Die große Flut, die Bosnien und Herzegowina sowie Serbien Mitte Mai heimsuchte, war das schlimmste Hochwasser in der Region seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vor 120 Jahren. Rund 40 Menschen verloren ihr Leben, Tausende flüchteten aus den überfluteten Landstrichen.
Doch die Menschen fürchteten nicht nur die Wassermassen. Die Wälder um Sarajevo sind immer noch voller Minen, die dort während der Belagerung der Stadt in den 1990er Jahren gelegt wurden. Insgesamt, so schätzen Fachleute, sind noch etwa 120`000 Landminen in den Wäldern Bosniens vergraben. Viele von ihnen schwemmten die Regenfälle nun Flüsse und Berghänge hinab. Zudem machte die Flut eine äußerst gefährliche Arbeit zunichte: Einige der bekannten Minenfelder hatte man in der Vergangenheit mit Warnzeichen gekennzeichnet, um so Spaziergänger und Holzsammler zu alarmieren. Diese Markierungen sind den Wassermaßen ebenfalls zum Opfer gefallen.
Manche Bürger in Sarajevo sagen, das ganze Land sei ein politisches Minenfeld, dessen Sprengkraft auch knapp zwei Jahrzehnte nach Ende des Krieges nicht entschärft sei.
Die Belagerung Sarajevos
Nach Beweisen für diese These muss man in Sarajevo nicht lange suchen. Selbst an der Interpretation der Ereignisse vom 28. Juni 1914, die sich nun zum 100. Mal jähren, entzünden sich die nationalen Leidenschaften. Damals wurde der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Frau Sophie Chotek, der Herzogin von Hohenberg, durch den bosnischen Serben Gavrilo Princip ermordet. Serben wie etwa Radovan Karadzic und Ratko Mladic, die Sarajevo von 1992 bis 1996 belagerten und dabei etwa 11´000 Menschen, darunter fast 1600 Kinder töteten, sehen in Gavrilo Princip einen Nationalhelden. (1) An besonders tapfere serbische Kämpfer verteilten sie sogenannte Gavrilo-Princip-Medaillen. Karadzic wollte Sarajevo sogar in „Princip-Stadt“ umbenennen.
Die heutigen bosniakischen Stadtväter dagegen haben eine andere Sicht. Der Brücke, an der das Prinzenpaar ermordet wurde, gaben sie ihren alten Namen zurück: Lateinerbrücke. In Titos Jugoslawien trug sie noch den Namen des Attentäters. Das kleine in der Stadtmitte gelegene Museum, das im alten Jugoslawien nach Gavrilo Princip benannt war, ist nun ein Teil des Stadtmuseums. Dieses zeigt das Attentat, verherrlicht den Attentäter aber nicht.
Staatsaufbau entlang ethnischer Bruchlinien
Der Dissens über die Vergangenheit, der entlang der ethnischen Bruchlinien des Landes verläuft, spiegelt sich auch im Staatsaufbau wider. Dieser vertieft die ethnischen Trennlinien sogar noch, anstatt sie zu überwinden. Geschaffen wurde dieses Konglomerat auf der Konferenz im amerikanischen Dayton im Jahre 1995; der damals unterzeichnete Vertrag trug dazu bei, den Krieg in Bosnien zu beenden.
Heute gibt es innerhalb des Staates Bosnien und Herzegowina zwei Teilstaaten: Der erste ist die „Föderation von Bosnien und Herzegowina“ mit Sitz in Sarajevo. In ihm leben Kroaten und Bosniaken, die sich im Bürgerkrieg zeitweise bekämpft haben. Die Föderation ist aufgeteilt in zehn Kantone mit jeweils eigenem Parlament und eigener Regierung. Der zweite Teilstaat ist die „Republika Srpska“ – also die „Serbische Republik“ – mit Sitz in Banja Luka. Diese serbisch-bosnische Teilrepublik ist nicht zu verwechseln mit dem eigenständigen Staat „Republik Serbien“ („Republika Srbija“) mit ihrer Hauptstadt Belgrad. Von den insgesamt etwa 3,8 Millionen Einwohnern Bosniens sind etwa 48 Prozent Bosniaken, 37 Prozent Serben und 14 Prozent Kroaten.
