Diese französischen Präsidentschaftswahlen gleichen definitiv keiner der vorhergehenden Wahlen in den letzten Jahrzehnten. Der Wahlkampf ist dominiert von Affären und Krisen wie nie zuvor, und von Inhalten und Programmen ist kaum noch die Rede.
Aus der Versenkung aufgetaucht
Die Scheinbeschäftigungsaffäre um die Ehefrau des konservativen Kandidaten François Fillon hatte fast zwei Monate lang den ganzen Wahlkampf beherrscht. Kaum ist diese Affäre etwas abgeklungen, sorgen Frankreichs Sozialisten und allen voran Ex-Premierminister Valls dafür, dass man weniger über die Zukunft Frankreichs, dafür umso mehr über die Zukunft und das mögliche Ende der 1971 von François Mitterrand neu gegründete Sozialistischen Partei spricht.
Der ehemalige Premierminister, der sich so gerne martialisch gibt und mit vorgerecktem Kinn die Autorität verkörpern möchte, bei den sozialistischen Primärwahlen Ende Januar aber gegen den Kandidaten des linken Parteiflügels, Benoît Hamon, deutlich unterlegen war und sich seitdem relativ bedeckt gehalten hatte, tauchte plötzlich aus der Versenkung wieder auf und kündigte prompt an, er werde bei dieser Präsidentschaftswahl nicht für den Kandidaten seiner eigenen Partei, Benoît Hamon, stimmen, sondern für den parteilosen früheren Wirtschaftsminister, Emmanuel Macron.
Frankreichs Interessen und die eigenen
Valls betonte, er handle damit im Interesse Frankreichs, und doch spürte jeder, dass es ihm vor allem um die Zukunft seiner eigenen politischen Karriere ging. In einem derart historischen Moment sich wenigstens bis nach dem 1. Durchgang der Präsidentschaftswahlen einfach im Hintergrund zu halten, war offensichtlich zu viel verlangt.
Angesichts der Schwäche des sozialistischen Kandidaten Hamon, der in Meinungsumfragen bis auf 10 Prozent abgerutscht ist, schob Valls das Argument vor, man dürfe schon im 1. Wahlgang im Interesse der Republik kein Risiko eingehen. Mit anderen Worten, es besteht das Risiko eines Siegs von Marine Le Pen, die laut Valls deutlich höher stehe als bei 26–27 Prozent, wie die Meinungsumfragen dies zur Zeit prognostizieren.
Das Gegenteil tun, als schriftlich versprochen
Nach Valls' Ankündigung brach bei Frankreichs noch verbliebenen Sozialisten ein Sturm der Entrüstung aus. Abgeordnete sprachen von einer Schande, nannten Valls' Schritt erbärmlich, bezeichneten ihn als Mann ohne jede Ehre oder schlicht als Verräter. In der Tat hatte sich Valls als Kandidat bei den Primärwahlen der Sozialisten schriftlich verpflicht, am Ende den Sieger – also Hamon – im Präsidentschaftswahlkampf zu unterstützen. Nun tat er genau das Gegenteil und hat sein Wort gebrochen – mit dem Argument, einen Sieg von Marine Le Pen zu verhindern, stehe über den Interessen der Sozialistischen Partei.
Martine Aubry, Urgestein der französischen Sozialisten, Ex- Ministerin und Tochter von Jacques Delors, tobte. „Wenn das gegebene Wort und die Werte nichts mehr zählen, wenn man die persönliche Karriere und die Macht über die Werte stellt, dann kommt es so weit. Man kann nicht 2012 François Hollande unterstützen, der sagte, ich liebe die Menschen und nicht die Finanzen, und 2017 denjenigen, der das Geld liebt, aber nicht die Menschen“, schrieb sie Manuel Valls ins Stammbuch.
„Monsieur Deloyal“
Und auch Frankreichs Presse ging mit Valls extrem hart ins Gericht, nannte ihn „Monsieur Deloyal“, der den Meineid verkörpere. „Le Monde“ meinte, Valls gehe das Risiko ein, die Sozialistische Partei zum Einsturz zu bringen, und „Le Parisien“ schrieb gar, die Sozialistische Partei von François Mitterrand sei damit gestorben – ohne jeden Schneid, aufgefressen von ideologischen und persönlichen Rivalitäten.
Im Grunde setzte der Schritt des ehemaligen Premierministers aber nur der Tendenz die Krone auf, die schon seit Wochen sichtbar wurde: Dutzende sozialistische Abgeordnete haben sich bereits für Emmanuel Macron, den Kandidaten der Mitte, ausgesprochen, auch vier Minister der gegenwärtigen sozialistischen Regierung, zuletzt selbst der Intimus von François Hollande, Verteidigungsminister Le Drian – viele mit dem Argument, diesen sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Benoît Hamon, der als Abgeordneter mit Dutzenden Aufrührern in der sozialistischen Fraktion jahrelang die Regierungsarbeit von Präsident Hollande und seiner Premierminister torpediert habe, könnten sie schlicht nicht unterstützen.
Wie die sozialistische Partei unter diesen Vorzeichen und nach einer wahrscheinlich historischen Schlappe ihres offiziellen Präsidentschaftskandidaten die anschliessenden Parlamentswahlen überleben soll, steht in den Sternen.
Ein Balanceakt für Macron
Emmanuel Macron, der in Umfragen weiterhin rund 8 Prozent vor dem konservativen Kandidaten François Fillon und gleichauf mit Marine Le Pen liegt, dankte Manuel Valls zwar höflich für seine Unterstützung, machte aber erneut klar, dass er kein Gästehaus für Sozialisten in Not eröffnet habe und sein Versprechen halten werde, mit neuen Gesichtern einen Neuanfang machen zu wollen.
Um seinen Balanceakt zwischen links und rechts glaubwürdig durchzuhalten, muss das 39-jährige Wunderkind der französischen Politik in der Tat aufpassen, nicht von ehemaligen, desorientierten und heimatlos gewordenen Sozialisten vereinnahmt zu werden. Marine Le Pen und François Fillon deklamierten auch vor Valls Äusserung schon, Macron sei nichts anderes als ein geklonter François Hollande.
Fillons sarkstische Formel
Ja, es stellt sich die Frage, ob Manuel Valls mit seiner Ankündigung, für Macron stimmen zu wollen, dem Kandidaten der Mitte nicht einen Bärendienst erwiesen hat. Für Fillon und seine Anhänger war es eine Art Steilvorlage, die ihre grobschlächtige Argumentation perfekt bedient, wonach Macron nur der verlängerte Arm des bisherigen Staatspräsidenten sei und die Politik Hollandes fortsetzen werde.
Und François Fillon, der angeschlagene konservative Kandidat, dessen Wortwahl und Angriffe auf den Kandidaten der Mitte von Tag zu Tag brutaler werden, hat in diesem Zusammenhang von seinen Kommunikatoren sogar eine Formel übernommen, die er nun täglich gleich mehrmals wiederholt : Er nennt seinen Konkurrenten Macron „Emmanuel Hollande“ oder „François Macron“.