Das sind zwar Umfragen, die angezweifelt wurden, die aber auf jeden Fall eine Tendenz bestätigen: Seit Marine Le Pen Anfang Januar von Vater Jean Marie die Parteiführung der rechtsextremen Nationalen Front übernommen hat, sind die Sympathiewerte für sie beständig gestiegen. Und sie selbst rückt immer stärker ins Zentrum der französischen Politik.
Letzten Dienstag Nachmittag - Sitzung der Pariser Nationalversammlung. Ein Grosskampftag im so genannten Vier-Säulen–Saal, der ausgewiesenen Zone im französischen Parlament, in der sich Abgeordnete und Journalisten begegnen können. Kameras knallen aneinander, Mikrophonstangen verhaken sich. Jeder soll und viele der Abgeordneten wollen die zwei Umfragen kommentieren, die Frankreichs Politiker aus dem Winterschlaf gerissen und regelrecht aufgescheucht haben.
Nach diesen Umfragen würde für den Fall, dass IWF Chef Dominique Strauss Kahn im Früjahr 2012 bei den Präsidentschaftswahlen für die Sozialisten kandidiert, Marine Le Pen im 1. Durchgang nicht nur 24 Prozent der Stimmen bekommen, sondern der amtierende Präsident, Nicolas Sarkozy sogar an dritter Stelle landen und damit nicht in die entscheidende Stichwahl kommen.
Im Pulk von Abgeordneten, die sich vor die Mikrophone drängten, war auch eine Hinterbänklerin der konservativen Präsidentenpartei UMP, die im adretten Markenkostüm die Worte sprach: „Die Zeit der Reden ist vorbei, man muss entscheiden und handeln. Marine Le Pen hat keinerlei Lösungen anzubieten. Wir müssen zeigen, dass wir Lösungen haben. Und wir müssen die Franzosen beruhigen hinsichtlich dieser Bevölkerungen, die vom Mittelmeer her kommen und einwandern wollen. Schicken wir sie doch auf ihre Boote zurück."
Noch vor zehn Jahren wären solche Worte nur aus dem Mund eines Front-Nationalpolitikers denkbar gewesen. Heute sind sie der bisherige Höhepunkt im Hinterherhächeln der traditionellen Konservativen hinter den Positionen und markigen Sprüchen der Le-Pen-Partei zu Themen wie Immigration, Ausländer und Islam. Marine Le Pen schafft es jetzt schon seit Wochen, die innenpolitische Agenda Frankreichs und die Themen zu bestimmen, die in diesem Land diskutiert werden. Und niemand scheint in der Lage zu sein, diesem Zustand ein Ende zu bereiten.
Frankreichs Sozialisten hilflos
Und die Sozialisten , die dieses Déjà-Vu Erlebniss, diese schmerzvolle Erinnerung an den traumatischen 21. April 2002 ja ganz besonders betrifft? Als damals ihr Kandidat, Lionel Jospin im 1. Durchgang der Präsidentschaftswahlen weniger Stimmen bekam als Jean Marie Le Pen und nicht mal in die Stichwahl kam? Die sozialistischen Abgeordneten und die Spitzen der Partei sagen, wenn sie nicht einfach Präsident Sarkozy für diese Situation verantwortlich machen, so allgemeingültige Dinge wie: Man müsse nun endlich Antworten geben auf diesen Hilfeschrei einer verzweifelten Bevölkerung, der sich hinter diesen Umfrageergebnissen verberge.
Die sozialistische Partei Frankreichs hat die Ohrfeige vom April 2002 im Grunde immer noch nicht verarbeitet und schon gar nicht aufgearbeitet. Und da sie das nicht getan hat, ist sie, knapp 9 Jahre später, erneut mit demselben Problem wie damals konfrontiert: Die Unterprivilegierten, die schlecht Verdienenden, die Arbeiter und kleinen Angestellten in Frankreich haben dieser sozialistischen Partei schon seit 10 Jahren den Rücken gekehrt und sie hat es seitdem nicht geschafft - man könnte auch sagen: sie hat nichts dafür getan - die Stimmen dieser Bevölkerungsgruppen wieder zurück zu holen.
"Sozialisten - Macht Euch endlich an die Arbeit", titelte die Tageszeitung "Liberation" in diesem Zusammenhang vergangene Woche. Denn, ob dies gefällt oder nicht, die rechtsextreme Nationale Front ist in Frankreich seit einem Jahrzehnt bei Arbeitern und den so genannten „Kleinen Leuten“ die stärkste Partei! Ausserdem ist es den Sozialisten, seit Jospins überstürztem, manche sagen: verantwortungslosem Rückzug aus der Politik nach seiner Wahlschlappe 2002, immer noch nicht gelungen, ihr Führungsproblem zu lösen.
