Der afrikanische Binnenstaat gehört laut der Weltbank zu den ärmsten Ländern der Welt. 40 Prozent der Bevölkerung überleben nur dank humanitärer Hilfe. Hunderttausende sind auf der Flucht. Eine Besserung ist nicht in Sicht. Chadi Ouanes, Mitarbeiter des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR), kennt das Land und hat folgenden Bericht für Journal21 geschrieben.
Mali ist der 24. grösste Staat der Welt und der 8. in Afrika. Er grenzt an sieben Nachbarländer: Algerien im Norden, Côte d'’voire und Guinea im Süden, Niger und Burkina Faso im Osten sowie Mauretanien und Senegal im Westen.
Das Land ist Teil der Sahelzone, einer Region, die sich vom Atlantik bis zum Roten Meer erstreckt. Hier liegt die grösste Wüste der Welt. Die negativen Auswirkungen des Klimawandels sind hier besonders spürbar und beeinflussen Wirtschaft und Gesellschaft. Konflikte, Unsicherheit und soziale Unruhen bremsen die Entwicklung der Region.
Einer der reichsten Männer der Weltgeschichte
Werfen wir einen Blick zurück: Das «Mali-Reich», das etwa vierhundert Jahre lang bestand (ca. 1226–1672) war eines der reichsten Gebiete Afrikas. Mansa Musa, der neunte Kaiser dieses Reiches galt als einer der reichsten Menschen der Weltgeschichte. Viele Historiker sind der Meinung, dass sein Vermögen jenes von Elon Musk oder Bernard Arnault in den Schatten stellen würde.
Während seiner Blütezeit häufte das Mali-Reich dank einer Politik der hohen Steuereinnahmen und des Goldabbaus ein riesiges Vermögen an. Eine Legende besagt, dass Kaiser Mansa so reich war, dass er Gold an diejenigen verteilte, die ihn auf einer Pilgerreise nach Mekka kreuzten.
Auch in der heutigen Zeit ist Mali ein wichtiger Goldproduzent. Der Staat ist das drittgrösste Goldförderland Afrikas und der erste Baumwollproduzent. Diese beiden Produkte sind das Rückgrat des Exports. Doch trotz dieser wichtigen Einnahmequellen gehört das Land zu den ärmsten der Welt. Nach Angaben der Weltbank erreichte das BIP in Mali im Jahr 2021 873 USD pro Kopf bzw. 19,14 Milliarden USD für das Land. 41,9% der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze.
Vielfältige, geeinte und geteilte Gemeinschaften
Die Bevölkerung Malis ist von einer starken ethnischen Vielfalt geprägt. Im Land leben mehr als sechzig ethnische Gruppen in verschiedenen Regionen. Die Bambara stellen die grösste Gruppe, gefolgt von den Fulani und den Soninke.
Auch andere Gruppen wie die Dogon, die in den zentralen Teilen des Landes leben, und die Tuareg in der nördlichen Sahara-Wüste sind stark vertreten.
Vielen dieser Ethnien ist es gelungen, ihr Erbe und ihre unverwechselbaren kulturellen Traditionen in einer immer stärker werdenden globalen Gesellschaft zu bewahren – einer Gesellschaft, die zu Konformismus aufruft und ein einheitliches Modell des modernen Menschen fördert. Darüber hinaus hat sich der soziale Zusammenhalt in Mali über Jahrzehnte hinweg bewährt. Die Mitglieder vieler verschiedener ethnischen Gruppen heiraten einander und teilen kulturelle Praktiken und Bräuche. Nicht immer verläuft das problemlos. Das Zusammenleben verschiedener Ethnien führt manchmal zu Spannungen und Konflikten.
Kampf um Land und Ressourcen
Im Jahr 2021 lebten in Mali insgesamt 22 Millionen Menschen in diesen Gemeinschaften, davon 60% weit verstreut in ländlichen Gebieten. Die meisten von ihnen sind in der Vieh- und Ackerwirtschaft tätig. Vor diesem Hintergrund ist es erwähnenswert, dass die Hälfte des Landes wüstenähnlich ist und nur 4% bebaut werden. Dies ist unter anderem auf die Lage des Landes in einer Region zurückzuführen, in der die Temperaturen anderthalb Mal schneller steigen als im Rest der Welt. Zudem sind die Wasserressourcen begrenzt, was die Produktivität und Investitionen begrenzt – und Konflikte fördert. Zehntausende Haushalte kämpfen buchstäblich täglich ums Überleben.
Täglicher Terror
Angesichts des steigenden Bedarfs und der immer knapper werdenden Ressourcen kommt es in einigen Gemeinschaften zu Spannungen. Täglich wird von Übergriffen auf Dörfer in den zentralen und nördlichen Regionen wie Timbuktu und Mopti berichtet. Leidtragende ist oft die unbeteiligte Zivilbevölkerung, die immer wieder ins Kreuzfeuer bewaffneter Gruppen gerät und Tote und Verletzte zu beklagen hat.
