Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seinen Widerstand gegen eine Nato-Mitgliedschaft Schwedens aufgibt, ist sicher ein grosser Erfolg des Westens – und eine Klatsche für Putin. Doch das Hauptproblem bleibt: die stockende ukrainische Offensive in der Ukraine.
Die ukrainische Gegenoffensive kommt nur schleppend voran. Die Nato hatte sich Illusionen gemacht. Sie hatte gehofft, dass die Ukraine am jetzigen Nato-Meeting in Vilnius einen Vormarsch im Osten und Süden vermelden kann. Doch es ist eher ein Vorkriechen als ein Vormarschieren.
Der Grund ist bekannt: Zwar haben die USA, Grossbritannien und andere westliche Staaten das überfallene Land mit militärischem Material im Wert von über 60 Milliarden Euro *) beliefert. Doch das genügt nicht. Es fehlt an fast allem: an Raketenwerfern, Haubitzen, Flab-Systemen und Kampfflugzeugen. Und jetzt droht auch die Munition auszugehen.
Gegen die russische Luftüberlegenheit haben die Ukrainer in den weiten ungeschützten Gebieten südlich von Saporischschja einen schweren Stand. Die seit Monaten gross angekündigte Gegenoffensive stockt. Dass die USA der Ukraine jetzt international geächtete Streumunition liefert, kommt fast schon einem Verzweiflungsakt gleich.
Putin sitzt am längeren Hebel. Er kann Zehntausende, Hunderttausende zusätzliche Soldaten mobilisieren. Seine Rüstungsindustrie läuft auf Hochtouren. Er kann es sich leisten, den Krieg noch jahrelang weiterzuführen.
Die Ukraine kann das nicht. Sie hängt am Tropf des Westens. Und in diesem Westen sind Ermüdungserscheinungen sichtbar. Schon hört man Fragen: Was nützen all die westlichen Hightech-Waffen wenn am Schluss Putin doch gewinnt?
Bereits gibt es Stimmen, die Putin einen Teil der Ukraine anbieten wollen, damit die Waffen endlich schweigen. Das wäre naiv und unklug. Putin würde dann erst recht Blut riechen und nach kurzer Kampfpause erneut zuschlagen. Und wahrscheinlich nicht nur in der Ukraine. Er hat mehrmals klargemacht, dass er es als seine historische Mission empfindet, «die russische Erde» heimzuholen. Er sieht sich als Zar Peter der Grosse.
Vor diesem Hintergrund treffen sich jetzt die Nato-Staats- und -Regierungschefs zu ihrem wohl wichtigsten Meeting seit Jahrzehnten. Wie geht man jetzt mit der Ukraine um? Wie kann man ihr helfen? Wie kann man der aufkommenden Lethargie im Westen entgegenwirken? Was soll der Ukraine versprochen werden?
Soll man die Ukraine in die Nato aufnehmen? Das wäre zum jetzigen Zeitpunkt sicher ein deutliches Zeichen an Putin – aber laut Präsident Biden keine gute Idee. Dann würde sich nämlich faktisch der Westen wegen des Nato-Artikels 5 (Bündnisfall) im Krieg mit Russland befinden. Das will niemand. Dann bestünde die Gefahr eines Ost-West-Krieges mit Einsatz atomarer Waffen.
Neben den USA wenden sich auch Deutschland, die Niederlande und andere Länder gegen einen jetzigen Nato-Beitritt der Ukraine. Biden sagte letzten Monat, dass es «keine Abkürzungen» für einen Nato-Beitritt der Ukraine geben werde, auch nicht nach dem Krieg.
Doch das Thema ist in Vilnius nicht vom Tisch. Die baltischen Staaten, die sich – nicht zu Unrecht – von Russland besonders bedroht fühlen, verlangen einen raschen Beitritt der Ukraine zur Nato – sobald die Kämpfe beendet sind. Biden wird ihnen entgegenkommen müssen und sich grundsätzlich für eine solche Mitgliedschaft aussprechen. Im Schlusscommuniqué wird es wohl heissen: «Die Ukraine hat einen rechtmässigen Platz (rightful place) im Nato-Bündnis.» Wird man einen vielsagenden Zusatz beifügen, etwa: «… wenn die Bedingungen es erlauben»? Doch Selenskyj pfeift auf diplomatische Formulierungen. Er braucht konkrete Unterstützung.
