Auch wenn er enttäuscht ist, dass die Ukraine nicht sofort in die Nato aufgenommen wird: Präsident Selenskyj kehrt keineswegs mit leeren Händen in die Ukraine zurück. Die Nato-Staaten haben deutlich gemacht, dass sie das überfallene Land auch längerfristig nach besten Kräften, konkret mit Waffen und Geld unterstützen werden. Für Putin ist das keine gute Nachricht.
Für Präsident Joe Biden hätte das Treffen nicht besser verlaufen können. CNN kommentierte am späten Mittwochabend: «Joe Biden hat auf dem Nato-Gipfel fast alles bekommen, was er wollte.»
Als er den Gipfel in Vilnius verliess, sagte Biden, das Treffen sei ein Beweis dafür, dass die westliche Allianz «nicht wanken» werde. Tatsächlich: Der Nordatlantikpakt trat in überraschender, unzweideutiger Einheit auf.
«Als Putin mit seiner feigen Gier nach Land und Macht seinen brutalen Krieg gegen die Ukraine entfesselte, wettete er, dass die Nato auseinanderbrechen würde ... er dachte, unsere Einheit würde bei der ersten Prüfung zerbrechen. Er dachte, die demokratischen Führer würden schwach sein. Aber er hat falsch gedacht», sagte Biden in einer Rede an der Universität Vilnius.
Selenskyj spricht von «bedeutendem Erfolg»
Nicht nur Biden, auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt sich über die Ergebnisse des Gipfels sehr zufrieden und sprach von einem «bedeutenden Erfolg für die Ukraine». Das Ergebnis sei «dringend notwendig». Er dankte den Nato-Staats- und -Regierungschefs für ihre «praktische und beispiellose Unterstützung». Er kehre jetzt mit Sicherheitsgarantien nach Hause. Dies sei «ein bedeutender Sieg für die Ukraine, für unser Volk, für unsere Kinder».
Am Tag zuvor hatte es noch anders geklungen. Selenskyj hatte seine Verärgerung darüber, dass sein Land nicht sofort Nato-Mitglied wird, offen zum Ausdruck gebracht. Die Haltung der Nato sei «absurd», hatte er gesagt. Doch die Gespräche, die er dann in der litauischen Hauptstadt Vilnius führte, brachten ihn zur Überzeugung, dass der Nordatlantikpakt voll und ganz hinter seinem Land steht. Selenskyj geht ganz klar gestärkt aus diesem Treffen hervor.
«So lang wie nötig»
Am Mittwoch traf Selenskyj mit dem amerikanischen Präsidenten zusammen. «Die Vereinigten Staaten tun alles, was wir können», sagte Biden. Die ukrainische Widerstandsfähigkeit und Entschlossenheit sei «ein Vorbild für die ganze Welt». Er könne verstehen, dass Selenskyj «frustriert» sei, weil sein Land nicht sofort in die Nato aufgenommen würde. «Aber ich verspreche Ihnen, dass die Vereinigten Staaten alles in ihrer Macht stehende tun, um Ihnen das, was Sie brauchen, so schnell wie möglich zukommen zu lassen.» Biden versprach erneut, der Ukraine so lange wie nötig zu helfen («for as long as it takes»).
Selenskyj hätte gewünscht, dass die Nato einen Zeitplan für eine Mitgliedschaft der Ukraine aufstellen wird. Vor allem die USA, Deutschland, die Niederlande und andere westeuropäische Länder wehrten sich dagegen. Sie betrachten eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine als «verfrüht». Nachdem Selenskyj diese Haltung zunächst mit einem gedämpften Wutausbruch quittiert hatte, tönte es am Mittwoch plötzlich anders. Er verstehe, dass sein Land nicht während des Krieges Nato-Mitglied werden könne, sagt er.
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte ihn besänftigt. «Wir treffen uns heute als gleichwertige Partner und ich freue mich auf den Tag, wenn wir uns als Verbündete sehen», sagte Stoltenberg. In der Abschlusserklärung des Gipfels heisst es, dass «die Zukunft der Ukraine in der Nato» liege. Aber eben: Ein Zeitplan wurde nicht aufgestellt.
