Seit den Erfolgen bei den Präsidentschafts- und vor allem bei den Parlamentswahlen vor 5 Monaten ist Marine Le Pens rechtsextremes «Rassemblement National» bemüht, sich einen seriösen Anstrich zu geben, Entgleisungen zu vermeiden und sich als Partei wie alle anderen zu präsentieren. Doch vergangene Woche ging in dieser Strategie etwas gründlich schief.
Zur Erinnerung: Ende April hatte Marine Le Pen im 2. Durchgang der Präsidentschaftswahl beachtliche 41 Prozent der Stimmen erzielt und gegenüber 2017 um satte 8 Prozent zugelegt.
Noch beeindruckender, ja historisch, war dann im Juni das Ergebnis der Parlamentswahlen, welches Marine Le Pens Partei einen neuen Status und eine unübersehbaren Präsenz in der Nationalversammlung einbrachte und ihr zu einer ganz neuen Dimension verholfen hat.
Denn jetzt sitzen nicht mehr nur eine Hand voll Abgeordnete ihrer Partei, mal 5, mal 8 reichlich verloren in den hintersten Reihen des Parlaments, wie dies in den letzten Legislaturperioden der Fall gewesen war.
Nein, das «Rassemblement National» füllt nun einen ansehnlichen Teil im Halbrund des Abgeordnetensaals, weil sie es trotz des Mehrheitswahlrechts geschafft hat, mit 89 Vertretern plötzlich sogar die stärkste Oppositionspartei im französischen Parlament zu sein. Die Linkspartei «La France Insoumise» (LFI) zählt nur 75, die einst staatstragende konservative Partei «Les Républicains» ganze 62 Abgeordnete, von den Sozialisten sind nur noch 31 übrig geblieben, die Grünen bringen es auf 23.
Das ist eindeutiges Zeichen dafür, wie weit nach rechts die Wählerschaft in einem Teil des so genannten flachen Landes – vor allem im Norden und Osten Frankreichs – inzwischen gerückt ist.
Denn man muss sich vor Augen halten: In 89 der 577 Wahlkreisen hat das «Rassemblement National» alle anderen Kandidaten schlicht weggefegt. Bei der entscheidenden Stichwahl um die Abgeordnetensitze – mancherorts sogar bereits im ersten Durchgang – haben mehr als 50% der Wähler für eine Kandidatin oder einen Kandidaten der extremen Rechten gestimmt.
Ja es gibt jetzt sogar einige Departements, die in der Assemblée Nationale nur noch durch Abgeordnete des «Rassemblement National» vertreten sind.
Düstere Zukunft
Dieses Ergebnis der Parlamentswahlen war ein echter Schock für das Land, weil es auch dem Letzten klarmachen musste, dass in Frankreich nach den Ergebnissen dieses Wahljahres 2022 der Weg der extremen Rechten an die Macht ganz eindeutig immer kürzer wird und ihr Sprung an die Macht jetzt nur noch eine Frage der Zeit zu sein scheint.
Denn Emmanuel Macron darf 2027 nicht noch ein drittes Mal für das Präsidentenamt antreten, und wer dann derjenige oder diejenige sein könnte, für den linke und liberale Wähler im zweiten und entscheidenden Durchgang stimmen würden, einzig und allein, um Marine Le Pen als Präsidentin zu verhindern – dies steht in den Sternen. Macrons ehemaliger Premierminister, Edouard Philippe, scheint sich in Stellung zu bringen, doch ob er mit seiner gerade erst gegründeten Kleinpartei «Horizon» das nötige Gewicht haben könnte, ist zur Stunde mehr als fraglich, und bis 2027 ist noch ein langer Weg.
Und von der anderen Seite, von der linken, braucht man sich gar nichts zu erwarten. Sollte es einer ihrer Kandidaten in 4½ Jahren in die Stichwahl schaffen, stände er dort von vornherein auf verlorenem Posten gegen die rechtsextreme Kandidatin. Niemals würden andersherum genügend konservative Wähler im entscheidenden zweiten Durchgang für ihn stimmen, um Marine Le Pen den Weg in den Elyseepalast zu verstellen.
Zumal es unter den rechtskonservativen Wählern Frankreichs immer mehr gibt, die mittelfristig für ein Zusammengehen zwischen «Rassemblement National» und Teilen der Partei «Les Républicains» eintreten, um hierzulande eine echte, so genannte «Neue Rechte» aus der Taufe zu heben.
Eine ganz normale Partei
Derweil kommt das «Rassemblement National» mit der Masse von 89 Abgeordneten und als stärkste Oppositionspartei für die nächsten Jahre erstmals in seiner Geschichte auch in den Genuss, mit an den Schalthebeln der Parlamentsmaschine zu sitzen.
Die Partei stellt plötzlich zwei von sechs Vizepräsidenten der Assemblée Nationale, ist in jeder Parlamentskommission zahlreich vertreten, ja hat sogar eine Abgesandte im Geheimdienstausschuss und kann als Fraktion mit mehr als 60 Abgeordneten jetzt auch gegen Gesetzesvorlagen, die ihr zuwiderlaufen, das Verfassungsgericht anrufen.
Gleichzeitig hat sich die Redezeit der extremen Rechten im Parlament vervielfacht, und im Foyer des hohen Hauses erscheinen ihre Vertreter nun dichtgedrängt, um an die Mikrophone und vor die Kameras zu streben.
Ja selbst in der Fussballmannschaft der Nationalversammlung meldeten sich jetzt Abgeordnete des «Rassemblement Nationale» an, um mitzumachen. Allerdings: Einige fussballbegeisterte Volksvertreter der Linken weigern sich bislang, mit diesen Herrschaften gemeinsam den Ball zu treten. Der Prinzipienstreit ist noch in der Schwebe, Ausgang ungewiss. Prognose: Die Herren von extrem rechts werden irgendwann auch mitkicken.