In den letzten zehn Jahren haben die nationalen Sicherheitskräfte mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft einen langen Kampf gegen verschiedene nichtstaatliche bewaffnete Gruppen geführt. Ihnen wird vorgeworfen, Tausende Zivilisten getötet und Gebiete erobert zu haben. Die nationalen Streitkräfte müssen einerseits gegen die bewaffneten Gruppen vorgehen und anderseits versuchen, die Zivilbevölkerung zu schützen. Für diesen Kampf stehen sehr begrenzte Mittel zur Verfügung. Das erklärt die sehr begrenzte Präsenz der staatlichen Streitkräfte in den verschiedenen Regionen Malis.
Bewaffnete Gruppen nützen diese mangelnde Präsenz der Streitkräfte aus, um Dörfer zu überfallen und ganze Gebiete zu kontrollieren. Vor diesem Hintergrund sind viele Gemeinschaften gezwungen, ihre eigene Sicherheit zu organisieren oder sich bewaffneten Gruppen anzuschliessen. Im Gegenzug erhalten sie Schutz, Nahrungsmittel, Wasser und zum Teil Arbeit.
Verschärfung der humanitären Krise und Zwangsvertreibung
Die nördlichen Regionen Malis sind am stärksten von den Konflikten betroffen. Dies führte zu einer humanitären Krise. Doch in der Zwischenzeit schwappen die Konflikte, und damit die humanitäre Krise, auch auf die zentralen und südlichen Regionen über.
Nach Angaben der Hilfsorganisationen benötigen im Jahr 2023 8,8 Millionen Menschen in Mali humanitäre Hilfe. Das entspricht mehr als 40% der Gesamtbevölkerung. Die meisten sind von Unter- oder Mangelernährung bedroht. Wegen der Unsicherheit im Land mussten Tausende Schulen geschlossen werden. Zudem fehlt es an Spitälern und anderen Gesundheitseinrichtungen.
Malische Kinder stehen auf der Top-10-Liste der Länder mit der höchsten Kindersterblichkeitsrate der Welt. Ausserdem haben mehr als drei Millionen Menschen in Mali keinen angemessenen Zugang zu Wasser, sanitären Einrichtungen und Hygiene.
Als Folge davon sind Hunderttausende gezwungen, auf der Suche nach Schutz, Nahrungsmitteln und Wasser ihr Behausungen zu verlassen. Laut dem UNHCR suchen derzeit mehr als 412’000 Malier und Malierinnen innerhalb des Landes nach besseren Lebensbedingungen. Fast 200’000 Menschen sind in die Nachbarländer Burkina Faso, Mauretanien und Niger geflohen.
Trotz dieser Probleme beherbergt Mali – erstaunlicherweise – 63’000 Flüchtlinge aus den benachbarten Ländern der zentralen Sahelzone. Das sind Menschen, die mit ähnlichen internen wirtschaftlichen, klimatischen und sicherheitspolitischen Problemen zu kämpfen haben. Viele betrachten Mali als Asylland. Andere reisen über Mali nach Nordafrika, bevor sie das Mittelmeer überqueren möchten, um Europa als Endziel zu erreichen.
Viele humanitäre Organisationen beklagen, dass die humanitäre Krise in Mali von der Welt vergessen oder zumindest kaum beachtet wird. Auch den internationalen Medien wird ein mangelndes Interesse an diesem geschundenen Staat vorgeworfen.
Vergessen und abgeschrieben
Die verschiedenen, langen Krisen und die politische Unsicherheit überfordern das Land. Dennoch gab es nationale Initiativen, um der Bevölkerung ein würdiges Leben zu sichern. 2015 wurde ein nationaler Dialog und eine Versöhnungsinitiative gestartet. Ziel war es, die Konflikte zu beenden. Doch die soziopolitischen Sicherheitsentwicklungen und die anschliessenden Regierungsumbildungen haben die Umsetzung dieser Initiativen behindert.
Die Krisen und Konflikte in anderen Teilen der Welt haben dazu geführt, dass Mali mehr und mehr vergessen und abgeschrieben wird. Eine Stabilisierung des Landes scheint zur Zeit unmöglich. Dies führt zu einem allgemeinen Gefühl der Frustration unter den Entscheidungsträgern und zu einer Ermüdung der sie unterstützenden Akteure. Die Bevölkerung ist misstrauisch geworden. Und verzweifelt. Mali gilt immer mehr als ein «allzu komplexer Fall, um weiter zu versuchen, das Land voranzubringen».
Der Autor dieses Artikels, Chadi Ouanes, ist Mitarbeiter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Es handelt sich um einen persönlichen Beitrag, der nicht notwendigerweise den Standpunkt der Organisation, für die er arbeitet, wiedergibt.
Übersetzung aus dem Englischen: hh