Von Martin Schubarth, Lausanne
Journal 21 stellt in dieser Rubrik ausgewählten Personen aus Politik, Wissenschaft und Kultur «die Gretchenfrage» zu einem hintergründig aktuellen Problem. In der dritten Runde geht es um die Frage: Welchen Sinn hat das Völkerrecht? Hat es die erhoffte praktische Bedeutung?
Die Frage, wie weit dem Völkerrecht Vorrang vor dem nationalen Recht zukommt, steht in der Schweiz seit einiger Zeit im Brennpunkt der Diskussion.
Dies hat verschiedene Gründe. Zum einen ist dies die Folge einer teilweise exzessiven Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Zum anderen stehen verschiedene Volksinitiativen, die in den letzten Jahren angenommen wurden, in einem Spannungsverhältnis zum Völkerrecht.
Theoretiker und Praktiker
„Das“ Völkerrecht – man kann sich fragen, ob es Sinn macht, abstrakt von „dem“ Völkerrecht zu sprechen. Jedenfalls ist das Völkerrecht so facettenreich, dass es besser ist, auf Grund bestimmter Fallkonstellationen über die Bedeutung und die Grenzen des Völkerrechtes zu reflektieren; ebenso über das Spannungsverhältnis zwischen Völkerrecht und Demokratie. Im Lichte konkreter Fallkonstellationen wird deutlicher, wo die Probleme liegen.
Die Tendenz einiger Völkerrechtler, abstrakte Prinzipien abzuhandeln und dann mit dem völkerrechtlichen Rasenmäher in der Realität bestehende Demokratieprobleme wegzuschneiden, ist nicht sachgerecht. Das für jeden Praktiker zentrale Erkenntnisprinzip: „Der Fall schafft die Norm“ ist diesen Theoretikern des Rechts offenbar fremd.
Nationale und supranationale Gesetzgebung
Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist der Form nach ein völkerrechtliches Vertragswerk. Mit der Ratifizierung der EMRK im Jahre 1974 hat sich die Schweiz völkerrechtlich verpflichtet, die Garantien der EMRK zu respektieren. Die Schweiz ist vor vierzig Jahren, als sie die Konvention ratifizierte, davon ausgegangen, dass die schweizerische Rechtsordnung im Einklang stehe mit der Konvention. Das war vielleicht etwas naiv, jedenfalls zu optimistisch. Denn schon an der Neuenburger Tagung über die EMRK von 1975 mit einer - rückblickend gesehen – Starbesetzung (unter den Referenten befanden sich ein zukünftiger Präsident des EGMR, ein zukünftiger Präsident der bis 1998 bestehenden Strassburger Kommission, ein zukünftiger Präsident des Bundesgerichtes) – wurde auf verschiedene Schwachstellen im schweizerischen Recht hingewiesen.
Aber damals herrschte Konsens darüber, dass die EMRK nur fundamentale Menschenrechte garantiert und dass es in erster Linie Sache des nationalen Gesetzgebers ist, Menschenrechte zu konkretisieren, weshalb es keineswegs Aufgabe der Strassburger Organe sein könne, an Stelle des nationalen Gesetzgebers das Recht europaweit weiterzuentwickeln.
Europäische Leitkultur – ein Phantasiegebilde
Leider ist es nicht dabei geblieben. Institutionen haben häufig die Tendenz, den Kreis der ihnen übertragenen Aufgaben exzessiv zu interpretieren und sich im Wege der Selbstermächtigung Kompetenzen zuzulegen, die man ihnen nicht übertragen wollte. So auch die Strassburger Organe, das waren ursprünglich die Kommission und der Gerichtshof, seit dem 1. November 1998 der neue nun vollamtliche Gerichtshof. In Strassburg entwickelte sich die Idee, die EMRK „dynamisch“ auszulegen, das heisst Dinge in die Konvention hineinzulesen, die sich dort nicht finden.
Parallel dazu glaubten sich die Strassburger dazu berufen, tendenziell in gewissen Bereichen unter Rückgriff auf eine europäische Leitkultur, die allerdings nur in ihrer Phantasie besteht, eine europäische Rechtsordnung zu kreieren, die den nationalen Besonderheiten, den unterschiedlichen kulturellen Bezügen und historischen Erfahrungen der einzelnen Länder nicht mehr genügend Beachtung schenkt. So ist es heute ein beliebtes Strassburger Argument, aus rechtspolitischen Tendenzen, die sich in europäischen Staaten abzeichnen, zu schliessen, dass eine gewisse Regelung auf Grund der EMRK nun europaweit gelten müsse. Der EGMR verkennt, dass man nicht von Lissabon bis Wladiwostok, von Reykjavik bis Malta oder Tiflis alles über einen europäischen Einheitsleisten schlagen kann. Und er verkennt, dass Europa ein Europa der Vielfalt ist.