Der multiethnische Staat
Über den beiden bosnischen Teilrepubliken steht die Regierung des Gesamtstaates Bosnien und Herzegowina, welche dieses Konglomerat regiert – oder regieren soll. Das Staatsgebilde leistet sich insgesamt 160 Ministerien. In den Schulen sind manche Fächer, wie etwa Geschichte und Sprache, Sache der ethnischen Gruppen; einen gemeinsamen Unterricht in diesen Fächern gibt es oft nicht.
Damit aber nicht genug der Komplexität. Denn auch die USA und die EU sind in Sarajevo mit ihrem „Hohen Repräsentanten“ vertreten. Dieser verfügt über ein Vetorecht gegen sämtliche politischen Entscheidungen, die in Bosnien-Herzegowina getroffen werden. Derzeit amtiert der Österreicher Valentin Inzko. Zuvor gab es sechs dieser „Hohen Repräsentanten“ – unter anderen den Schweden Carl Bildt, den Briten Paddy Ashdown und den deutschen Christian Schwarz-Schilling. Besonders Paddy Ashdown, der von 2002 bis 2006 regierte, scheute sich nicht, bosnische Funktionäre aus ihren Ämtern zu entlassen, wenn diese politische Entscheidungen blockierten. Inzwischen aber hat die sogenannte Internationale Gemeinschaft eine andere Strategie eingeschlagen: Seit 2007 fordert sie von den Volksgruppen, sich untereinander zu einigen.
Dass jedoch stellt eine große Herausforderung für den multiethnischen Staat dar. Viele halten Bosnien und Herzegowina in seiner derzeitigen Struktur gar für unregierbar.
Ethnokratie, Nepotismus und Klientelwirtschaft
So dürfen zum einen nur Serben, Kroaten und Bosniaken für öffentliche Ämter kandidieren. „Die Anderen“, wie sie genannt werden, – also Juden, Sinti, Roma und weitere Minderheiten – sind davon ausgeschlossen. Gegen diese Diskriminierung klagten ein Roma und ein Jude vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. In dem nach den Klägern benannten „SeidicFinci-Urteil“ stellte das Gericht 2009 fest, dass die bosnische Verfassung mit den allgemeinen Menschenrechten nicht vereinbar ist.
Zum anderen werden öffentliche Ämter nach ethnischen Quoten besetzt. Der durch die Verfassung festgelegte Proporz ist „ein zentrales Kriterium bei der Verteilung von Posten in den staatlichen Institutionen“ und verfestigt „die nationalen Konfliktlinien im politischen Entscheidungsprozess“. (2) Mehr noch: Auf diese Weise werden Patronage und Korruption gefördert, und die gesamte Regierungsstruktur führt zu Ethnokratie, Nepotismus und Klientelwirtschaft. Wie explosiv die Lage ist, zeigen die Unruhen vom Februar 2014, als Tausende Bürger in Tuzla, Sarajevo und anderen Orten gegen Wirtschaftsmisere, Korruption und Bildungsnotstand protestierten.
Wladimir Putin oder die Renaissance des Nationalismus
So stellt – wie vor hundert Jahren – der extreme Nationalismus nach wie vor das Grundübel auf dem Balkan dar. Allerdings unterscheidet sich die Lage im Vergleich zu 1914 in einem wesentlichen Punkt. Spricht man etwa mit Professor Vahidin Preljevic, einem Germanisten von der Universität Sarajevo, dann hört man eine höchst bedeutsame, leider viel zu wenig erörterte Lehre, die aus der Geschichte zu ziehen wäre. Angesichts der jugoslawischen Sezessionskriege der 1990er Jahre fordert Preljevic eine Neubewertung des Nationalismus. Im Jahre 1914 sei der Nationalismus eine legitime Bewegung gewesen, weil sich etwa Serben, Kroaten und Ungarn aus der als „Völkergefängnis“ empfundenen Habsburger Monarchie befreien wollten.