Sonderbehandlung der Ukraine
Damit ein Land in die Nato aufgenommen wird, musste es bisher ein mehrstufiges, anspruchsvolles Aufnahmeverfahren durchlaufen: den «Membership Action Plan» (MPA). Von dieser Prüfung wurde nun die Ukraine befreit, was ein einmaliges Entgegenkommen der Nato ist. Die Ukraine könnte also künftig, wenn die Zeit reif ist, ohne dieses meist mehrjährige Aufnahmeverfahren aufgenommen werden. Damit setzt der Nordatlantikpakt ein wichtiges Zeichen. Selenskyj begrüsst dies. Eine formelle Einladung zum Beitritt in die Nato wäre allerdings «optimal» gewesen, sagt er.
Doch die Sorge im Bündnis überwog, dass eine überstürzte Mitgliedschaft der Ukraine keine gute Idee gewesen wäre. Der Westen fürchtete, dass bei einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine der ganze Nordatlantikpakt wegen des berühmten Artikels 5 der Nato-Charta (Bündnis-Fall) in einen Krieg mit Russland hineingezogen werden könnte.
Mehrere Nato-Staaten erwähnten, dass die Ukraine für eine Mitgliedschaft im Bündnis nocht nicht reif sei. Zuerst müssten innere Reformen durchgeführt und die Institutionen gestärkt werden. Vor allem in der Korruptionsbekämpfung müssten Fortschritte gemacht werden. Das Land galt vor dem Krieg als eines der korruptesten Länder Europas.
Starkes Symbol
Doch auch wenn kein konkreter Plan zur Aufnahme des Landes in die Nato besteht: die Ukraine wird näher an den Nordatlantikpakt herangeführt. Gebildet wird ein Nato-Ukraine-Rat. Dieser soll vier Mal pro Jahr zusammentreten. Obwohl die Ukraine in diesem Rat ein Stimmrecht wie die anderen 31 Nato-Staaten erhält, wird sich der Einfluss Kiews in Grenzen halten müssen. Es ist jedoch ein starkes Symbol, dass die Nato die Ukraine auch in Zukunft nicht fallen lässt.
G7
Auch eine gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten macht der Ukraine Mut. Darin wird der Ukraine «bis weit in die Zukunft» Unterstützung zugesagt.
Mehr Waffen
Wie erwartet wurden der Ukraine neue Waffenlieferungen zugesagt. Frankreich wird Cruise Missiles vom Typ Storm Shadow mit einer Reichweite von bis zu 250 Kilometern liefern. Russland reagierte bereits darauf und bezeichnete dies als «Fehler». Moskau warnte vor «Gegenmassnahmen», die allerdings nicht näher bezeichnet wurden.
Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte neue Waffenhilfe in Höhe von 700 Millionen Euro an. Deutschland liefert weitere 40 Schützenpanzer vom Typ Marder, 25 Kampfpanzer vom Typ Leopard 1A5, Bergepanzer aus Industriebeständen und zwei Abschussgeräte für Patriot-Flugabwehrraketen. Nicht genug: Dazu kommen 200’000 Schuss Artilleriemunition, 5000 Schuss Nebelmunition, Aufklärungsdrohnen und Mittel zur Abwehr von Drohnenangriffen.
Am Mittwoch kündigte auch London die Lieferung von mehr Panzermunition sowie Dutzenden von gepanzerten Fahrzeugen an. Nicht sehr diplomatisch hatte sich der britische Verteidigungminister Ben Wallace geäussert, als er sagte, Grossbritannien sei nicht «Amazon», wo man einfach Waffen bestellen könne. Wallace entschuldigte sich später und sagte, er sei falsch verstanden worden.
Norwegen will weitere 218 Millionen Euro an die ukrainische Armee überweisen. Australien liefert 30 Truppentransportpanzer vom Typ Bushmaster.
Die grosse Frage, die über allem steht, ist: Werden diese zusätzlichen Waffenlieferungen genügen, der ukrainischen Offensive neuen Schub zu verleihen? Da sind Zweifel angebracht.
Pilotenausbildung
Ab dem kommenden Monat werden Dänemark und die Niederlande ukrainische Piloten für einen Einsatz in amerikanischen F-16-Kampfjets ausbilden. Auch Grossbritannien, Polen, Luxemburg und Kanada beteiligen sich an diesem Ausbildungsprogramm. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow, der sich ebenfalls in Vilnius befindet, hofft, dass die Ausbildung nicht länger als sechs Monate dauern wird.
