Die französische Staatsbahn SNCF hat durch den Streik schon fast eine Milliarde Euro verloren, die Pariser Verkehrsbetriebe in der 12-Millionen-Einwohner-Region rund um die Hauptstadt an der Seine rund 300 Millionen. Die Zahl der Klein- und mittelständischen Unternehmen, die diesen aussergewöhnlichen Streik, der sich nun schon seit dem 5. Dezember 2019 hinzieht, nicht überleben werden, ist zur Stunde unbekannt. Es dürften Abertausende sein. Vom katastrophalen Weihnachtsgeschäft der Händler in Paris und Umgebung, von ausbleibenden Touristen oder denen, die nach dem erlebten Chaos so schnell nicht wiederkommen werden, gar nicht zu reden.
Die alltägliche Plage
Und auch nicht von den Hunderttausenden in der Region Paris, die mittlerweile einfach nicht mehr können, nur noch erschöpft, genervt und gequält sind vom Alltag im Streik. Es ist die Rede von Menschen, ganz überwiegend die am schlechtesten bezahlten, die in den Pariser Vororten, 10, 20, 30 Kilometer entfernt wohnen und die jetzt seit Wochen vier oder fünf Stunden zu ihrem Arbeitsplatz und zurück brauchen, mit der Ungewissheit morgens und abends, ob sie überhaupt ans Ziel kommen. 2000 streikende Metroführer bringen täglich rund 2,5 Millionen Menschen mehr oder weniger zur Verzweiflung.
Und das Auto, sofern die Bewohner in der Region Paris überhaupt noch eines haben, ist auch keine Lösung. Normalerweise zählt man allmorgendlich circa 150 Kilometer Stau rund um die Metropole; in den letzten Wochen sind es an Wochentagen zwischen 300 und 600 Kilometer.
Soviel zu den Betroffenen dieses Streiks, die ganz überwiegend in der politischen und ökonomischen Schaltstelle des Landes rund um Paris angesiedelt sind.
In der französischen Provinz fern von Paris, wo – man sollte es nie vergessen – nach wie vor mehr als vier Fünftel der Franzosen leben, hat dieser Streik weit weniger dramatische Auswirkungen, ja, viele sagen einem dort, sie spürten überhaupt nichts von diesem Ausstand.
Daher sollte man sich vielleicht überlegen, wie viel die Meinungsumfragen wert sind, die auch nach über fünf Wochen immer noch eine knappe Mehrheit der Franzosen sehen, die diesen Streik unterstützen.
Die Streikenden
Auf der anderen Seite der vom Streik Betroffenen stehen in erster Linie Frankreichs Eisenbahner und die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe, die ihren besonderen Rentenstatus, der manchen einen Renteneintritt mit 52 Jahren gewährt, mit allen Mitteln verteidigen wollen. Für die Renten der ehemaligen Bahnangestellten schiesst der französische Staat alljährlich 3 Milliarden Euro zu, bei den Pariser Verkehrsbetrieben sind es 500 Millionen. Das französische Rentenvolumen insgesamt repräsentiert knapp 15 Prozent des Sozialprodukts. Im Nachbarland Deutschland sind es nur 11 Prozent.
Auch wenn bei der Staatsbahn SNCF zu Beginn dieser Woche nur noch 4,3 Prozent aller Beschäftigten und nur noch 23 Prozent der Lokführer streikten, reicht das aus, um das Land, aber vor allem das pulsierende Herz des Landes, die Grossregion Paris, mit knapp 20 Prozent der Einwohner Frankreichs weiterhin in grösste Schwierigkeiten zu bringen.
Doch nicht nur die Eisenbahner in ganz Frankreich und die Metroführer in der Region Paris laufen gegen die Rentenreform Sturm. Auch Frankreichs Lehrer, Rechtsanwälte und andere Freiberufler wie Architekten, Ärzte oder Kleinhändler wollen von dieser Reform nichts wissen, weil sie von ihr nichts anderes als deutliche Verschlechterungen erwarten.
