Auch Binsenweisheiten bedürfen ab und zu der Wiederholung, um sich im allgemeinen Bewusstsein zu verankern. Dazu gehört: Deutschland besitzt so gut wie keine Rohstoffe. Keine Erze, kein Öl und kein Gas. Auch die Kohle, Grundlage des Wiederaufbaus und der Wirtschaft in den ersten zwanzig Nachkriegsjahren, hat als Energieträger keine Zukunft mehr. Das Land lebt jedoch vor allem von der Produktion und dem Export hoch- bis höchstwertiger Güter. Deshalb besteht der „deutsche Rohstoff“ allein aus Bildung, Ausbildung, Wissen, Erfindungsgeist, Innovationsfähigkeit, Fleiss und Mut.
„Weiche Werte“
Das sind alles so genannte „weiche Werte". Zusammengefasst bedeutet das: Für die Bewahrung von Wohlstand und Wohlergehen sowie die Sicherung der sozialen Leistungen ist Bildung das A und O. Dies besonders in einer Welt, wo in den Laboratorien und Entwicklungszentren rund um den Globus bereits hektisch an der Technik in Richtung Künstlicher Intelligenz (KI) gearbeitet wird. Wer dabei nicht mithalten kann, hat mit Blick auf die Zukunft keine guten Karten. Es sind, vor diesem Hintergrund, alarmierende Zahlen, die jüngst von der Unesco – der UN-Organisation für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation – vorgelegt wurden. Danach können weltweit etwa 600 Millionen Kinder und Jugendliche weder lesen noch schreiben.
Und im Hightech-Land Deutschland? Alles paletti? Von wegen! Im angeblichen Land der Dichter und Denker leben ebenfalls rund sieben Millionen Analphabeten. Zehntausende Pennäler verlassen jährlich ohne Abschluss ihre Schulen. Zudem klagen viele Handwerksbetriebe über ausbildungsunfähige Lehrlinge, weil diese oftmals nicht mal die Grundbegriffe der Mathematik oder des Schreibens beherrschten. Lieb Vaterland, magst ruhig sein? Überhaupt nicht – das liebe Vaterland macht sich zunehmend Sorgen. Zumindest sollte es sich Sorgen machen.
Keine Psychoschäden
Und warum? Na, nehmen wir als Beispiel die Klagen des Vorsitzenden des nordrhein-westfälischen Philologenverbands, Peter Silbernagel, und der in Wiesbaden ansässigen „Stiftung Handschrift“, dass immer weniger Schüler in der Lage seien, lesbar zu schreiben. Dies bis zur Oberstufe sogar zunehmend. Klassenarbeiten könnten oft nicht zensiert werden, weil sie unleserlich seien. Die Klage vernehmen wir wohl. Aber ihr Inhalt kommt doch nicht überraschend. Schliesslich ist das Problem bereits seit Jahren bekannt. Genau wie die abnehmende Fähigkeit des Lesens und den Kopfrechnens.
Woran das liegt? Ganz gewiss nicht auch noch an der Feinstaubbelastung oder dem CO2-Ausstoss der Autos, sondern schlicht und einfach an den bereits seit Jahrzehnten zulasten der Kinder und Heranwachsenden betriebenen ideologischen Experimenten der Bildungstheoretiker in allen Parteien und damit auch in den Kultusministerien der Bundesländer. Früher bezeichnete man eine schlechte Handschrift gemeinhin als „Klaue“, die – zumindest in den Grundschulen – dann mit der entsprechenden Benotung unter der Rubrik „Schönschreiben“ in den Zeugnissen auftauchte. Was, im Übrigen, bei den Betroffenen in aller Regel keineswegs zu bleibenden Psychoschäden, sondern meistens zu grösseren Anstrengungen führte.
Handschrift und gesprochene Sprache
Denn die Benotung sollte die Schüler ja nicht quälen. Sie folgte vielmehr dem Wissen, dass Lesen und Schreiben wichtige Kulturgüter sind und (je flüssiger, desto mehr) die Merk- und damit die Lernfähigkeit stärken. Natürlich unterliegen auch Lehren, Lernen, Bildungsinhalte und -methoden den Veränderungen von Zeit und Gesellschaft. Aber (ähnlich wie bei der Justiz) sollten die notwendigen Anpassungen klugerweise immer in Schrittchen und mit der Möglichkeit erfolgen, falls notwendig immer korrigierend nachsteuern zu können. Auf keinen Fall jedoch so, wie es einstmals die Hessischen Rahmenrichtlinien des seinerzeitigen Kultusministers von Friedeburg exerzierten – dass nämlich sogar Hauptfächer wie Deutsch, Mathe oder Englisch einfach abgewählt werden konnten. Lag die Schuld dann bei den Schülern, dass ihr Abitur von vielen (hauptsächlich ausländischen) Universitäten nicht anerkannt wurde? Nein, es lag am System.
