Schweizer Bürgerinnen und Bürger können einen Volksentscheid über eine von ihnen gewünschte Änderung der Bundesverfassung verlangen. Sie müssen dazu innert 18 Monaten 100’000 gültige Unterschriften von Stimmberechtigten sammeln. Diese Art von Mitbestimmung gilt als Antriebselement unserer direkten Demokratie.
Zum Machtinstrument verkommen
Doch die Idee droht in der aktuellen Initiativenflut unterzugehen. Immer öfter missbrauchen Initianten oder Spitzen der politischen Parteien diese föderalistische Eigenheit zum Ausschlachten von Sonderinteressen oder Parteianliegen, um nicht zu sagen: der egoistischen Empörungsbewirtschaftung.
Eine Denkgruppe im Auftrag der Bundeskanzlei stellt in ihrem Thesenpapier nüchtern fest: «Die Volksinitiative wandelt sich von einem Sach- zu einem Machtinstrument.» Dies gilt besonders an den Rändern des politischen Spektrums. SP und SVP überbieten sich mit leicht durchschaubaren emotional unterlegten Vorstössen: hier die Genossen und Gewerkschaften mit Erbschaftssteuer-, Mindestlohn- und Grundeinkommensgelüsten, dort die wackeren Eidgenossen mit Gold-, Durchsetzungsinitiativen und jenen für Ernährungssicherheit oder Höchstgeschwindigkeit 140 auf Autobahnen.
Überschwemmung droht
Nach dem lärmigen Abstimmungssonntag vom 18. Mai 2014 bleiben weitere 31 Eidgenössische Volksinitiativen pendent: elf davon befinden sich im Sammelstadium, sechs sind im Bundesrat, zwölf beim Parlament hängig, und zwei sind abstimmungsreif. Zum Vergleich: So viele waren es zusammen in den ersten 60 Jahren des Initiativrechts. Auch in der eben abgelaufenen Sommersession führte diese Flut von Volksbegehren zu stunden-, ja tagelangen unergiebigen Redeschlachten. Bereits haben rührige Parteipräsidenten mit Fokus auf das Wahljahr 2015 weitere Initiativen angekündigt – man kann sie getrost als billige Marketing- oder Werbevehikel bezeichnen. Billig für die Parteien, teuer für die Steuerzahlenden.
1891, als das Initiativrecht eingeführt wurde, waren für das Zustandekommen 50’000 Unterschriften notwendig, damals 7,6 Prozent der Stimmberechtigen. Seit der Einführung des Frauenstimmrechts 1977 sind es 100’000, was zurzeit gerade mal noch 1,92 Prozent der Stimmberechtigen entspricht. Jean-Daniel Gerber, der ehemalige Staatssekretär, kritisiert denn auch diesen Zustand, der zur Folge hat, dass Bundesrat, Verwaltung und Parlament dafür viel zu viel Zeit aufwenden müssen. Diese fehlt dann für wichtigere Probleme unseres Landes – geschweige denn für überfällige Reformen.
Kollisionen mit dem Völkerrecht
Mitgeschwemmt im Treibgut der Initiativenflut werden seit einigen Jahren Volksinitiativen, die gegen die überdauernden und übergeordneten Werte und Errungenschaften des Völkerrechts, auch des Verfassungsrechts, verstossen. Diese entstehen «aus den Leidenschaften des Augenblicks heraus mit kurzfristiger Perspektive», so die Meinung Daniel Thürers, emeritierter Professor an der Universität Zürich in der NZZ. Das Völkerrecht wird als fremdes Recht (fremde Richter!) schlechtgeredet, obwohl es sich mit dem Landesrecht weitgehend überlagert. Besonders im Fokus stehen dabei die Menschenrechte mit der 1948 von der Schweiz mitunterzeichneten UNO-Menschenrechtserklärung. Das schweizerische Verfassungsrecht schreibt indes vor, dass Volksinitiativen auf Verfassungsrevision nicht gegen zwingendes Völkerrecht verstossen dürfen.