Immerhin wird man in Vilnius der Ukraine wohl anbieten, am Katzentisch der Nato zu sitzen. Konkret: Man wird Kiew erlauben, am Nato-Hauptsitz in Brüssel ein Büro zu eröffnen, ohne dass das Land Einfluss auf die Nato-Politik haben wird. Einen solchen «council status» hatte auch Russland einst inne, bevor es nach der Krim-Invasion verbannt wurde.
Wichtig ist, dass die Nato geeint auftritt. Je länger der Krieg dauert, desto mehr sind Risse im Nato-Bündnis sichtbar. Im Nordatlantikpakt herrscht das Konsensprinzip. Kleine Nato-Staaten wie Ungarn können die grossen Geldgeber wie die USA und Grossbritannien provozieren, verärgern und Entscheidungen zunichtemachen. Eine uneinige Nato wäre das grösste Geschenk für Putin.
Doch nicht alles läuft für Putin nach Plan. Dass Erdoğan sich jetzt für eine Nato-Mitgliedschaft Schwedens ausspricht, ist ein schwerer Rückschlag für den Kreml-Herrscher. Präsident Biden, der am Montag lange mit Erdoğan telefoniert hatte, ist es offenbar gelungen, den türkischen Prtäsidenten zu einer Kehrtwende zu bewegen. Erdoğan, der Putin «meinen Freund» nannte, gab sich bisher als Vermittler im Konflikt, schwenkt aber jetzt offenbar ins westliche Lager ein. Vielleicht aus wirtschaftlicher Not. Hat ihm die die EU neue Beitrittsverhandlungen zugesichert?
Die Ukraine braucht jetzt dringend wichtige Siege an der Ost- und Südfront. Ohne solche Siege schwindet die westliche Bereitschaft, Waffen zu liefern. Und ohne solche Siege nimmt die Kampfmoral der ukrainischen Truppen ab.
Und um Terrain zurückzugewinnen, um bis ans Asowsche Meer vorzustossen, braucht es mehr Waffen, Hightech-Waffen, Kampfflugzeuge, weit reichende Raketenwerfer. Einige Flabgeschosse und Panzer genügen da nicht mehr. Und vor allem genügen salbungsvolle Reden von Spitzenpolitikern nicht. Die Ukraine braucht «hard stuff», «hardware».
Die USA werden sicher weitere milliardenteure Waffen liefern. Präsident Biden kann es sich nicht leisten, dass Putin obenauf schwingt. In anderthalb Jahren finden in den USA Präsidentschaftswahlen statt. Dann wird er gefragt werden, was die milliardenteuren Waffen gebracht haben – ausser einem Riesenloch im amerikanischen Budget?
Und natürlich gibt es die Horrorvorstellung, dass 2024 Trump oder DeSantis gewählt werden. Beide haben angekündigt, die Ukraine-Hilfe radikal zurückzufahren. Die Russen werden sicher wieder den Wahlkampf beeinflussen. Sie haben gezeigt, dass sie das können. Ja, Putin glaubt, Zeit zu haben.
Selenskyj ist zunehmend verärgert über die zögerliche Haltung mancher Staaten. «Merkt ihr nicht, dass auch eure Freiheit auf dem Spiel steht», sagt er immer wieder. Die Schweiz mit ihrer feigen sogenannten Neutralitätspolitik erwähnt er schon gar nicht mehr. Unser Land spielt keine rühmliche Rolle. Spätere Geschichtsschreiber werden uns das zur Genüge und mit Recht um die Ohren schlagen.
Der Gipfel der 31 Nato-Staaten in der litauischen Hauptstadt könnte zu einer Zäsur werden – im Guten oder im Schlechten. Vielleicht wird das Meeting einst in die Geschichtsbücher eingehen.
Von Vilnius muss Selenskyj jetzt ein klares, mutiges, unzweideutiges Signal erhalten, dass der Westen nach wie vor geeint voll und ganz hinter der Ukraine steht. Nur so kann er den eigenen Truppen, die einen schlimmen Blutzoll zahlen, neuen Mut machen zu kämpfen.
Es geht längst nicht mehr nur um die Ukraine.
Die Nato-Länder haben in Vilnius die historische Aufgabe und Verantwortung, die Freiheit im Westen zu verteidigen und einen grössenwahnsinnigen Möchtegern-Zaren in die Schranken zu weisen.
*) Kieler Institut für Weltwirtschaft