An den Sonntagen des 15. und 22. März wählt Frankreich seine Bürgermeister und -meisterinnen. Eine im europäischen Vergleich einmalige Wahl. Denn entgegen aller Vernunft hat dieses Frankreich immer noch über 35’000 eigenständige Gemeinden, von denen jede – und zähle sie nur zwanzig Einwohner – ihr Gemeindeoberhaupt wählt.
Kommunalwahlen in Frankreich, wo der Bürgermeister nach wie vor die beliebteste, oder besser gesagt die am wenigsten verachtete Sorte des Politikers repräsentiert, haben gleichzeitig immer auch etwas Kurioses, manchmal Groteskes.
Kuriositäten
In der Nähe von Bordeaux zum Beispiel, im Departement Gironde, tritt ein 97-Jähriger nochmals für weitere sechs Jahre an. Und irgendwo in Zentralfrankreich hat man einen ausfindig gemacht, der im stolzen Alter von 100 Jahren der älteste Gemeinderat des Landes ist. Und im Departement Aisne, nordöstlich von Paris, gibt es einen Bürgermeister, der seit Gründung der 5. Republik im Jahr 1958 im Amt ist.
Ja, Kommunalwahlen in Frankreich haben auch etwas Angestaubtes, erzählen in abertausenden kleinen Gemeinden, wo es meistens ohnehin nur eine einzige Liste gibt, von der so genannten guten alten Zeit, als die Welt noch in Ordnung und man noch unter sich war, fern von den Bedrohungen durch die Globalisierung.
Kurz vor den Kommunalwahlen 1995 etwa – man erinnert sich an eine Reportagereise – hing im Büro des Rathauses einer 300-Seelengemeinde im Departement Aube nicht nur, wie sich das in der Präsidialmonarchie nur mal gehört, das offizielle Foto des amtierenden Staatspräsidenten, damals Francois Mitterrand. Daneben prangte auch noch das verblasste Konterfei von General de Gaulle, so als wäre man noch in der Nachkriegszeit oder in der beginnenden 5. Republik und hätte es einfach nicht übers Herz gebracht, den grossen Charles abzuhängen.
Wenig Parteipolitisches
Kommunalwahlen sind in Frankreich alle sechs Jahre auch die Gelegenheit, dass die vernachlässigten, abgehängten Gebiete des Landes, die Nährböden der jüngsten Gelbwestenbewegung, in der breiten Öffentlichkeit für einige Wochen etwas mehr Aufmerksamkeit bekommen.
Dabei geht es bei diesem Urnengang in über 80 Prozent der rund 35’000 Gemeinden aber beileibe nicht um die grosse Politik oder um links und rechts. Kaum jemand unter den Kandidaten beruft sich ausserhalb der grossen und mittleren Städte offensiv auf eine Partei. Umso mehr, als die klassischen Volksparteien seit Macrons Wahl zum Staatsoberhaupt 2017 ohnehin in Auflösung sind und die junge Partei des Präsidenten, die eigentlich keine sein wollte, „La Republique en Marche“ (LREM), nach bald drei Jahren an der Macht im Élyséepalast und in der Nationalversammlung fast nirgendwo im Land wirklich an der Basis verankert ist.
Und doch wird Frankreich am 15. März, aber vor allem nach dem zweiten Durchgang am 22. März, nicht daran vorbeikommen, dass die Ergebnisse dieser Lokalwahlen auf unterschiedlichste Art und Weise als Votum auf nationaler Ebene, also für oder gegen den inzwischen reichlich gebeutelten, ja von vielen regelrecht gehassten Staatspräsidenten interpretiert werden. Davor herrscht im Umfeld Macrons jetzt schon das grosse Magenknirschen. Und dafür gibt es allen Grund. Denn in der Tat ist in kaum einer Grosstadt und auch kaum in einer mittleren Stadt ein Wahlergebnis abzusehen, das Präsident Macron als Erfolg für sich verkaufen könnte.
Beispiel Paris – ein Desaster
Rein soziologisch gesehen hätten der Kandidat oder die Kandidatin des Präsidenten zum Beispiel das Pariser Rathaus, auf das sich bei Kommunalwahlen im Land die Augen aller Kommentatoren richten, quasi mit links erobern müssen. Fast 35 Prozent der gentrifizierten Hauptstadtbevölkerung mit überdurchschnittlich hohem Einkommen hatten noch im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen vor nicht mal drei Jahren für Emmanuel Macron gestimmt. In der Stichwahl gegen Marine Le Pen waren es gar über 89 Prozent – 23 Prozent mehr als im Landesdurchschnitt!