Das Konfliktpotenzial zwischen Volksinitiativen und Völkerrecht steigt. Der Bundesrat sucht nach neuen Lösungsansätzen. Der erste Vorschlag eines Vorprüfungsverfahrens und einer Erweiterung der Ungültigkeitsgründe ist bereits in der Vernehmlassung gescheitert. Vor allem geht es um die «Ritzung» des Völkerrechts – etwas weniger des zwingenden Völkerrechts. Bei Letzterem sind sich bisher noch fast alle einig: Zwingendes Grundrecht ist zu beachten. Es ist zudem ein altes liberales Anliegen.
In unserem Land, wo das Volk uneingeschränkter Souverän ist, glauben jedoch einzelne unentwegte Freiheitskämpfer, ihre Volksinitiativen unterlägen keinerlei rechtlichen Beschränkungen, schon gar nicht solchen aus dem Ausland. Die Wahl- und Abstimmungsfreiheit ist tatsächlich ein kostbares Gut. «Vogelfrei» sind deswegen auch wir Schweizerinnen und Schweizer nicht. Jedes freiheitsliebende Land auf der Welt profitiert vom Völkerrecht. Wer meint, dieses gelte nur für die andern, hat ein eigenartiges Demokratieverständnis. Dass die SVP im Vorfeld der Diskussionen um die Vereinbarkeit der unterschiedlichen Auffassungen bereits angekündigt hat, allenfalls eine Initiative zum Vorrang des Landesrechts zu lancieren, passt nahtlos in deren Denkschema.
Immerhin hat die ständerätliche Kommission am 25. Juni 2014 die Durchsetzungsinitiative abgelehnt, der Ständerat einige Tage vorher die Erbschaftssteuerinitiative zurückgewiesen. In beiden Fällen im Zusammenhang mit Zweifeln, ob die Begehren nicht gegen geltendes Recht verstossen würden.
Wahrung der Schweizer Souveränität
Das Volk ist bei uns der Souverän insofern, als alle Macht von ihm ausgeht. Nun kann sich aber das Volk nicht selbst regieren, wie Dieter Freiburghaus, emeritierter Professor für europäische Studien in Lausanne in Erinnerung ruft. «Dazu bedarf es der politischen Institutionen, wie sie sich in den letzten 200 Jahren herausgebildet haben. Als Gesetzgeber muss das Volk seine Gewalt mit den andern Gewalten des Staates teilen, es ist nicht Allein- und nicht Letztgesetzgeber. Und erst recht ist die Souveränität eingeschränkt, wenn es um die Eingliederung des Staates ins Völkerrecht geht» (Schweizer Monat, März 2014).
Diese Situation ist ungemütlich. Im Konfliktfall gerät die Schweiz zunehmend in die internationale Kritik, oder der «Classe politique» wird vorgeworfen, den Volkswillen zu missachten. Was wir aber jetzt nicht brauchen, sind die Ratschläge isolationistischer Propagandisten. Wie zu erwarten war, werden auch Professoren gerade für diese Haltung um «neutrale Gutachten» gebeten. Wenn jene sich dahingehend äussern, die Initiativenflut entstünde, weil das Ansehen von Politik und Verwaltung sehr niedrig sei, ist daran zu erinnern, dass es in unserem föderalistischen Land möglich ist, direkten Einfluss darauf zu nehmen – an der Urne.
Was ist zu tun?
Grundsätzlich ist umstritten, ob eine Erhöhung auf 200’000 Unterschriften oder eine Verkürzung der Sammlungsfrist die Initiativenflut eindämmen könnten. Tatsächlich gibt es aus Kantonen Hinweise, wonach dies allein nicht genügen würde. Obwohl es beispielsweise im Aargau weniger Unterschriften als in Zürich oder Genf braucht, gibt es im Aargau weniger kantonale Initiativen als da. Trotzdem scheint eine Erhöhung der Unterschriftenzahl vordringlich und sinnvoll – als eine von mehreren Massnahmen.