Musterbeispiele unzulässiger Strassburger Einmischung
Ob und inwieweit etwa religiöse Symbole wie Kruzifixe in staatlichen Räumen zulässig sind, worüber man in guten Treuen verschiedener Meinung sein kann, lässt sich nicht europaweit einheitlich beantworten. Gehört die Präsenz des Kruzifix’ wie in Italien zur nationalen Kultur, geht es nicht an, ein laizistisches Konzept, wie es in Frankreich entwickelt worden ist, Italien und damit auch allen anderen Staaten des Europarates durch simplen Gerichtsbeschluss überzustülpen. Das musste die Grosse Kammer des EGMR einsehen, nachdem Italien deutlich gemacht hatte, dass es seine (einstimmige!) Verurteilung durch eine Sektion von sieben Richtern niemals akzeptieren werde und sich auch andere Staaten vor allem aus dem Bereich der Orthodoxie gegen eine laizistische europäische Richterdiktatur ausgesprochen hatten.
Ein Musterbeispiel unzulässiger Einmischung in das nationale Recht ist das Namensrecht. Im Spannungsverhältnis zwischen Einheit der Familie und Individualinteressen einzelner Familienmitglieder lassen sich schon auf nationaler Ebene keine glatten Lösungen finden; erst recht lassen sich keine überzeugenden europäisch vorgegebenen vom Richter aufgefundenen und den europäischen Staaten aufoktroyierte Lösungen entwickeln. Deshalb müsste gerade der europäische Richter in diesem sensiblen Bereich sich grösste Zurückhaltung auferlegen und nicht in die nationale Gesetzgebung hineinpfuschen.
Menschenrecht auf illegale Hausbesetzung?
Was der EGMR anrichtet, wenn er es dennoch tut, hat sein Urteil von 1994 i. S. Burghartz/Schweiz gezeigt. Statt Rechtsfrieden zu stiften, hat dieses Urteil zu einem beinahe zwanzig Jahre andauernden Streit um das „richtige“ Namensrecht geführt. Europagesetzgebung durch richterliche Einzelfallentscheidung ist eben viel problematischer, als viele Strassburger Richter denken. Und die unter dem Druck der Strassburger Rechtsprechung schliesslich verabschiedete Neuregelung des Namensrechts, in Kraft seit dem 1. Januar 2013, ist eine halbbatzige Regelung, weil das Gesetz nicht verbindlich festlegt, welchen Familiennamen das Kind trägt, wenn sich die Eltern dazu bei der Eheschliessung nicht verbindlich geäussert haben (vgl. Art. 160 Abs. 3 ZGB).
Es gibt andere Urteile des EGMR, die im Ergebnis die Kompetenz des nationalen Gesetzgebers aushebeln. So sagt das schweizerische Recht: Illegale Vereine sind auf Klage hin aufzulösen (Art. 78 ZGB). Im Genfer Hausbesetzerfall haben dies die Schweizer Gerichte in Anwendung des gültig auf demokratische Weise beschlossenen Gesetzes getan. Der EGMR verurteilt daraufhin die Schweiz wegen Menschenrechtsverletzung. Der Sache nach hat er damit ein „Menschenrecht auf Fortsetzung illegaler Hausbesetzungen“ (!) geschaffen und zugleich das demokratisch beschlossene Gesetz teilweise aufgehoben.
EGMR wichtig für elementare Menschenrechte
Die hier angesprochene Problematik berührt weniger die Frage des Vorrangs des Völkerrechts als vielmehr das Problem der Konkretisierung von völkerrechtlich garantierten Menschenrechten, hier durch den EGMR. Im Bereiche elementarer Menschenrechte hat die Tätigkeit des EGMR seine volle Berechtigung.
Dazu ein Beispiel: Im Fall El-Masri wurde der Sache nach der CIA wegen Entführung und Folter verurteilt, ein Fall von grundlegender Bedeutung, da das Opfer in den USA keinen Rechtsschutz gefunden hatte; der Supreme Court war zu feige, sich der Sache anzunehmen.