Das seit Jahren andauernde Gezerre um die richtige Richtung und um einen Präsidentschaftskandidaten für 2012 wollte die Partei durch eine offenen Urwahl lösen, wie es die italienische Linke vor einigen Jahren vorexerziert hatte. Doch auch diese Urwahl, vor zwei Jahren beschlossen und im Prinzip für kommenden Herbst angesetzt, droht ein Fiasko zu werden. Am Ende könnten 10 Kandidaten zur Wahl stehen. Die Partei würde erneut über Wochen ihre Zerrissenheit vor ganz Frankreich ausbreiten. Und ob sie überhaupt in der Lage ist, eine solche Wahl mit ein bis drei Millionen Wählern organisatorisch über die Bühne zu bringen, scheint mehr als fraglich.
Unmittelbar nach dem Erscheinen der beiden Meinungsumfrgen erhoben sich zahlreiche Stimmen, die forderten, diese Urwahlen zu annullieren. Ein ehemaliger sozialistischer Minister hat sogar eine Petition veröffentlicht mit der Forderung, dies doch besser bleiben zu lassen - 17 000 Unterschriften hat er bereits gesammelt.
Marine Le Pen
Die zwei Meinungsumfragen haben, wenn man so will, zumindest einen positiven Effekt, nämlich dass viele in Frankreich jetzt aufgewacht sind und endlich gemerkt haben dürften: Für eine sozialistische Partei in diesem Zustand, aber auch für Sarkozys Konservative, mit einem Präsidenten in einem permanenten und historischen Umfragetief, ist Marine Le Pen heute eine ernsthafte Gefahr. Denn die redegewandte Mitvierzigerin, von Beruf Rechtsanwältin, drei mal geschieden, Mutter von zwei Kindern, mit dem Ruf einer beachtlichen Nightclubberin, die auch kein Problem mit Homosexuellen und gleichzeitig mit der Kirche nichts am Hut hat, die deutlich gemacht hat, dass die anrüchigen antisemitischen Ausfälle Jean Marie Le Pens nicht ihre Sache sind: Sie ist perfekt für ein Wählerpotential, das weit umfangreicher ist, als das ihres Vaters. "National, sozial und populär" - so charakterisiert Marine Le Pen ihre Partei heute und sie hat einen Diskurs, bis hin zu Anleihen bei den Globalsierungsgegner von ATTAC, der bei den Armen und Geschundenen im Land grossen Anklang findet, der nicht nur zutiefst antieuropäisch ist, sondern auch - ganz anders als zu Zeiten ihres Vaters - einen starken, beschützenden Staat fordert und damit das öffentliche Dienstleistungssystem Frankreichs vehement verteidigt.
Und natürlich profitiert Marine Le Pen, deren Partei - sieht man einmal von drei südfranzösischen Städten ab - noch niemals Macht ausgeübt hat, davon, dass der Graben zwischen der französischen Bevölkerung und den Politikern in den letzten Jahren noch tiefer geworden, die Glaubwürdigkeit der politischen Klasse ins Unendliche gesunken ist. Die Art und Weise, wie sich Präsident Sarkozy den Reichsten der Reichen an den Hals geworfen hat, die Bettencourtaffäre, die peinlichen, von anderen bezahlten Weihnachtsferien der Aussenministerin in Tunesien und des Premierministers in Ägypten und zuletzt der Prozess des Ex-Präsidenten, Jacques Chirac, der 20 Jahre nach den Ereignissen erneut und vielleicht endgültig auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben wurde - all dies sorgt für den weit verbreiteten Eindruck, dass sich Politiker alles erlauben können und nur selten dafür bezahlen müssen und ist Wasser auf die Mühlen von Marine Le Pen.
Die extreme Rechte - ganz selbstverständlich
In den letzten Wochen haben gleich zwei französische Gewerkschaften jeweils einen lokalen Verantwortlichen aus ihrer Organisation ausgeschlossen. Der Grund: In beiden Fällen kandiditieren diese Gewerkschafter, als wäre das selbstverständlich, bei den Kantonalswahlen am nächsten Wochernende auf den Listen der Nationalen Front. Dabei ist es kein Zufall, dass dies in Regionen passierte, wo heute die schlimmste soziale und ökonomische Misere in Frankreich herrscht. Von der ehemals blühenden Industrie sind dort nur noch Ruinen übrig, und kein Haus und kein Geschäft findet mehr einen Käufer: im Norden des Landes und in Lothringen, den traditionellen Hochburgen der französischen Arbeiterklasse.
