Marine Le Pen muss eigentlich nicht viel tun in diesem beginnenden Wahlkampf. Der soziale und politische Alltag in Frankreich arbeitet für die blonde Mittvierzigerin mit der rauchigen Stimme und der flotten Zunge, die in ihrer Ausbildung zur Rechtsanwältin einst sogar einen angesehenen Wettbewerb für das beste Plädoyer gewonnen hatte.
Tous pourris - alle haben Dreck am Stecken
Marine Le Pen kann heute mit zähnefletschendem Lächeln in aller Ruhe dem Spektakel zusehen, das die derzeit Herrschenden und die sozialistischen Herausforderer auf der Bühne Frankreich in diesen Wochen abgeben und kann dabei genüsslich die Punkte zählen. Laut letzter Meinungsumfragen läge sie im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen in knapp drei Monaten bei 19 bis 21,5 % und wäre damit Nicolas Sarkozy auf den Fersen.
Da wären die Affären, an denen sich die rechtsextreme Kandidatin laben darf und die einen Hauch von Staatsaffären haben und dem amtierenden Präsidenten immer näher auf den Leib rücken. Die Karachi-Affäre, wo es um milliardenschwere Waffenverkäufe, Provisionen in dreistelliger Millionenhöhe und den Rückfluss mehrerer Millionen zur Finanzierung eines Wahlkampfs geht, in dem Nicolas Sarkozy 1995 der Sprecher des Kandidaten Edouard Balladur war und als Haushaltsminister - dies hat ein hoher Beamter mittlerweile vor dem Untersuchungsrichter zu Protokoll gegeben - grünes Licht gab zur Einrichtung von Schwarzgeldkonten in Luxemburg, über die die Millionenkommissionen fliessen konnten.
Finanzaffären im Dunstkreis des Präsidenten
Gegen drei Personen aus dem engsten Umkreis Präsident Sarkozys ist in diesem Zusammenhang bereits Anklage erhoben worden - darunter gegen Nicolas Bazire, die heutige Nummer 2 des Luxuskonzerns LVMH und Trauzeugen bei Sarkozys Hochzeit mit Carla Bruni.
Nicht zu vergessen die Bettancourt-Affäre, wo letzte Woche bekannt wurde, dass einer der Untersuchungsrichter mitllerweile nachforscht, ob bei Nicolas Sarkozys eigenem Wahlkampf 2007 finanziell alles mit rechten Dingen zuging oder auch dabei zu viel Bargeld aus den Safes der Reichsten der Reichen floss.
Fast täglich wachen die Franzosen inzwischen morgens mit einer neuen Nachricht auf, dass hier und dort wieder eine Fabrik geschlossen wird - oft in der tiefen Provinz, wo sie der einzige Grossbetrieb ist und es für die Menschen kaum Alternativen gibt. Wieder stehen 100, 200 oder 800 Menschen ohne Arbeit da. Die Arbeitslosigkeit hat die 10-Prozent-Grenze fast erreicht, die Sozialämter brechen unter der Arbeitslast zusammen, den Hilfsorganisationen fehlen Millionen Euro, um der Wachstumsrate von rund 10 Prozent gegenüber dem Vorjahr bei den Hilfsbedürftigen begegnen zu können. Die Zahl der "Working Poor" nimmt rasend zu, ihr Kampf ums Überleben im Alltag wird ständig härter.
Marine Le Pen entdeckt die "kleinen Leute"
Genau in diese Kerbe schlägt Marine Le Pen, seit einem Jahr Nachfolgerin ihres Vaters als Chefin der rechtsextremen Nationalen Front und seit Monaten schon offiziell erklärte Präsidentschaftskandidatin. Sie hat die Partei im letzten Jahr deutlich umgekrempelt, sie nach aussen hoffähiger gemacht, vor allem aber hat sie ihre soziale Ader und die so genannten "kleinen Leute" entdeckt .