Nach der völkerrechtwidrigen Annexion der Krim durch Russland und den in diesem Zusammenhang begangenen Verbrechen könnte auf den EGMR eine Klagewelle zukommen, bei denen sich erneut zeigen wird, wie wichtig es ist, dass sich der EGMR auf seinen angestammten Bereich, den Schutz elementarer Menschenrechte, beschränkt. Dasselbe gilt, wenn sich bestätigen sollte, dass der russische Geheimdienst im Februar dieses Jahres an der Ermordung von hundert Menschen auf dem Maidan in Kiew beteiligt war; desgleichen, wenn sich solches in Bezug auf die Vorfälle von Odessa vom 2. Mai dieses Jahres bestätigen sollte, bei denen über vierzig Menschen unter teilweise bis heute ungeklärten Umständen ums Leben gekommen sind.
Kurzsichtige Radikalkritiker der SVP
Mit diesen letzten Beispielen wird zugleich deutlich, wie wichtig das Völkerrecht gerade für kleinere und schwächere Länder und ihre Bewohner sein kann. Einen umfassenden weltweiten Menschenrechtsschutz hat es früher nicht gegeben. Die generelle Infragestellung des Völkerrechts, wie sie teilweise von Seiten der SVP vorgenommen wird, ist deshalb ebenso kurzsichtig wie ungerechtfertigt. Allerdings zeigen diese Beispiele auch, wo der eigentliche Aufgabenbereich des EGMR liegt, den niemand in Frage stellen will und bei dem sich auch keine Probleme mit dem Demokratieprinzip ergeben.
Soweit der EGMR sich unter dem Vorwand, er konkretisiere nur die Menschenrechte, in die nationale Gesetzgebung einmischt, ist festzuhalten: Rechtsnormen müssen gesellschaftlich abgesichert sein, damit sie Anerkennung finden. Sie dürfen nicht von einem kleinen Richtergremium einem Land unter Umgehung des ordentlichen Gesetzgebungsprozesses aufoktroyiert werden. Änderungen im Familienrecht, im Adoptionsrecht, im Bereich der künstlichen Fortpflanzung bis hin zur Leihmutterschaft betreffen zentrale Fragen der Gesellschaft. In der Schweiz werden solche Fragen nach breit abgestützter Diskussion entschieden, teilweise sogar nach einer Referendumsabstimmung. Auch das Zweikammersystem trägt dazu bei, dass gesetzgeberische Entscheidungen nicht vorschnell übers Knie gebrochen werden.
Welch ein Unterschied, wenn in Strassburg zu solchen Fragen unter dem Deckmantel der Rechtsprechung von Richtern, denen in heiklen Neulandfragen oft die erforderliche Sachkunde fehlt, in Wirklichkeit das Recht quasi-gesetzgeberisch weiterentwickelt wird. Oft handelt nur ein kleines Gremium von sieben Richtern – eine Mehrheit von vier Richtern genügt also, wie etwa letztes Jahr, wo eine solche kleine Mehrheit befand, das schweizerische Recht betreffend Sterbehilfe sei nicht hinreichend bestimmt und darin sogar eine Menschenrechtsverletzung erblickte. Dass in der Schweiz Fragen der Sterbehilfe seit Jahren intensiv diskutiert werden, sich dabei aber auch Grenzen der Möglichkeit, in einem so heiklen Bereich zu legiferieren, gezeigt haben, wurde dabei übergangen.
Volksinitiativen und Völkerrecht
Unter den Tisch gewischt werden oft zentrale Gesichtspunkte. Es gibt keine europäische Öffentlichleit; eine solche wäre aber Voraussetzung für einen echten Gesetzgebungsprozess. Auf nationaler Ebene gibt es als Gegengewicht zur Rechtsprechung einen Gesetzgeber, der eine als problematisch empfundene Rechtsprechung korrigieren kann. Auf Strassburger Ebene fehlt eine solche Balance.
Volksinitiativen stehen oft in einem Spannungsverhältnis zum Völkerrecht. Doch auch hier ist Vorsicht geboten. Nach der Annahme der Minarettverbots-Initiative wurde ebenso lauthals wie vorschnell posaunt, das Verbot sei unvereinbar mit höherrangigem Völkerrecht, nämlich mit der durch die EMRK gewährleisteten Religionsfreiheit. Nimmt man sich die Mühe, diese Frage vorurteilslos zu analysieren, zeigt sich, dass dieses Verdikt auf wackeligen Füssen steht. Die innere Religionsfreiheit, das Recht zu glauben, was man will, ist nicht beeinträchtigt; ebenso wenig die äussere Religionsfreiheit, da der Bau von Moscheen nicht verboten ist. Eingeschränkt durch das Minarettverbot ist die religiöse Propagandafreiheit („unsere Minarette sind unsere Bajonette“) und das rechtfertigt sich, wenn es dem religiösen Frieden dient.