Die Reform
Präsident Macron hatte sich vorgenommen, Frankreichs 42 unterschiedlichen Rentensysteme abzuschaffen und in einem, für alle gleich geregelten, universellen Rentensystem nach Punkten zu vereinen. Nach dem Motto: Jeder einbezahlte Euro in der Rentenkasse ist für alle dasselbe wert, jeder bekommt am Ende dem entsprechend genau soviel, wie er eingezahlt hat.
Damit wäre zum Beispiel der momentan grosse Unterschied zwischen den Beschäftigten im öffentlichen Dienst und denen in der Privatwirtschaft abgeschafft. Für Erstere wird die Rente bislang auf Grundlage des höchsten Verdienstes der letzten sechs Monate berechnet, für Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft auf Grundlage der besten 25 Jahre.
Es sei, so die Regierung gebetsmühlenhaft, eine Reform im Sinne von mehr Gerechtigkeit, die den privilegierten Rentensystemen bestimmter Berufsgruppen – die oft auf die unmittelbare Nachkriegszeit und das Sozialprogramm des CNR, des Nationalen Rates des Widerstands zurückgehen – ein Ende bereiten soll.
Extrem heikel und kompliziert
Doch an diesen Rentenprivilegien zu rütteln, ist eine extrem komplizierte und höchst heikle Angelegenheit, bei der allen bewusst sein musste, dass im Jahr 1995 – also fast ein Vierteljahrhundert vorher – bereits schon einmal ein Premierminister namens Juppé, damals unter dem gerade neu gewählten Präsidenten Chirac, grandios mit dem Versuch gescheitert war, die so genannten speziellen Rentensysteme abzuschaffen. Juppé hatte damals nach 29 Tagen Streik das Handtuch geworfen und war zurückgetreten.
Mit dieser Erfahrung im Rücken hatten Präsident Macron und seine Regierung diesmal schon ab Herbst 2017 eine Kommission und einen Rentenbeauftragten eingesetzt, die zusammen die kommende Reform im Dialog mit den Sozialpartnern vorbereiten sollten.
Im liberal- konservativen Ex-Minister Delevoy, der zuvor unter anderem ein sehr geschätzter und kritischer Ombudsmann gewesen war, schien man die geeignete Person gefunden zu haben, um zu vermitteln.
Amateurhaft
Angesichts der inzwischen völlig verfahrenen Situation muss man sich heute aber fragen: Was haben Delevoy und die Komission in den gut zwei Jahren eigentlich getan? Wurde da wirklich verhandelt? Warum hatten die Gewerkschaften nicht schon vor einem Jahr den Finger gehoben, um zu sagen, die Reform passt uns nicht, sie geht in die falsche Richtung? Erst zwei Monate bevor das Rentenreformprojekt im Februar 2020 dem Parlament vorgelegt werden soll, ertönte der Aufschrei. Zwei Jahre lang hatte die breite Öffentlichkeit so gut wie nichts über die Arbeit der Kommission erfahren.
Angesichts der aktuellen Lage kann man nicht anders, als zu dem Schluss zu kommen, dass hier enorm viel an Kompetenz und an Möglichkeiten einer vernünftigen Annäherung verschwendet wurden. „un gâchis“ ist das hierzulande immer wieder bemühte Wort der letzten Wochen, um dieses Fiasko zu umschreiben. Und immer wieder ist auch von der schier unglaublichen Amateurhaftigkeit der Exekutive die Rede.
Denn die Regierung, die es mit insgesamt acht Gewerkschaften zu tun hat, hatte bei ihrem Reformvorhaben im Prinzip die mittlerweile wichtigste französische Gewerkschaft, die CFDT, an ihrer Seite, die offensiv für ein Rentensystem nach Punkten plädierte, dabei aber eine weitgehende Berücksichtigung der Schwere der jeweiligen Arbeit forderte. Doch dann schoss Premierminister Philippe im Dezember einen kapitalen Bock, indem er plötzlich eine Erhöhung des Renteneintrittsalters um zwei Jahre auf 64 ins Spiel brachte. Damit war auch für die CFDT eine rote Linie überschritten. Inzwischen hat die Regierung ihre Haltung teilweise revidiert und die Frage des Renteneintrittsalters erst einmal aufgeschoben.