Vor einem Jahr erhielt Jean Marie Le Pen bei Umfragen nicht mehr als 12 Prozent, seine Tochter liegt heute bei rund 20 Prozent. In der Zwischenzeit hatte sich Präsident Sarkozy erneut auf Raubzug durch den rechtsextremen Themenkatalog begeben. Er hat die katatsrophale Debatte über die Nationale Identität losgetreten, gegen Minarette gewettert, die Burka verbieten lassen, zur Jagd auf Roma getrommelt, wollte bestimmten Eingebürgerten die französische Straatsangehörigkeit wieder aberkennen lassen, warnt jetzt seit Beginn der Volksaufstände in Nordafrika vor einer nicht mehr zu kontrollierenden Immigration und befand jüngst, Frankreich müsse in diesem Frühjahr nun unbedingt über die Laizität und die Rolle des Islam in der französischen Gesellschaft diskutieren.
Seit über einem Jahr schon versucht Nicolas Sarkozy, wie damals im Wahlkampf 2007, sich wieder die Themen der Nationalen Front zu eigen zu machen. Doch was ihm 2007 gelungen war - die Nationale Front niedrig zu halten - funktioniert jetzt nach über 3 Jahren der Machtausübung schlicht nicht mehr, ja kehrt sich ins Gegenteil um. Mit dieser Strategie hat Präsident Sarkozy letztlich nichts anderes getan, als die Thesen und den Diskurs der Nationalen Front zu legitimieren.
Er hat Marine Le Pen in die Hände gespielt, sie kann sich zurücklehnen und diese Hände einfach aufhalten und sogar fast gelangweilt und zynisch, ohne dass ihr jemand widersprechen könnte, in die Mikrophone diktieren: Der Präsident und die Regierung sagen jetzt Dinge, die die Nationale Front schon seit 20 Jahren sagt, sie sollen nur so weitermachen, noch eine kleine Anstrengung und meine Quoten werden bald bei über 25 Prozent liegen !
Gut Freund mit der extremen Rechten
Frankreichs öffentliche Meinung, daran besteht kein Zweifel, ist in letzter Zeit – wie in vielen anderen Ländern Europas - deutlich nach rechts gerutscht. Dem tragen jetzt auch immer mehr Abgeordnete von Präsident Sarkozys konservativer Regierungspartei Rechnung . 44 von ihnen – immerhin mehr als 10 Prozent der Fraktion in der Nationalversammlung - haben sich seit einigen Monaten offensiv in einem Club organisiert, der sich „La Droite Populaire“ nennt, und plädieren ganz offen dafür, die traditionelle bürgerliche Rechte und die Extreme Rechte sollten näher zusammenrücken, Allianzen und Absprachen mit der Extremen Rechten dürfe man nicht von vorneherein ausschliessen. Dies ist ein echter Tabubruch ! Denn Sarkozys Vorgänger, Jacques Chirac, das muss man ihm lassen, hatte 1995 einen festen Damm gegen das rechtsextreme Lager gebaut, der heute zusehends Risse bekommt - auch wenn Nicolas Sarkozy letzte Woche angeblich auf den Tisch gehauen und betont hat, wer in seiner UMP - Partei mit der Nationalen Front gemeinsame Sache mache, werde ausgeschlossen.
Gleichzeitig aber, und auch das mag ein Zeichen der Zeit sein, hat der Präsident erst kürzlich einen neuen Verteidigungsminister ernannt, Gerard Longuet. Dieser Herr mit dem Unterkiefer eines Panzerknackers, der gerne und sehr schnell auch im reifen Alter von 65 noch anderen damit droht, er werde ihnen die Fresse polieren, hat 1964, mit 19 Jahren, die rechtsextreme Studentenvereinigung Occident gegründet. Im damaligen Sprachgebrauch waren die Mitglieder dieser Organisation die „ Fachos“, die bis in die Zeit nach 1968 mit Knüppeln und Eisenstangen gegen linke Studenten zu Felde zogen. 1972 hat dieser Gerard Longuet dann am Programm der damals neu gegründeten Partei „Front National“ mitgearbeitet und war noch 1984 bei Jean Marie Le Pen und seinen Freunden zu Gast, als die die ersten Erfolge ihrer Partei bei den damaligen Europawahlen feierten.
Doch Gerard Longuet ist nicht der einzige mit einer derartigen Vergangenheit in der Umgebung von Nicolas Sarkozy. Unter den einflussreichstenen politischen Beratern des Präsidenten gibt es einen, der keinen offiziellen Status und im Elyseepalast auch kein Büro hat - der dem Präsidenten aber seit Jahren zu seinem rechtslastigen Diskurs drängt. Er heisst Patrick Buisson und hat von 1981 bis 1987 für das inoffizielle Presseorgan der Nationalen Front, die Wochenzeitung "Minute“ gearbeitet.
Frankreich, sagt man sich, ist vielleicht wirklich nicht mehr all zu weit von italienischen Verhältnissen entfernt - mit einer auf den ersten Blick geläuterten Marine Le Pen in der Rolle von Gianfranco Fini ...