Heute aber, ein Jahrhundert später, überwiege das zerstörerische Potential des Nationalismus. Der Zerfall von Titos Jugoslawien, das immerhin versucht habe, den Nationalismus zu bändigen, sei das wohl augenfälligste Beispiel für dessen destruktive Kraft. Mit großer Sorge müsse man deshalb beobachten, wie Wladimir Putin in der Ukraine auf die nationalistische Karte setze und dort den russischen Bevölkerungsteil gegen die Zentralregierung in Kiew ausspiele, um eigene, innenpolitische Ziele zu erreichen.
Der Irrtum Kohls und Genschers
Tatsächlich verspüren Serben und Kroaten in Bosnien-Herzegowina Auftrieb. Die Serben in der bosnischen Teilrepublik der „Republika Srpska“ sehen sich in ihrem Wunsch bestärkt, sich Serbien anzuschließen. Und die Kroaten fordern schon lange einen eigenen Kanton für sich – separat von den Bosniaken, mit denen sie derzeit zusammenleben müssen.
Ein unwürdiges politisches Präludium zu dieser Renaissance des Nationalismus spielten in den Wendejahren nach 1989 Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP). Fälschlicherweise sahen sie im Freiheitswillen der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie der DDR-Deutschen dieselbe Ursache wie im Unabhängigkeitsstreben der jugoslawischen politischen Klassen.
Allerdings unterschieden sich die Motive der Balten erheblich von denen der Parteibürokratien der jugoslawischen Einzelrepubliken. Esten, Letten und Litauer (und natürlich auch DDR-Deutsche) waren über Jahrzehnte von der Sowjetunion unterdrückt worden. Ihre Forderung nach Selbstständigkeit war also legitim. Im damaligen Jugoslawien aber waren die Völker keineswegs von einer anderen Macht geknechtet – und der Unterdrückungsapparat der Kommunistischen Partei befand sich bereits im Siechtum. Serben und Kroaten, bzw. deren Führer, kämpften nicht gegen eine äußere Macht, vielmehr erhoben sie die Waffen gegeneinander, um größtmöglichen Einfluss im Land zu gewinnen. Infolgedessen kam es zum Bürgerkrieg.
In dieser Krise setzten Kohl und Genscher fatalerweise auf eine Konfliktpartei – auf die Kroaten. Schlimmer noch, sie unterstützten – wohl in Unkenntnis der Persönlichkeit ihres neuen politischen Schützlings – insbesondere den kroatischen Führer Franjo Tudjman, einen ausgewiesenen extremen Nationalisten, Faschisten und Antisemiten, der noch in den 90er Jahren den Holocaust relativierte. Nichtsdestotrotz repräsentierten Tudjman und seine Kroaten für Kohl und Genscher den „Westen“, während sie Serbien zum bösen, russisch beeinflussten Osten zählten. (3)
Der Zerfall Jugoslawiens
Demnach hat das Pochen auf der Ethnie als Basis des politischen Handelns – zusammen mit dem alten konfrontativen Ost-West-Denken – zum Zerfall Jugoslawiens geführt und die bis heute anhaltende Konfrontation zwischen den Völkern verstärkt.
Das Auseinanderbrechen des südslawischen Staates war wahrscheinlich nicht zu verhindern. Doch das Spielen der ethnischen und extrem nationalistischen Karte hat den Zerfall so gestaltet, dass daraus eine Art geostrategischer Gau wurde. Denn während Titos Jugoslawien in seinen besseren Zeiten ein einheitlicher Block war, der sich gegen die Einflussnahme von Ost wie West zu schützen wusste und in dem außenpolitische Eskapaden einzelner Republiken unmöglich waren, ist jetzt dem nationalistischem Machtspiel Tür und Tor geöffnet.