Teilrückzug
Gleichzeitig haben Macron und sein Premierminister im Streit der letzten Wochen bereits mehrere Abstriche gemacht bei ihrem Projekt, ein für alle gleiches, universelles Rentensystem zu schaffen. Den Angestellten der Pariser Oper oder den Fluglotsen wurden bereits Sonderbedingungen eingeräumt, am spektakulärsten aber war der Rückzieher hinsichtlich der künftigen Renten für Frankreichs Polizisten.
Letztere hatten einfach damit gedroht, wenn man an ihrem System rüttele, würden sie nur noch Dienst nach Vorschrift machen. Gleichzeitig meldeten sich Hunderte, ja Tausende Polizisten krank und prompt war klar: Wenn das so weiter geht, steht es schlecht um die öffentliche Ordnung in diesen ohnehin angespannten und aufgewühlten Zeiten. Eine Revolte der Ordnungskräfte konnte man sich nicht leisten. In nur 48 Stunden war das Problem geregelt – Frankreichs Polizisten durften ihre speziellen Rentenregelungen behalten. Ein Abstrich nach dem anderen an dem anvisierten universellen Rentenmodell. Klar, dass sich nun auch die Eisenbahner und andere Berufsgruppen sagen, warum sollen nicht auch wir unsere Sonderregelungen behalten dürfen.
Lehrer
So ziemlich am gründlichsten verhauen haben sich Macron & Co aber beim ohnehin unzufriedenen Personal im französischen Schulwesen. Dabei handelt es sich immerhin um 700’000 Menschen. Die notorisch ohnehin schlecht bezahlten französischen Lehrer – ein Kollege im Nachbarland Deutschland verdient gut 40 Prozent mehr – mussten plötzlich feststellen, dass heutige Berufseinsteiger am Ende ihrer Karriere monatlich zwischen 500 und 700 Euro weniger Rente bekommen würden.
Die Antwort der Regierung: Das Gehalt der Lehrer würde in den nächsten Jahren Jahren deutlich angehoben, dem entsprechend hätten sie am Ende dann auch mehr Rente. Das Problem: Kaum jemand traut dieser Aussage.
Aufgrund des Chaos und der Amateurhaftigkeit bei der Vorbereitung dieser Rentenreform hat die Regierung enorm viel Vertrauen verspielt. Mittlerweile muss sich Präsident Macron zum Beispiel immer häufiger den Vorwurf anhören, er, der neoliberale Ex-Banker und Präsident der Reichen, wolle mit dieser Reform die künftigen Rentner ja nur in die Arme der privaten Rentenversicherer und Investitionsfonds treiben. Dass dem Frankreichchef des US-Investmentfonds Blackrock just in diesen Tagen der Orden der Ehrenlegion verliehen wurde, sorgte für heftige Empörung.
Wie konnte es dazu kommen?
Nach fast sechs Wochen Streik ist nicht mehr zu verheimlichen, dass sich Emmanuel Macron und seine Regierung bei diesem Reformvorhaben äussert stümperhaft angestellt haben.
Das Beachtliche, ja fast Beunruhigende in der momentanen Situation ist die Tatsache, dass Präsident Macron, der Jupiter, der immer vorgab, alles im Griff zu haben, seit Beginn des Streiks de facto abgetaucht ist und sich so gut wie nie – es sei denn bei seiner Neujahrsansprache – zu dem Streit um ein Reformprojekt geäussert hat, welches er – anders als seine Vorgänger – vor seiner Wahl zum Präsidenten im Mai 2017 glasklar angekündigt hatte. Die Schmutzarbeit überlässt der Präsident jetzt aber schon seit Wochen seinem Premierminister, Edouard Philippe. Der schlägt sich, so gut er kann.
Wenn es am Ende schiefgehen sollte und nicht bald wieder Normalität und eine gewisse Ruhe im Land einkehren – so missmuten eine Reihe von Experten – könnte der Premierminister, wie in der bisherigen, von Macron gegeisselten „Alten Welt“, als Ventil und Puffer dienen und geschasst werden. Es wäre das endgültige Eingeständnis von Macron, dass es mit seiner vor 3 Jahren gross angekündigten „Neuen Welt“ nicht sehr weit her ist, einer Welt, in der ursprünglich Frankreichs Demokratie auf neue Beine gestellt werden sollte, mehr Beteiligung der Bürger möglich sein und althergebrachte Macht- und Entscheidungsstrukturen abgeschafft oder zumindest hinterfragt werden sollten.
