„Mein erstes Kletterseil war orange“, schreibt Emil Zopfi, „eines der damals neuen Kernmantelseile aus Nylonfasern, hergestellt in einer kleinen Seilwarenfabrik in Lenzburg. Es nannte sich Mammut, was Stärke und Sicherheit versprach.“
Aus der kleinen Seilwarenfabrik entstand ein weltweit tätiger Bergsport-Ausrüster, und aus dem Töfflibueb von damals ist einer der grossen Schweizer Alpinismus-Autoren geworden. Emil Zopfi wurde einmal gefragt, was er wählen würde, wenn er sich entscheiden müsste zwischen Klettern und Schreiben. Klettern, sagte er. Schreiben sei schwieriger. Aber zum Glück müsse er sich nicht entscheiden.
Das orange Seil hatte ihm ein Freund geschenkt. Es war durch einen bösen Sturz auf einigen Metern beschädigt: „Heute würde sich kein Mensch mehr mit einem so übel zugerichteten Seil auf eine Klettertour wagen, aber ich war Lehrling und lebte von nichts und der Liebe. Mein Budget für ein Wochenende betrug ein bis zwei Franken, während der Woche bestand meine Mittagsmahlzeit aus einem Cervelat mit Brot und einer Zimtschnecke. Ein eigenes Seil? Ein Traum.“ (1)
Das war Ende der fünfziger Jahre. Das Klettern wurde für den jungen Lehrling zum grossen Ausweg aus den Zwängen der Alltagswelt. Für jedes Wochenende waren die Berge neue Verheissung von Selbstbehauptung und einer schwindelerregenden Leichtigkeit des Seins. Es muss wie eine Viruserkrankung gewesen sein. Eine merkwürdige Krankheit, die die Pforten der Enge öffnet zu einem Territorium der Freiheit:
„Drei Felsspitzen aus hellem Kalk über den Alpweiden des Wägitals: die Bockmattlitürme! Ein grandioses Klettergebiet – auch heute noch: senkrechte Nordwände, bis vierhundert Meter hoch, Kanten, Pfeiler, Risse, Überhänge, also alles, was ein junges Kletterherz begehrte. Das Sehnsuchtsland meiner Jugend war mit dem Velo erreichbar, übernachten konnten wir im Heu auf der Schwarzenegg beim guten Älpler Röbi. Unvergesssliche Stunden in seiner Stube bei Spaghetti, Tee und Schokoladencreme aus der Büchse. Frühmorgens dann ab in die Felsen.“
Dem Bockmattli verdanke er sein erstes bisschen Selbstvertrauen, das später im Leben gelegentlich weitergeholfen habe, sagt Zopfi: „Da befahl niemand wie in der Fabrik, wo’s langgeht, da war ich mein eigener Meister und setzte meine Ziele selbst.“
Klettern war damals eine riskante Sache. Einzementierte Bohrhaken und Muniringe wie beim neuen „Plaisirklettern“ gab es nicht, geschweige denn gut haftende Kletterfinken. Man hatte Metallhaken dabei und schlug sie mit dem Felshammer ein. Hier und da fanden sich verrostete Vorkriegs-Standhaken, die Schlingen aus Gartendraht hatten. Wo man heute Hightech-Klemmgeräte wie Friends oder Camalots einsetzt, behalf man sich damals mit Holzkeilen:
Schreiben als Freiraum
„Holzkeile waren meist Eigenfabrikation und schonten das Portmonee von uns Lehrlingen. Haken hatte damals jeder Kletterer dabei, aber ein Bündel Holzkeile, nach Grösse sortiert und möglichst dicke darunter, war der Indianerschmuck des Extremkletterers. Das trockene Klöppeln der Keile am Tragband, wenn wir am Morgen auszogen, untermalt vom Klirren und Klimpern der Felshaken, das war die Begleitmusik einer zünftigen Kletterei.“