Erdoğans Kehrtwende
Die Augen waren an diesem Nato-Treffen zunächst vor allem auch auf den türkischen Präsidenten gerichtet. Es ist noch nicht allzu lange her, als Recep Tayyip Erdoğan den Kreml-Chef als «meinen Freund» bezeichnete. Während sich die Nato um Einheit und Geschlossenheit bemühte, trat Erdoğan als Spielverderber auf und blockierte die Nato-Mitgliedschaft Schwedens. Am Montag dann die Kehrtwende. Plötzlich liess er seine Einwände gegen Schweden fallen.
Noch ist nicht im Detail bekannt, wie sich der Westen diesen Rückzieher erkauft hat. Hat man Erdoğan Beitrittsverhandlungen mit der EU in Aussicht gestellt? Das wäre verwunderlich angesichts des quasi-diktatorischen Regimes, das in der Türkei herrscht und angesichts der Menschenrechtsverletzungen und der Zensurpolitik.
Schweden musste in die Knie gehen, hat seine Antiterrorgesetze verschärft, seine Verfassung geändert und sich bereit erklärt, eine Reihe von Personen auszuliefern, um die die Türkei gebeten hat. Kurdische Flüchtlinge, die Schweden aufgenommen hatte, fürchten jetzt um die Auslieferung. Zudem erklärt sich Schweden bereit, die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Türkei zu intensivieren.
Aus der Not heraus geboren
Vermutlich war Erdoğan aus wirtschaftlichen Nöten dazu gezwungen, das Veto gegen Schweden fallen zu lassen. Mit einer Brücke zum Westen sieht er offenbar die Möglichkeit, aus der schweren türkischen Wirtschaftskrise herauszufinden.
Anderseits kann er seine jetzt beendete Blockade-Politik gegen Schweden als Erfolg verbuchen. Er wurde international bekniet und gehätschelt. Präsident Biden und Aussenminister Blinken sprachen mehrmals mit ihm. Erdoğan hat demonstriert, dass es ohne ihn nicht geht. Innenpolitisch wurde er damit klar aufgewertet.
Doch ganz fallen lässt Erdoğan seinen bisherigen Freund Putin nicht. Es ist nicht zu erwarten, dass der türkische Präsident jetzt die westlichen Sanktionen gegen Russland unterstützt.
Hat Putin wieder einen «Freund» verloren?
Putin hat das Nato-Treffen sehr genau verfolgt. Dass der türkische Präsident sich jetzt offenbar wieder vermehrt nach Westen wenden will, ist ein Schlag für ihn. Hat er schon wieder «einen Freund» verloren?
Auch die netten Worte, die Erdoğan für Präsident Biden übrig hatte, werden Putin wohl kaum gefallen. Der türkische Präsident bezeichnete das Treffen mit Biden am Dienstag als «ersten Schritt» für eine engere Beziehung mit den USA. Mehr noch: Er wolle für den Rest seiner fünfjährigen Amtszeit «mit Biden zusammenarbeiten». Und: Im Hinblick auf die bevorstehenden Wahlen in den USA «möchte ich diese Gelegenheit nutzen, um auch Ihnen viel Glück zu wünschen», sagte Erdoğan. «Vielen Dank», entgegnete Biden lachend, «ich freue mich auf die Zusammenarbeit in den nächsten fünf Jahren.»
Erhält nun die Türkei die seit langem gewünschten amerikanischen F-16-Kampfflugzeuge? Biden scheint dies zu befürworten, doch das letzte Wort hat der amerikanische Kongress.
Und jetzt? Das Schlachtfeld
Auch wenn Selenskyj enttäuscht ist, dass sein Land nicht sofort in die Nato aufgenommen wird: Die Ukraine hat in Vilnius viel gewonnen. Nämlich das feste Bekenntnis, dass die Nato voll und ganz hinter der Ukraine steht und das überfallene Land auch längerfristig finanziell und militärisch unterstützen will. Die Ukraine «steht der Nato jetzt näher als je zuvor», sagte der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Befürchtete Risse innerhalb des Bündnisses traten in Vilnius nicht zutage. Die 31 Nato-Länder traten überraschend geeint auf. Die baltischen Staaten, die eine schnelle Aufnahme der Ukraine in die Nato verlangt hatten, gaben sich mit den klaren Bekenntnissen der Nato zur Ukraine zufrieden.
Und jetzt? Jetzt kehrt Selenskyj nach Hause zurück und muss seiner Armee weiterhin Mut machen. Nun sind die Augen wieder auf die ukrainischen Streitkräfte und ihre Gegenoffensive gerichtet. Jetzt liegt es an der ukrainischen Armee, auf dem Schlachtfeld Erfolge vorzuweisen.