Schon wieder. Das Gefühl will nicht verschwinden, dass diese Art von Terroranschlägen in Frankreich nun wirklich zum Alltag gehören und sich in vieler Hinsicht gleichen, auch wenn die Hintergründe der grausamen Ermordung von zwei jungen Frauen in Marseille noch nicht wirklich geklärt sind.
Ein knapp 30-Jähriger, nordafrikanischer Herkunft, als Kleinkrimineller der Polizei bekannt, sticht mit einem Fleischermesser wiederholt auf zwei Frauen ein, ruft Allahu Akbar, versucht noch auf andere Passanten loszugehen, bevor er von einer Militärstreife erschossen wird. Das Ganze passiert auf dem Vorplatz des legendären Kopfbahnhofs Saint-Charles in Marseille. Die zwei jungen Frauen, 20 und 21, zwei Cousinen, hatten auf einer Steinbank mit Blick über die Stadt und auf das Mittelmeer gesessen und die Sonne genossen. Es war 13.45 Uhr.
Eben wie immer
Danach passierte das Übliche. Der Innenminister erklärte, er werde unmittelbar an den Tatort eilen, der für Stunden abgesperrt blieb, und wo jeder Zugverkehr bis zum Abend unterbrochen war. Am Nachmittag noch übernahm die Anti-Terroreinheit der Pariser Staatsanwaltschaft die Ermittlungen, und Politiker aller Couleur begannen, in den Medien ihre Kommentare zu streuen oder griffen zu Twitter. Eben wie immer. Präsident und Premierminister sprachen von Wut und Empörung, von Mitgefühl für die Opfer, von der Professionalität der Ordnungskräfte und der Wachsamkeit gegenüber dem Terrorismus, die nicht nachlassen dürfe.
Es mag ein Zufall sein - aber dieser Anschlag fand statt zwei Tage bevor Frankreich ein neues Antiterrorgesetz verabschiedet, mit dem eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die bisher nur im Rahmen des Ausnahmezustand vorgesehen waren, in die normale Gesetzgebung einfliessen. Und am Tag bevor der Prozess gegen den Bruder von Mohamed Merah begann, desjenigen, der im März 2012 in Toulouse eine neue Art von Terrorwelle ausgelöst hatte – erst drei französische Soldaten ermordete und später einen Lehrer und drei Kinder einer jüdischen Schule.
Terrorismus mit den geringsten Mitteln
Auch der Täter von Marseille, der wie viele andere praktisch alleine handelte, setzte – ob nun Verbindung zum IS besteht oder nicht – im Prinzip um, was der mutmassliche IS-Chefideologe Abu Mussab al Suhri schon vor Jahren in einem 1500-Seiten-Traktat propagiert hatte: Tötet mit allen Mitteln! Wenn ihr nichts anders habt, nehmt ein Messer, ein Beil oder euer Auto, greift die Ungläubigen an, möglichst an prominenten Orten und geht vor allem auf die Ordnungskräfte los. Es ist der Terrorismus mit den geringsten Mitteln, der keine grosse Organisation erfordert und kaum Geld nötig hat, nur – wenn man so sagen darf – die Bereitschaft zu sterben.
Und in Frankreich findet sich inzwischen pro Monat mindestens eine Person, die zu dieser Art von Lumpenterrorismus bereit ist.
Die Attacke in Marseille war bereits die achte dieser Art im Jahr 2017. Und jedes Mal an einem symbolischen Ort: mit dem Hammer vor Notre Dame, mit blossen Händen und dem Versuch, einer Militärstreife die Waffe zu entreissen auf dem Flughafen Orly, mit dem Messer auf eine Militärstreife in der zentralen Metrostation Châtelet in Paris, ein anderes Mal im Untergeschoss des Louvre, zwei Mal auf den Champs-Élysees mit Gewehr oder per Auto gegen einen Konvoi von Polizeiwagen, oder mit dem Kleinlieferwagen gegen Soldaten im Pariser Vorort.
Schleichende Verunsicherung
Jedes Mal reklamiert ein paar Stunden nach dem Anschlag die IS-Terrormiliz das Attentat für sich, so auch jetzt in Marseille, was inzwischen nicht unbedingt etwas heissen will. Der IS macht das inzwischen systematisch bei jedem Vorfall, der nach Terroranschlag aussehen könnte. Sogar Las Vegas nahm die Terrormiliz für sich in Anspruch.
Und jetzt also der Bahnhof von Marseille, das Tor zum Mittelmeer, die Stadt, die bisher vom Terror verschont geblieben war. Möglicherweise ist auch dieses Massaker an zwei jungen Frauen ein weiteres Beispiel für einen dezentralisierten Low-Cost-Terrorismus, bei dem unklar ist, ob er nach und nach und schleichend im Land nicht ebenso viel Verunsicherung auslöst wie die mörderischen Grossattentate im Bataclan oder auf der Uferpromenade in Nizza. Es wird auch zusehends schwerer sich vorzustellen, dass die Franzosen dies alles auf Dauer einfach so wegstecken werden.
Umkippen der Stimmung?
Denn: wie jedes Mal war auch in Marseille einer mit maghrebinischen Ursprüngen am Werk, diesmal sogar ein so genannter illegaler Einwanderer mit einem tunesischen Pass, der seit 2005 ohne gültige Papiere im Land lebt und unter insgesamt sieben verschiedenen Identitäten bekannt ist. Für die berühmte Volksseele ist derartiges zusehends schwieriger zu verdauen. Und es gibt nicht wenige, durchaus liberale und aufgeschlossene Geister in Frankreich, die irgendwann ein Umkippen der Stimmung befürchten und gelegentliche „Ratonnades“ – die Jagd auf Mitbürger mit arabischem Aussehen – ernsthaft befürchten.
Bei Frankreichs Soldaten jedenfalls zeigt dieser Alltagsterrorismus bereits erste Konsequenzen: In den letzten Monaten verzeichnete die Armee eine bislang beispiellose Welle von Kündigungen. Dabei soll es sich überwiegend um Soldaten handeln, die wie insgesamt 10’000 andere jetzt seit bald zwei Jahren in Frankreichs Städten Streife gehen müssen und deren Sorge ständig wächst, vom nächsten Gelegenheitsterroristen als Zielscheibe benutzt zu werden.