Aussitzen
Wenn nicht alles täuscht, setzt Präsident Macron zum jetzigen Zeitpunkt weiter darauf, dass der Streik nach und nach im Sande verläuft. Eisenbahn und auch die Pariser Verkehrsbetriebe funktionieren seit drei Tagen deutlich besser – und dies zum ersten Mal seit Streikbeginn. Doch zu sagen, dass die Streikfront wirklich bröckelt, wäre vielleicht etwas zu früh.
Die Regierung hat den Vorschlag der reformistischen Mehrheitsgewerkschaft CFDT und ihres umsichtigen Generalsekretärs, Laurent Berger, aufgenommen, einen Finanzgipfel über die künftige Finanzierung der Renten ins Leben zu rufen, bei dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer bis April gemeinsam Lösungsvorschläge erarbeiten sollen, um ein 12-Milliarden-Loch in den Rentenkassen, das für 2027 prognostiziert wird, zu stopfen.
Gleichzeitig greift aber die ehemals kommunistische Gewerkschaft CGT, die nach wie vor die vollständige Rücknahme dieser Rentenreform fordert, mit martialischen Tönen auf ihre letzten Cartouchen zurück und versucht, Frankreichs Ökonomie an ihren empfindlichen Punkten zu treffen, indem sie ihre verbliebenen treuen Anhänger in den Raffinerien des Landes, in den Atomkraftwerken, den Müllverbrennungsanlagen und unter den Dockern in Frankreichs Häfen mobilisiert, die seit diesem Dienstag zwischen Marseille im Süden und Boulogne im Norden fast alle blockiert sind.
Politische Folgen
Auch wenn Präsident Macron es letztlich schaffen sollte, diese Rentenreform wie geplant bis zum Sommer durch die Parlamente zu bringen, so werden die seit Wochen andauernden heftigen Auseinandersetzungen in den verbleibenden zwei Jahren seiner Amtszeit mit Sicherheit Auswirkungen auf das politisch-gesellschaftliche Klima im Land haben.
Die Wunden, die die Gelbwestenbewegung seit Ende 2018 mit ihren Monate andauernden Protesten in den gesellschaftlichen Zusammenhalt des Landes geschlagen hatte, sind noch nicht verheilt, da sorgt diese historisch lange Streikbewegung erneut für Spannungen in weiten Teilen des Landes und verstärkt den Eindruck, dass Frankreich unter Macron einfach nicht mehr zur Ruhe kommt.
Das Misstrauen, die Wut, ja der Hass gegenüber den Regierenden und den Eliten, wie sie sich in diesem Land nun seit über einem Jahr manifestieren, können von der Politik kaum mehr aufgefangen werden. Die klassischen Parteien, ob konservativ oder sozialistisch, befinden sich seit der Präsidentschaft von Francois Hollande und endgültig seit der Wahl Macrons zum Staatspräsidenten im verlängerten Koma. Sie waren bei den letzten Wahlen gerade noch gut genug für 6 bis10 Prozent der Wählerstimmen! Und auch der Linksaussen Jean-Luc Melenchon, der bei den Präsidentschaftswahlen 2017 im ersten Durchgang noch 19 Prozent erzielt hatte, hat sich seitdem mit ultraradikalen, grossmäuligen Auftritten und einem aus den Fugen geratenen Ego selbst disqualifiziert.
Was bleibt also? Macron und Le Pen. Wem sich bei dieser Alternative der angestaute Unmut im Land zuwenden wird, dürfte klar sein. Das Duell, auf das Macron und Le Pen schon heute, mehr als zwei Jahre vor der nächsten Präsidentschaftswahl, setzen, hat etwas Beunruhigendes. 34 Prozent der Stimmen hatte Marine Le Pen bei der Stichwahl 2017 auf sich vereinen können. Meinungsumfragen heute, was immer sie auch wert sein mögen, sagen der Kandidatin der extremen Rechten für 2022 bis zu 45 Prozent vorher. Es könnte endgültig ungemütlich werden.