Gut, diese Richtlinien wurden mittlerweile wieder abgeschafft. Doch dass mit offensichtlich am grünen Tisch erdachten Lehr- und Lernvorgaben Lebens- und Berufsträume nachhaltig ge- und mitunter sogar zerstört werden, das hat leider bis heute nicht zu jenem Umdenken geführt, das jetzt von der „Stiftung Handschrift“ geradezu massiv gefordert wird. Im Gegenteil. Wer die Diskussion um Wert und Unwert des Erlernens von „Schreiben nach Gehör“ verfolgt und Ergebnisse dieser Methodik gesehen hat, bekommt Gänsehaut und graue Haare. Nicht viel besser ist es bestellt beim Streit um die unterschiedlichen Schreibtechniken. Wer nie eine fliessende Handschrift gelernt hat, sollte sich nicht wundern, wenn auch seine Sprache abgehackt klingt.
Geschlechtsneutrale Anrede
Sollte also lieb Vaterland jetzt aufgewacht sein und begonnen haben, sich zu sorgen, so sei ihm gesagt, dass wir noch keineswegs am Ende sind. Gerade in diesen Tagen nämlich weht durch Niedersachsens Landeshauptstadt Hannover ein neuer Geist des gesellschaftlichen Fortschritts. Und wenn nicht des Fortschritts, so doch ein Geist der Zeit. Oder vielleicht doch nur das Gespinst einer bestimmten Gruppe? Kurzum: In der Metropole an der Leine gilt für die Verwaltung ab sofort die Anweisung, so weit wie irgendwie anwendbar eine geschlechtsneutrale Sprache und Anrede zu verwenden. Wobei Letztere – also „Herr“ oder „Frau“ – möglichst ganz vermieden werden sollte. Aus Lehrern werden Lehrende, aus Wählern Wählende, aus dem bisherigen Rednerpult entsteht ein Redepult. Wahrscheinlich kommen nur Ewiggestrige auf die Frage, wann jemals ein Pult geredet hat.
Schwierig könnte sich vielleicht die Sache mit den Hannoveranern gestalten. Schliesslich vereint dieser Begriff unter seinem Schirm sowohl die Bewohner der Stadt als auch eine bekannte Pferderasse. Der Sprachreform-Logik folgend, müssten sich die Bürger von nun an eigentlich Hannoverende (analog Lehrende, Wählende usw.) nennen. Sprachpuristische Kleingeister mögen diese bahnbrechende Kulturreform mit möglicherweise gesellschaftspolitisch revolutionären Folgen für überflüssig halten – vielleicht sogar für unsinnig. Aber dann sind an ihnen ganz gewiss die denkwürdigen Ergebnisse der mittlerweile zahlreichen (von den Kultusministerien akzeptierten und damit durch die Steuerzahler finanzierten) Universitäts-Einrichtungen zur Gender-, also Geschlechterforschung entgangen. Nicht zuletzt deren Einfluss auf die Schriftsprache.
Um den Schlaf gebracht
Dass „männlich“ und "weiblich“ als alleinige Geschlechtsbeschreibung ausgedient haben, sollte sich inzwischen herumgesprochen haben. Ausserdem wurde ja erst unlängst noch durch das Bundesverfassungsgericht höchst richterlich mit der Erlaubnis bestätigt, dass mit „divers“ auch noch ein drittes, wie auch immer ausgestaltetes, Geschlecht im Ausweis eingetragen werden kann. Für dessen Bezeichnung und Beschreibung stellt die erwähnte Gender-Forschung bereits mindestens 60 Angebote zur Auswahl. Einwänden und Kritik gegen solche Art gewollter Sprachlenkung wird in aller Regel mit der Behauptung begegnet, der Sprachwandel sei in Wirklichkeit natürlich völlig ungeplant; er ergäbe sich vielmehr, ähnlich wie ein Trampelpfad, ganz von selbst.
Das zwingt natürlich zu vertieftem Nachdenken. War man mit seiner Besorgnis wegen der zunehmenden Lese- und Schreibschwächen auf dem Holzweg? Liegen Deutschlands Zukunft, seine wirtschaftliche, technologische und politische Position im globalen Geschehen tatsächlich nicht auf den Gebieten der Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technik? Sondern in Wirklichkeit in der Antwort auf die Fragen, auf wie viele „diverse“ Geschlechtsvariationen sich Staat und Gesellschaft einzustellen haben und wie diese sprachlich zu behandeln sind? Wichtige Fragen, die einen schon um den Schlaf bringen können. Da kann auch lieb Vaterland überhaupt nicht ruhig sein.