War ihr Vater bis zum Scheitel dem Wirtschaftsliberalismus verschrieben, predigt Marine Le Pen seit einem Jahr den Protektionismus und die Wohltaten des öffentlichen Dienstleistungssystems à la française, macht sich lautstark zur Fürsprecherin und Kandidatin der Geplagten und Namenlosen und poltert gegen die Abwanderung französischer Unternehmen ins Ausland, gegen das Finanzkapital und die Auswirkungen der Globalisierung, als wäre sie bei den Globalisierungsgegnern von ATTAC in die Schule gegangen.
Und es funktioniert, die Menschen nehmen ihr das ab. Sprechen sie über die neue Passionaria der französischen Rechtsextremen, reden sie einfach von "Marine". Allein dies schon lässt aufhorchen, zeugt es doch von so etwas wie Vertrautheit, Nähe, ja Sympathie. Ein ähnliches Phänomen kannte man in Frankreich bislang nur im Fall von Ségolène Royal während des Wahlkampfs vor 5 Jahren - auch da sprach jeder nur von Ségolène.
Lokal bestens verankert
Die Nationale Front Marine Le Pens ist mittlerweile in vielen Teilen Frankreichs, auch auf dem flachen Land, örtlich bestens verankert. Ihre aktiven Mitglieder und Kandidaten sind dort aktiver als die Vertreter aller anderen Parteien, sie vermitteln den Menschen den Eindruck, sich um ihre Sorgen zu kümmern.
Was noch vor fünf Jahren weitgehend undenkbar war, ist heute fast ohne weiteres möglich: Mitglieder der Nationalen Front können inzwischen zum Beispiel vor Fabriken Flugblätter verteilen, ohne verjagt oder aggressiv beschimpft zu werden, ja sogar immer mehr aktive Gewerkschafter sind inzwischen offen Mitglieder der Nationalen Front.
Viel zu wenig hat man vergangenen Herbst den Vorstoss der Nationalen Front bei den sogenannten Kantonalwahlen beachtet. Bei diesem Urnengang, der als die Wahl der französischen Provinzen, des tiefen, altehrwürdigen Frankreichs schlechthin gilt, hatten es die rechtsextremen Kandidaten in Dutzenden von Wahlkreisen geschafft, in die Stichwahl zu kommen und im 2. Durchgang über 40 Prozent der Stimmen zu erzielen. Das Frappierenste dabei war die Tatsache, dass viele von ihnen vor Ort kaum bekannt und politisch völlig unbedarft waren. Egal - Hauptsache, die anderen werden abgestraft.
Raus aus der EU!
Und wem dies alles noch nicht gereicht hat, der bekam es letzte Woche von der jährlichen Umfrage des Meinungsfortschungsinstitutes SOFRES schwarz auf weiss serviert: Die Zustimmung der Franzosen zu den Ideen der Nationalen Front liegt heute bei 31 Prozent - noch nie seit einem Vierteljahrhundert, seit den ersten Wahlerfolgen der extremen Rechten und seit die Umfrage durchgeführt wird - war diese Zustimmung so hoch und war die definitive Ablehnung dieser Ideen so niedrig: Nur noch 35 Prozent der Franzosen weisen sie kategorisch zurück, 36 Prozent denken, dass Marine Le Pen am 22. April in die Stichwahl kommen wird, 26 Prozent wünschen dies!
Dabei hat Marine Le Pen, im Gegensatz zu den anderen Kandidaten , ihr haarsträubendes Programm schon seit geraumer Zeit vorgelegt, ein Programm, das irreal und extrem demagogisch ist, dessen hypothetische Finanzierung die Kandidatin letzte Woche aber sogar beziffert hat. Ein Programm, in dem es grob gesprochen heisst: Raus aus der EU, zurück zum französischen Franc, Zollbarrieren an die Grenzen, nationale Priorität bei Arbeitsplätzen und Sozialleistungen.