So ließ es sich beispielsweise Milorad Dodik, der Präsident der bosnischen Teilrepublik „Republika Srpska“ nicht nehmen, Anfang des Jahres in Moskau den Preis der „Internationalen Gesellschaftlichen Stiftung für Einigkeit der orthodoxen Völker“ entgegenzunehmen. Dieser wird für die „Festigung und Förderung der christlichen Werte im Leben der Gesellschaft“ verliehen; zu den vorherigen Preisträgern gehörten neben anderen Wladimir Putin und Dmitri Medwedjew. In einem Interview sagte Dodik: „Die Republika Srpska hat eine langfristige Strategie für den Kampf um ihre Rechte gewählt. Eines Tages werden wir unbedingt eine Volksabstimmung durchführen. Aber dieser Moment muss sehr sorgfältig gewählt werden.“ Im Klartext: Falls es, wie etwa auf der Krim, auch in Bosnien einen „günstigen“ Moment geben sollte, wird die Republika Srpska nicht zögern, sich vom Gesamtstaat Bosnien und Herzegowina abzuspalten. Wladimir Putin wäre wohl der erste, der, nach der Logik seiner Krimpolitik, einen solchen Schritt anerkennen würde.
Auch andere Mächte mischen in Bosnien-Herzegowina mit. Saudi Arabien etwa baute mit großem Aufwand die König-Fahd-Moschee. Nicht unwahrscheinlich, dass dort die wahhabitische, also die strikte puritanische Variante des Islam gepredigt wird. Der vom Emir von Katar finanzierte internationale Nachrichtensender AlDschasira eröffnete sein Büro für das ehemalige Jugoslawien nicht etwa in Belgrad oder Zagreb – sondern in Sarajevo. Und die Türkei, mit Sarajevo durch mindestens drei tägliche Direktflüge von Istanbul aus verbunden, versucht, unter dem Deckmantel eines „Neo-Osmanismus“ ihren Einfluss zu vergrößern.
Der Nachhall der Schüsse von Sarajevo
In der 1975 verabschiedeten Schlussakte von Helsinki der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE, heute OSZE) verpflichteten sich alle europäischen Staaten dazu, die Grenzen in Europa nur friedlich zu verändern. Es waren die jugoslawischen Nachfolgestaaten, die – gefördert von einer durch Unkenntnis der Region geprägten Politik der europäischen Nachbarn – dieses Prinzip erstmals verletzten. Zwei Jahrzehnte später verstieß Putins Russland abermals gegen den Grundsatz der militärischen Unverletzbarkeit aller europäischen Grenzen. Damals wie heute diente die zerstörerische Variante des Nationalismus als ideologische Basis. Und beide Male nährte die labile innere Lage der Staaten diesen extremen Nationalismus. Nun aber manifestieren sich, wie die Europawahlen vom 25. Mai zeigen, starke nationalistische Tendenzen auch in den europäischen Kernländern. Diese gefährliche Entwicklung wird die Nationalisten und Chauvinisten auf dem Balkan und in der Ukraine vermutlich noch einmal stärken.
Die Schüsse auf den österreichischen Thronfolger von Sarajevo am 28. Juni 1914 hallen bis heute nach – vor allem auf dem Balkan. Es wird noch viel Zeit brauchen, bis dort die letzten Minen geräumt sind und ein dauerhaftes friedliches Zusammenleben wieder möglich ist.
(1) Mit 1425 Tagen dauerte die Belagerung Sarajevos länger als jene Leningrads durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg.
(2) Beleg Studie Konrad-Adenauer Stiftung; Blätter für deutsche und internationale Politik X/2014
(3) Vgl. dazu Ulrich Schiller, Deutschland und „seine“ Kroaten: Vom Ustasa-Faschismus zu Tudjmans Nationalismus, Bremen 2009.
(4) Vgl. http://german.ruvr.ru, 14.3.2014
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der "Blätter für deutsche und internationale Politik", Berlin, Juliausgabe 2014