Doch schon jetzt sieht der Ausgang bei den Pariser Kommunalwahlen für Macrons Partei nach einer Katatsrophe aus. Denn selbst in Paris sind ihre führenden Vertreter offensichtlich schlicht politische Analphabeten.
Zunächst und vor allem konnte man sich nicht mal auf einen einzigen Kandidaten einigen, der eigentlich Benjamin Griveaux heissen sollte. Schon vor einem Jahr hatte der 42-jährige Macron-Vertraute sein Amt als Staatssekretär und Regierungssprecher niedergelegt, um sich ausschliesslich der Eroberung des Pariser Rathauses zu widmen. Doch ein anderer, etwas exzentrischer Macron-Anhänger der ersten Stunde, Cédric Vilani, seines Zeichens einer der weltweit grössten Mathematiker und Abgeordneter der Macron-Partei, will unbedingt ebenfalls kandidieren. Nicht mal der Staatspräsident persönlich schaffte es vor wenigen Wochen, ihn davon abzubringen.
Dies war nicht nur ein Schlag für Jupiter und seine Autorität, sondern bleibt vor allem wahltaktisch der bare Unsinn.
Doch es sollte noch schlimmer kommen.
Benjamin Griveaux, der von Macrons LREM-Partei offiziell bestimmte Kandidat, musste eines Morgens im Februar mit Sterbensmine verkünden, dass er sich von der Kandidatur für das Pariser Rathaus zurückzieht. Der zweifache Familienvater hatte einer Frau, mit der er ein Verhältniss hatte, per Handy Videos geschickt, die einen Teil seiner Anatomie beim Onanieren zeigten. Dank der Hilfe eines anderen Geliebten der so Angebeteten landeten die Videos in den sozialen Netzwerken. Bei dem Informanten handelt es sich um einen russischen Asylanten mit furchterregendem Aussehen; er bezeichnet sich als Künstler und Aktivist in alle Richtungen und war vor wenigen Jahren vor Putin geflohen. – Das war’s dann mit der Kandidatur des Macron-Zöglings Benjamin Griveaux für das Pariser Rathaus.
Panik
Innerhalb von 48 Stunden und nur noch knapp einen Monat vor der Wahl musste die Macron-Partei einen neuen Kandidaten oder eine Kandidatin aus dem Hut zaubern.
Es traf Agnès Buzyn, die bis dahin amtierende Gesundheitsministerin, die eigentlich bis über beide Ohren mit der mehr als umstrittenen Rentenreform, vor allem aber mit der abgrundtiefen Krise der französischen Krankenhäuser beschäftigt war. Seit fast zwei Jahren schreien Krankenschwestern und Ärzte angesichts der Budgetkürzungen und Arbeitsbedingungen regelrecht um Hilfe. Es gibt einen Streik nach dem anderen, eine Hundertschaft von Direktoren der Krankenhäuser verweigert inzwischen jede administrative Zusammenarbeit mit den Behörden.
Egal. Die Personaldecke der Macron-Partei für herausragende Posten ist nun mal notorisch extrem dünn. Also musste Agnès Buzyn von heute auf morgen ihr Ministeramt niederlegen und in den Pariser Kommunalwahlkampf starten. Und so, als wäre nichts gewesen, erklärt sie seitdem hier und dort ihre Begeisterung für die Seine-Metropole. Tut, als hätte sie immer schon Pariser Bürgermeisterin werden wollen und kenne sich in der Stadt bestens aus. Sie vollführt eine Art Tanz, damit es am Ende für Macron nicht ganz so peinlich wird.
Bürgermeisterin der französischen Hauptstadt wird sie mit ziemlicher Sicherheit nicht werden. Das bisherige Stadtoberhaupt, Anne Hidalgo, eine der letzten Überlebenden aus der sozialistischen Partei in einem wichtigen Amt, dürfte wohl für weitere sechs Jahre gewählt werden. Es sei denn, Macrons neue Behelfskandidatin und Rachida Dati, Sarkozys ehemalige Justizministerin, die für die klassisch-konservative LR-Partei antritt, schmieden nach dem ersten Durchgang einen Pakt für die Stichwahl.