Er träumte den ganzen Winter von sonnigen Kalkfelsen. Kletterhallen gab es damals noch nicht. Man musste warten, bis der Frühling kam und der Schnee schmolz. Die Symptome des Entzugs versuchte er mit Schreiben zu kurieren:
„Wenn im November der erste Schnee lag, tippte ich auf der Schreibmaschine meines Vaters die Erlebnisse des Sommers. Schreiben bedeutete für mich, Erlebtes festzuhalten und gleichzeitig wieder neu und anders zu erleben. Später auch über die Erfahrungen nachzudenken, sie zu werten und einzuordnen. Schreiben wurde zu einem Spiegel. In der Jugend hatte ich die Berge als Freiraum entdeckt, Schreiben wurde später zu einem zweiten, einem schwierigeren.“
In den vergangenen fünfzig Jahren hat Emil Zopfi Dutzende von Hörspielen und Büchern publiziert. Er wurde überhäuft mit Auszeichnungen und Kulturpreisen. Bücher über Alpinismus, Kriminalromane, die in den Bergen spielen, aber auch Kinderbücher und Bücher, in denen der Elektroingenieur und Programmierer sich kritisch mit der Macht der Computer über den Menschen auseinandersetzt. Sein Vater war ein Arbeiter aus dem Glarnerland, seine früh verstorbene Mutter eine Bergbauerntochter. Er sah die Berge stets als Gegenwelt zur Stadt, aber als heile Welt hat er sie sicher nie gesehen.Letzte Woche las er in Bern auf der Generalversammlung der Alpenschutzorganisation Mountain Wilderness aus seinem Buch „FelsenFest“. Das ist eine Sammlung von kurzen Geschichten, von denen viele schon als Blog im Zürcher Tagesanzeiger erschienen sind.
Understatement
Lustige und traurige Geschichten, sehr persönlich, sehr anekdotisch, ein erfrischend buntes Mosaik aus dem Leben eines Taugenichts. Joseph von Eichendorff hätte als Zuhörer seine Freude gehabt. Der musikalische Kontrapunkt in all diesen Texten ist die leise Ironie und ein Schatten von Wehmut, die die Erosion des Alters mit sich bringt.
Es mag wohl mehr als dreissig Jahre her sein, dass eine Kletterpartnerin auf der Mettmenalp mir ins Ohr flüsterte, der da oben die Route im siebten Grad versuche, das sei der Zopfi, der berühmte Emil Zopfi. Er ist jetzt fünfundsiebzig, aber als ich ihn bei der Lesung in Bern sah, dachte ich: Er sieht aus, wie er immer aussah. Mit seinem dichten Haarschopf, den wachen Augen unter einem Brauengebüsch, mit den sparsamen Gesten, dem trockenen Humor und jener zurückhaltenden, leisen Präsenz. Das Understatement von einem, der schon als junger Bursche die schwierigsten Wände geklettert ist und es deshalb nie nötig hatte, auf den Putz zu hauen. Man hört ihm zu und denkt: Da ist einer, der noch viel heiteres Tageslicht hat zwischen sich und seinem Ego.
Er habe das Schreiben als Therapie entdeckt, sagte er mir: „Eine Therapie, die mir ermöglichte, die grauen Tage zu überstehen. Die Berge sozusagen mental zu erleben und immer wieder zu erleben. Bis der Frühling kam.“
Im Buch schildert er, wie er an seinem siebzigsten Geburtstag an einem wolkenlosen Tag im Gneis von Ponte Brolla klettert: „Ich wurde so übermütig, dass ich buchstäblich ins neue Lebensjahrzehnt stürzte – das heisst ins Seil. Die schöne Route gehört zu den steileren der Wand, und ich blieb unversehrt. Sie heisst übrigens Mammut longlife. Wenn das kein Omen ist!“
Emil Zopfi: FelsenFest. Noch schöner als Fliegen. AS Verlag 2016.