„Le lambeau“ im Orginaltitel: das ist der Haut- und Fleischfetzen der einen Gesichtshälfte, die Philippe Lançon am Mittwochmittag des 7. Januar 2015 noch blieb, nachdem zwei islamistische Terroristen die wöchentliche Redaktionskonferenz der satirischen Wochenzeitung in ein Horrorszenario verwandelt hatten.
Zehn Mitarbeiter des Blatts, darunter Frankreichs grösste Karrikaturisten, und zwei Polizisten starben. Der Kolumnist und Literaturkritiker, Philippe Lancon, überlebte, halb bedeckt neben seinen ermordeten Freunden.
Chronik einer Rekonstruktion
Über drei Jahre, unterstützt von Diktiergeräten – sobald er wieder sprechen konnte – und anderer Technologie, hat der Autor schon zur Zeit seiner zahllosen, zermürbenden Krankenhausaufenthalte an dem 500 Seiten starken Werk gearbeitet.
Herausgekommen dabei ist eine sehr persönliche, extrem minutiöse und mitnehmende, streckenweise nur schwer ertägliche Aufarbeitung dieses Massakers in den Redaktionsräumen von Charlie und dessen Folgen.
„Der Fetzen“ hat in Frankreich seit seinem Erscheinen im vergangenen Herbst hunderttausende Leser gefunden, auch wenn der Titel – zur Empörung vieler – nicht mal auf der Longlist des Goncourt-Preises stand, mit dem Argument, es sei keine Fiktion, kein Roman.
„Grosse Literatur“
Die Lobgesänge der französischen Kritik jedoch liessen keinen Zweifel. Da war zu lesen: „Ein Meisterwerk“, „Grosse Literatur“, „Ein magistrales Journal der Trauer“, „Ein seltenes Zeugnis, ebenso faszinierend, wie schrecklich“. Und in der Tat ist es ein phänomenaler Wurf, der den Leser mitnimmt, ihm vieles abverlangt, ja ihn erschüttert.
Da sind die mehr als 20 Operationen und Transplantationen, um über Monate hinweg ein Gesicht und ein Gebiss wieder herzustellen, die faszinierend beschriebene Beziehung zu seiner Chirurgin, die rund um die Uhr für ihn da war, die schwierigen Besuche seiner Nächsten, die Schiefertafel, auf die er kritzelte, um sich auszudrücken, die künstliche Ernährung, die erfolgreichen Versuche mit Disziplin und die ungeheure Willenskraft trotz allem, vom Krankenbett aus weiter zu schreiben, mit drei Fingern auf dem Computer, sowie der monatelang dauernde Kontakt mit den Sicherheitskräften, die den Zugang zu seinen verschiedenen Krankenzimmern kontrollierten – als wäre er ein im Krieg verletzter Soldat der französischen Armee im „Hôtel des Invalides“. Regelmässig fragt man sich bei der Lektüre, wie der für sein Leben lang gezeichnete Autor – der auf dem Sprung war, im amerikanischen Princeton eine Gastprofessur anzunehmen – die Kraft gefunden hat, all dies niederzuschreiben.
Alltag
Lancon beginnt sein Buch mit einem ganz normalen Theaterbesuch am Vorabend des Attentats, dem morgendlichen Aufwachen danach, der Lektüre seiner Mails, dem Radiohören bei der Morgengymnastik und der Frage, ob er zu seinem Hauptarbeitgeber, der Tageszeitung „Libération“, gehen und sofort über das gestrige Theaterstück – Shakespeares „Was ihr wollt“ schreiben soll oder erst zur wöchentlichen Redaktionskonferenz bei Charlie. Lancon entschied sich für Charlie, denn er wollte das erste Treffen mit der fröhlichen und streitbaren Bande von Charlie im neuen Jahr nicht verpassen.
„Ich habe mein Buch nicht mit dem Attentat selbst angefangen“, so der Autor in einem seiner wenigen Interviews. „Das schien mir zu spektakulär und falsch am Platz. Ich wollte einfach zeigen, wie dieses Attentat das Leben eines Menschen verändert hat. Und deswegen dachte ich, man muss erst mal das normale Leben beschreiben, etwa am Tag vor dem Attentat.“
Auf der Bühne
Für den Literaturkritiker Lancon war der am eigenen Körper erlebte Terror gleichzeitig so etwas wie ein Bühnenereignis.
„Es kam mir vor, als würde ich bei dem Attentat in einem fürchterlichen Theaterstück mitspielen, in dem die Rollen brutal verteilt worden sind. Auf der Bühne, erst der Redaktionsraum von Charlie, wo ein Massaker stattfindet, mit meinen Freunden von Charlie und den Killern in den verschiedenen Rollen. Und dann das Krankenhaus, wo meine verschiedenen Zimmer Orte waren, wo ständig Leute rein- und rausgingen, wie auf einer Theaterbühne.“
Rekonstruktion
„Der Fetzen“ ist ein Buch, das in allererster Linie und detailgenau die persönliche, physische und psychische Rekonstruktion eines Terroropfers beschreibt, in dessen Leben es seit dem 7. Januar 2015 ein Vorher und ein Nachher gibt.
Eine Wiedergeburt voller Rückschläge und Fortschritte, die zum Teil klinisch, ja bis zum Überdruss genau beschrieben wird und vielleicht gerade deswegen so faszinierend ist. Am Ende schliesst sich ein Kreis.
Houellebecq
Der Tag des Attentats am Sitz von „Charlie Hebdo“ beginnt in dem 500-Seiten-Werk Lancons mit Houellebecq, der exakt an diesem 7. Januar 2015 nach dem Erscheinen seines Romans „Unterwerfung“ – welcher Frankreich von gemässigten Islamisten berherrscht sieht – die Titelseite der Satirezeitung zierte – als abgefuckter Clochard nach der Neujahrsfeier mit einer Clown-Mütze und den Sätzen: „2015 verlier’ ich meine Zähne – 2022 feiere ich Ramadan“.
Auch die Redaktion von Charlie war über Houellebecq sehr gespalten und stritt an diesem Vormittag, wie es sich gehört, sehr intensiv, bevor die Terroristen zuschlugen.
Und das Buch endet am 13. November 2015 in New York – als der Autor dort bei seiner ersten Reise nach dem Attentat seine Gefährtin wieder getroffen hat und von französischen Freunden benachrichtigt wird, dass der islamistische Terror in Paris, im Bataclan und in mehreren Cafés der Umgebung, erneut zugeschlagen hat.
„Der Fetzen“ ist schliesslich und endlich auch eine Erzählung, die tief blicken lässt in die französische Seele, welche die aussergewöhnlichen Terroranschläge seit 2015 letztlich doch nicht einfach wegstecken konnte. Auch deswegen ist dieses Buch stellenweise nur schwer zu lesen, seine Lektüre eine Herausforderung, bei der der Leser nicht unbeschadet davonkommt.