Antwort der Sozialisten - Fehlanzeige
Reaktionen der anderen Kandidaten darauf blieben bislang aus. Dabei müsste längst, spätestens seit 10 Jahren klar sein: Mit Gutmenschentum allein und schockierten Aufschreien über fremdenfeindliche und andere skandalöse Äusserungen der französischen Rechtsextremen kommt man der Nationalen Front und heute ganz besonders Marine Le Pen nicht mehr bei. Es ginge vielmehr darum, ihr haarsträubendes Programm argumentativ und mit Hilfe bester Pädagogik zu auseinanderzunehmen - doch die Sozialisten und Kandidat Hollande, denen dafür keine hundert Tage mehr bleiben, tun nichts dergleichen, wirken fast so, als wollten sie sich die Hände nicht schmutzig machen.
Man möchte ihnen zurufen: Vorsicht, ihr spielt schon wieder mit dem Feuer, wie damals 2002! Ihr denkt wieder bereits an den 2. Wahlgang, bevor ihr Euch im ersten überhaupt qualifiziert habt! Ihr seid schon wieder schwer damit beschäftigt, an die Ministerien und Posten zu denken, die ihr unter Euch aufteilen werdet - selbst wenn Ihr nicht alle so durchgeknallt seid wie Ségolène Royal.
Die hat es doch tatsächlich fertiggebracht , mit ihren erbärmlichen 6 Prozent, die sie bei der offenen Vorwahl für die sozialistische Präsidentschaftskandidatur zusammenkratzen konnte, mehrmals öffentlich zu fordern, sie wolle Parlamentspräsidentin werden. Als hätten das Land und seine Bevölkerung derzeit tatsächlich keine anderen Sorgen. Nicht nur Präsident Sarkozys Umgebung, sondern auch Frankreichs Sozialisten vermitteln den Eindruck , dass sie schrecklich weit abgehoben leben und grösste Schwierigkeiten haben, wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzufinden.
Zu allem Übel steht Präsidentschaftskandidat Hollande derzeit auch noch im Verdacht, allein durch das Schwimmen auf der in der Tat gewaltigen Anti-Sarkozy-Welle, die Präsidentschaftswahl gewinnen und dabei so wenig wie möglich von Projekten und Programmen reden zu wollen. Marine Le Pen darf sich die Hände reiben.
Und Nicolas Sarkozy?
Der amtierende Präsident, noch nicht offizieller Kandidat, kuriert derweil die Ohrfeige vom letzten Freitag, als Frankreich von den Herrschaften der Ratingagentur S&P die Topbonität entzogen wurde. Noch vor zwei Monaten war, laut Nicolas Sarkozy, das Tripple-A Frankreichs kostbarstes Gut überhaupt, dessen Verlust geradezu eine nationale Katastrophe wäre. Ein Jahr davor wusste in Frankreich kaum jemand, was das Tripple-A überhaupt ist. "Wenn Frankreich das Tripple A verliert, bin ich tot" , hat der Präsident einst ebenfalls zum Besten gegeben - nun, da es so weit ist, ist der Verlust keine Katatsrophe mehr, sondern nur noch "keine gute Nachricht" und der Präsident hat offensichtlich nichts mehr zu sagen, hüllt sich in Schweigen.
Sein mühsam aufgebautes Image, er sei in der Lage, durch gewaltige Worte und geschäftiges Tun seine Mitbürger vor den Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise zu schützen und im internationalen Krisenmanagement der Beste unter all den anderen Nichtskönnern zu sein, ist jedenfalls in tausend Stücke zersprungen. Für seinen Wahlkampf, in dem Nicolas Sarkozy sich offiziell noch nicht befindet, ist die Herabstufung Frankreichs schlicht ein Schuss vor den Bug und wirft für seine Strategen so einiges gründlich über den Haufen.