Laut über solche Möglichkeiten nachgedacht haben einzelne Nationalräte: Pro Initiative eine Kaution zu verlangen, die nur zurückerhält, wer die Mindestzahl an Unterschriften hinkriegt. Oder Initiativen nur noch auf der Gemeindekanzlei unterschreiben zu dürfen. Sollte gar ein Quorum von Parlamentariern, die sich hinter das Anliegen stellen, die Voraussetzung für die Gültigkeit schaffen müssen? Solche Vorschläge seien eine Frechheit, meint die SVP. Dass limitierte Mechanismen zur Wiedererlangung der ursprünglichen Idee unumgänglich seien, dieser Ansicht sind immerhin auch vierzig Nationalräte.
Daniel Bochsler vom Forschungsprogramm NCCR Democracy stellt in der «NZZ am Sonntag» fest, dass sich in jüngster Zeit die Annahmen von kaum umsetzbaren Initiativen häuften, was letztlich dieses Volksrecht aushöhle. Er spricht gar von einem Konstruktionsfehler des Initiativrechts: «Die Opposition kann Abstimmungen gewinnen, Regierung und Parlamentsmehrheit setzen diese aber nur halbherzig um. Dadurch wird das Initiativrecht zum unverbindlichen Meinungsäusserungsrecht degradiert.» Die Erfahrungen der letzten Jahre bestätigen diesen Trend. Einen Ausweg sieht Bochsler in der zügigen Reform der Volksrechte: Ein starkes Verfassungsgericht soll über die Gültigkeit von Initiativen entscheiden. Oder: Die Stimmenden sollen direkt über Staatsverträge abstimmen, statt nur indirekt über Initiativen.
Erwünschte Trendumkehr
Man braucht weder Politologe noch Meinungsforscher zu sein, um diesen schleichenden Kulturwandel in unserer direkten Demokratie zu konstatieren. Ist heute eine Gruppierung oder politische Partei mit einem in Bern demokratisch gefällten Entscheid nicht einverstanden, greift sie flugs zum Mittel des Referendums oder der Initiative. Das hat zur Folge, dass unsere Parlamentarier und der Bundesrat unendlich viel Zeit verbraten mit der jahrelangen Behandlung dieser Anliegen. Eines der Aushängeschilder unserer direkten Demokratie ist so graduell zu einem nicht ungefährlichen Instabilitätsfaktor geworden. Der Eindruck, dass die grossen Brocken der Modernisierung unseres Staatswesens, der drängenden Reformen, deshalb über Jahre verschleppt werden, täuscht nicht.
Dass diesen Kritisierten dann aber bei jeder Gelegenheit vorgeworfen wird, ineffizient oder gar «unfähig» zu handeln, ist allerdings leicht durchschaubare, plumpe Taktik. Sind es doch oft die gleichen Kreise, die diese Kritik unzimperlich schüren, die mit ihrem Initiativenmissbrauch mitverantwortlich am Missstand sind. Andererseits ist das laute Stöhnen der Bundespolitiker über die Initiativenflut ein völlig folgenloses Klagen – sind es doch meistens ihre eigenen Parteien, die ununterbrochen Holz in den Initiativen-Ofen nachlegen. Die stärksten der «staatstragenden» Parteien der Schweiz – SP und SVP – stehen besonders im Fokus. Sie repräsentieren mit über 45 Prozent Wähleranteil zu einem grossen Teil das Volk, den Souverän.
Bleibt zu wünschen, dass dieser missliche Trend über kurz oder lang umgekehrt werden kann. Schweizerinnen und Schweizer sollten zusammenstehen. Die gegenseitige polemische Bekämpfung Andersdenkender ist nicht zielführend. Geschlossenheit im Inneren und Offenheit nach aussen sind die bewährten schweizerischen Stärken.