Korrigierender Eingriffe durch das Völkerrecht
Wesentlich problematischer ist da die Ausschaffungsinitiative, wie folgendes Beispiel aus meiner früheren Tätigkeit am Bundesgericht zeigt. Ein Österreicher, 5o Jahre alt, in der Schweiz geboren und durch und durch verschweizert, hatte sich nie einbürgern lassen; er tötet in einer ehelichen Auseinandersetzung seine Frau. Weshalb muss heute auf Grund der Ausschaffungsinitiative ein solcher Ausländer zusätzlich zur verdienten Freiheitsstrafe zwingend auf Jahre hinaus aus der Schweiz, in der er verwurzelt ist, verwiesen werden ? Für eine Tat, die sich durch nichts unterscheidet von entsprechenden Taten, wie sie, leider, gelegentlich auch von Schweizern begangen werden ?
Es ist kein Zufall, dass im Anschluss an die Annahme von Initiativen, die jede Einzelfallgerechtigkeit verbieten, die Frage aufgeworfen wird, ob in Fällen krasser Unverhältnismässigkeit unter Rückgriff auf höherrangiges Völkerrecht korrigierend eingegriffen werden darf respektive muss. Die Frage kann hier nicht ausdiskutiert werden. Aber sie zeigt eines: Gelegentlich besteht der Bedarf, unter Rückgriff auf Völkerrecht eine krass ungerechte Regelung etwas abzuschwächen.
Konfliktfälle innerhalb des Völkerrechts
Dass es, wie einleitend bereits bemerkt, „das“ Völkerrecht nicht gibt, zeigt auch folgendes: Der Sicherheitsrat kann Sanktionen aussprechen, deren Durchsetzung im Widerspruch zur EMRK stehen kann. Dann liegt ein Konflikt innerhalb des Völkerrechtes vor; denn sowohl Sanktionen des Sicherheitsrates wie die EMRK gründen sich auf Völkerrecht. Was hat in einer solchen Konstellation Vorrang ?
Ein anderes Problemfeld: Die Meinungsäusserungsfreiheit ist durch EMRK völkerrechtlich abgesichert. Aber auch das Verbot der Leugnung von Genozid ist durch eine Konvention völkerrechtlich garantiert. Was geschieht nun im Konfliktsfall? Das ist soeben im Fall des Türken, der den Genozid an den Armeniern leugnete und deshalb in der Schweiz bestraft wurde, deutlich geworden. Die Schweiz hat in Befolgung der Rassendiskriminierungskonvention bestraft; der EGMR sah darin eine Verletzung der EMRK (Meinungsäusserungsfreiheit).
Schon früher geschah Ähnliches in einem dänischen Fall. Hier wird deutlich, wie der EGMR auf die in der EMRK garantierten Rechte fokussiert und dabei die Tragweite anderer Gesichtspunkte, wie sie in der genannten Konvention enthalten sind, übergeht. Das umgekehrte Phänomen besteht, wenn man spezielle Organe wie etwa eine Antirassismuskommission schafft; hier besteht die Gefahr, dass eine solche Kommission in unreflektierte Eigendynamik zu einseitig überall rassistische Tendenzen zu erspähen glaubt.
Ein vielschichtiges Phänomen
Völkerrecht ist – das hat die vorliegende Betrachtung gezeigt – ein vielschichtiges Phänomen. Völkerrechtler, denen der Praxisbezug fehlt, sollten sich davor hüten, sich in einem völkerrechtstheoretischen Irrgarten zu verlaufen. Umgekehrt sollte man sich gerade in einer bodenständigen Demokratie wie der Schweiz bewusst sein, wie wichtig das Völkerrecht sein kann für den Weltfrieden, für das Zusammenleben in der Staatengemeinschaft und damit gerade für einen Kleinstaat wie die Eidgenossenschaft. Allerdings sollte offen über das Phänomen der Internationalisierung des Rechts nachgedacht werden und über das damit verbundene Problem der Entdemokratisierung nationaler Rechtsordnungen.
Prof. Martin Schubarth, Altbundesrichter; www.martinschubarth.ch