheint eine grosse Publikation über ihr Werk, versehen mit einem Catalogue Raisonné.
Kurz vor ihrem Tod fand sie zu neuen Ausdrucksmitteln: Auf zwei neunteiligen Blöcken von 1997 sind keine Körperteile mehr erkennbar, als hätte sich die Künstlerin davongemacht und ihre Hüllen zurückgelassen. Die Besucherinnen und Besucher sehen sich der intensiv leuchtenden, wuchtigen Farbigkeit von teils geordneten, teils ungeordneten Textilien ausgesetzt: Der überraschende Schlusspunkt einer in ihrer klugen Werkauswahl schlüssigen Retrospektive.
Versuch eines Brückenschlags
Die Kuratorinnen luden drei Künstler ein, die Retrospektive im Muzeum Susch mit eigenen Werken zu begleiten. Dahinter mag die Absicht stehen, einer jüngeren Generation den Zugang zu Hannah Villiger zu erleichtern und eine Brücke zu schlagen zum Schaffen einer Pionierin weiblicher Kreativität in der Schweiz. Wie weit diese jüngere Generation diese Zugangshilfe braucht, bleibe dahingestellt. Madeleine Schuppli und Yasmin Afschar zeigen die Installationen der drei Schweizer Künstlerinnen Alexandra Bachzetsis (*1974), Manon Wertebroeck (*1991) und Lou Masduraud (*1990) in separaten Räumen, lassen sie also nicht in direkte Konkurrenz zu Hannah Villigers Werken treten. Alle drei bewegen sich im Themenfeld einer Körper- und damit Identitätsbefragung, was mit Villigers Arbeit mehr oder weniger deutlich korrelieren mag. Vor allem Bachzetsis’ Video, das Bewegungsstudien der ausgebildeten Tänzerin und Choreographin zeigt, kommt Hannah Villigers Arbeit nahe.
Muzeum Susch, bis 2. Juli. Öffnungszeiten: Mittwoch bis Sonntag 11 bis 17 Uhr, Montag und Dienstag geschlossen. Eine Publikation erscheint später.