Hinsichtlich der Gefahr, die ihm von extrem rechts droht, macht Nicolas Sarkozy erneut - bzw. lässt machen -, was er vor fünf Jahren schon einmal gemacht hat, nur dass das mit ziemlicher Sicherheit kein zweites Mal funktionieren wird: Er läuft der Nationalen Front hinterher und versucht, mit ihr, was unappetitliche Äusserungen, Vorschläge oder Massnahmen gegenüber Ausländern, mutmasslichen Sozialschmarotzern oder Kriminellen angeht, zumindest gleichzuziehen.
Emmanuel Todds Analyse
Dafür hat er jetzt seinen Innenminister, Claude Gueant, der fast wöchentlich eine neue Ungeheuerlichkeit von sich gibt - im Stil von: "Viele Franzosen fühlen sich in den Strassen ihrer Stadt nicht mehr wie zu Hause" - mit stets gleichlauter Stimme und dem eiskalten Pokerface eines Kurienkardinals. Doch die unter Nicolas Sarkozy staatlich, von höchster Stelle legitimierte Fremdenfeindlichkeit wird offensichtlich viele Wähler nicht davon abhalten, wieder zum Original, zur Nationalen Front zurückzukehren.
Wie sagte doch jüngst der Historiker und Anthropologe, Emmanuel Todd, der dafür bekannt ist, mit seinen politischen Prognosen vielfach Recht zu haben? "Die Rechte in Frankreich hat heute zwei Komponenten, die Nationale Front und Sarkozys UMP Partei. Die Annäherung und die Durchlässigkeit zwischen diesen beiden Parteien wird immer stärker und deutlicher.
Wenn Nicolas Sarkozy jetzt aber, trotz allem was er angestellt hat, wiedergewählt wird, dann ist Frankreich schlicht nicht mehr Frankreich. Denn seine Wiederwahl würde ja bedeuten, dass man in diesem Land heute Präsident sein und sogar bleiben kann, indem man seine Zeit damit verbringt, Sündenböcke aufzubauen. Es würde bedeuten, dass die französischen Wähler die Tatsache absegnen, dass ein Präsident z.B. ein paar tausend Roma jagen lässt, nur um von der schweren ökonomischen Krise abzulenken. Wenn Sarkozy wiedergewählt wird, werden die Franzosen dies angesichts seines schlechten Images in der Welt teuer bezahlen. Wenn wir falsch wählen, werden wir von der Geschichte bestraft werden.
Anders als vor 10 Jahren?
Aber vielleicht bleibt die Strafe der Geschichte ja aus und stellt sich die Frage von Nicolas Sarkozys Wiederwahl schon am Abend des 22. April nicht mehr. Anders als vor 10 Jahren könnte die extreme Rechte, diesmal mit Marine Le Pen, dem konservativen und nicht dem sozialistischen Kandidaten im 1. Wahlgang einen Strich durch die Rechnung machen - der "umgekehrte 21. April 2002" ist bereits zu einem geflügelten Wort geworden. Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire, einer der Intelligenteren aus der jungen Garde der Präsidentenpartei UMP, sagte letzte Woche ganz unverholen: "Marine Le Pen stellt für unsere Mehrheit eine echte Bedrohung dar." Und er rief seine Parteifreunde dazu auf, "dem Frankreich der Schweigenden Gehör zu schenken, denjenigen, die rackern, die leiden und niemals laut etwas fordern."
Ein Satz, der ohne jeden Abstrich genau so auf die Sozialisten und ihren Kandidaten, François Hollande, gemünzt sein könnte. Doch weder die einen noch die anderen scheinen dazu in der Lage - Marine Le Pen dagegen sehr wohl, die sich seit Wochen schon als die Kandidatin der Geplagten und der grossen, schweigenden Mehrheit präsentiert. Ihr Stimmenpotenzial in der Arbeiterschicht liegt bei mindestens 40 Prozent. Enorm.