Tristesse auch anderswo
Gleichzeitig ist jetzt schon abzusehen, dass neben Paris in fast keiner einzigen wichtigen Stadt Frankreichs am 15. März ein Kandidat oder eine Kandidatin der Macron-Partei vorne liegen wird. Lille, Rennes, Nantes, Bordeaux, Montpellier, Marseille, Strassburg, Metz oder Nancy – keine Chance.
Schlimmer noch: In Nizza, der fünftgrössten Stadt Frankreichs, tritt gleich gar kein Kandidat der Präsidentenpartei an. In Toulouse musste sich die Macron-Partei damit bescheiden, den bisherigen Bürgermeister offiziell zu unterstüzten. Und selbst in Lyon, wo mit dem langjährigen Bürgermeister und ehemaligen Innenminister, Gérard Collomb, ein Macron-Anhänger der ersten Stunde nochmals antritt, zittert man vor dem Wählervotum und ist ein Sieg alles andere als sicher.
Und dann ist da noch der Fall Le Havre. Dort stellt sich Premierminister Édouard Philippe, bis 2017 Bürgermeister der Stadt, höchst persönlich dem Wählervotum. Gewinnt er nicht, wäre das eine schallende Ohrfeige für ihn und Präsident Macron – und die Hafenstadt im Nordwesten das herausragende Beispiel dafür, dass mit dem Ergebnis der Kommunalwahlen die nationale Politik von Regierung und Präsident abgestraft wurde.
Sind die Kommunalwahlen ein Indikator für die Lage auf nationaler Ebene? – Eine Frage, die in Frankreich traditionell nach jeder Kommunalwahl gestellt wird. Und auch diesmal werden die Antworten nicht grundsätzlich anders als gewohnt ausfallen. Präsident und Regierung haben schon im Vorfeld zu verstehen gegeben, es handle sich nun mal um Lokalwahlen, die über das wahre Kräfteverhältnis im Land nicht viel aussagten. Dementgegen wetzt die Opposition von ultrarechts, rechts und links jetzt schon die Messer in Erwartung der für Präsident Macron eher mässigen Ergebnisse. Man wird sie als Sanktion für Macrons Politik insgesamt und besonders für seine umstrittene und mehr als unpopuläre Rentenreform interpretieren.
Augen zu und durch
Der Wahl vorausgegangen sind die monatelang andauernde Gelbwestenbewegung, die ein selten erlebtes Mass an Gewalt an den Tag gebracht hat, und der seit Beginn der 5. Republik längste, bisher aber erfolglose Streik bei der Eisenbahn und den Pariser Verkehrsbetrieben gegen die Rentenreform. Somit finden diese Kommunalwahlen am nächsten und übernächsten Sonntag in einer ungewöhnlich angespannten Atmosphäre statt.
Eine Spannung, die noch zugenommen hat, nachdem die Regierung trotz aller Kritik an ihrer Rentenreform – unter anderem auch vonseiten des Conseil d’Etat, des obersten Verwaltungsgerichtes, welches die Gesetzesvorlage zur Reform sehr harsch als fehlerhaft und ungenügend kritisiert hatte – bei der ersten Lesung des Gesetzes im Parlament auch noch den Verfassungsparagraphen 49.3. gezückt hat. Dieser erlaubt es, eine Gesetzesvorlage voranzubringen oder endgültig durchzuboxen, bevor die parlamentarische Debatte zu Ende geführt und über den Text abgestimmt ist.
Das in einem solchen Fall geradezu obligatorische Misstrauensvotum hat die Regierung angesichts der Mehrheitsverhältnisse problemlos überstanden. Was nichts daran ändert, dass der Eindruck vorherrscht, Präsident und Regierung seien hinsichtlich der Rentenreform regelrecht verbohrt und gäben ein Bild ab, als würden sie nur noch nach Motto „Augen zu und durch“ agieren.
Die Anwendung des Paragraphen 49.3. hat im Land prompt zu einer zusätzlichen Welle von Frustration und Wut geführt. Es wäre fast ein Wunder, wenn sie sich nicht sehr deutlich auch in den Ergebnissen der Kommunalwahlen niederschlagen würde.