Um diesen Prozess der vorgeblichen Normalisierung des « Rassemblement National», den sie schon seit Jahren beschwört, weiter voranzutreiben, lässt die Fraktionschefin, Marine Le Pen, nichts unversucht und achtet auf die kleinsten Kleinigkeiten.
Nach dem Wahlerfolg lautete ihre Devise an die Abgeordneten, ganz überwiegend Novizen im nationalen Parlament: Verhaltet euch gefälligst ruhig und gemässigt, gebt euch seriös und verzichtet auf pöbelnde Zwischenrufe und andere Unanständigkeiten. Und um den Mitgliedern der jetzt stärksten Oppositionspartei noch einen zusätzlichen Anstrich der Respektabilität zu geben, wurde den männlichen Abgeordneten des «Rassemblement National» sogar eine Krawattenpflicht auferlegt.
«Kehrt nach Afrika zurück»
Letzte Woche aber erhielt diese Weisswaschstrategie der Fraktionsführerin des «Rassemblement National» einen, zumindest vorübergehenden, herben Rückschlag.
Es war Fragestunde im Parlament, und Carlos Martens Billongo, ein Abgeordneter der Linkspartei LFI aus einem Wahlkreis in den nördlichen Pariser Vorstädten, dessen Eltern aus Angola und dem Kongo stammen, wollte von der Regierung wissen, was sie zu tun gedenke für die über 200 im Mittelmeer geretteten Flüchtlinge, die sich derzeit auf dem Rettungsschiff «Ocean Viking» der französischen Hilfsorganisation «SOS Méditerrannée» befinden und welche die neue italienische Regierung nicht an Land lassen will.
Während der Abgeordnete etwa zwei Minuten lang seine Frage stellte, begann es auf den Bänken der Abgeordneten des «Rassemblement National» zu rumoren, bevor dann der Zwischenruf zu vernehmen war, der da lautete: «Qu’il(s) retourne(nt) en Afrique.» Also, da es sich in der gesprochenen französischen Sprache nicht unterscheiden lässt: Entweder sollte laut des Zwischenrufers der in Frankreich geborene, dunkelhäutige Abgeordnete nach Afrika zurückkehren oder aber das Rettungsschiff «Ocean Viking» oder die Insassen dieses Rettungsschiffes.
Wie auch immer: Die Aussage war offen rassistisch, folglich Tumult im Parlament, Empörung bei allen Parteien, Schimpfwörter flogen durch die Luft, dutzende Abgeordnete stürzten von den Rängen nach unten, unter den Sitz der Parlamentspräsidentin mit Rufen wie «dehors, dehors» oder «raciste», die schwarz gekleideten Saalordner mit Silberkette über dem Bauch mussten eingreifen, die Sitzung abgebrochen werden, die Parlamentspräsidentin sprach von einem schwerwiegenden Vorfall, der Sanktionen nach sich ziehen werde, über welche das Büro der Nationalversammlung am folgenden Tag zu entscheiden habe.
Der Zwischenrufer aus den Reihen der extremen Rechten hatte zu diesem Zeitpunkt den Plenarsaal bereits durch ein Hintertürchen verlassen, doch sein Name zirkulierte schon wenig später in den heiligen Hallen der Assemblé: Grégoire de Fournas, frisch gewählter Abgeordneter aus dem Département Gironde und seines Zeichens Weinbauer in einem Familienunternehmen im Medoc.
Um dieses darf sich der Herr nun in Ruhe kümmern, denn er erhielt tags darauf die Höchststrafe, die für derartige Fälle vorgesehen ist: 14 Tage lang darf er die Nationalversammlung nicht mehr betreten, zwei Monate lang bekommt er nur die Hälfte seines Salärs.
Besessen vom Thema Immigration
Marine Le Pen, die sich im Moment des Zwischenrufs nicht im Parlament befand, soll, als ihr der Vorfall zu Ohren kam, nur gesagt haben «Quel con!» (Was für ein Trottel!). In öffentlichen Äusserungen hielt sie dem Geschassten allerdings die Stange. Denn immerhin hätte dieser Trottel wenige Tage später eigentlich zum Sprecher der RN-Fraktion in der Nationalversammlung ernannt werden sollen, nun muss man einen anderen suchen und finden.
Nach seinem Zwischenruf musste der mit Sanktionen belegte Abgeordnete de Fournas dann auch noch hinnehmen, dass seine jüngere politische Vergangenheit näher beleuchtet wurde, wobei eine ganze Reihe von Unappetitlichkeiten ans Licht kam.
Als Abgeordneter im Departementsrat Gironde hatte er sich seit 2015 durch seine regelrechte Besessenheit in Fragen der Immigration aus Afrika ausgezeichnet, die er regelmässig als Invasion bezeichnete. Auf Facebook nannte er farbige Migranten Ratten, Mist oder Scheisse. Der praktizierende Katholik und Vater von fünf Kindern hat sich in den letzten Jahren ausserdem mehrfach und ganz offen als zutiefst homophob und sexistisch präsentiert.
Fremdenfeindlichkeit weiter beherrschend
Innerhalb weniger Sekunden hatte der frischgebackene Abgeordnete also die Anstrengungen von Marine Le Pen, ihre Partei endgültig hoffähig zu machen, zumindest vorübergehend zunichte gemacht. Die alte, klassische DNA der französischen Rechtsextremen war plötzlich wieder im hellen Tageslicht erschienen. Denn trotz aller Säuberungsbemühungen nach aussen hin bleibt das «Rassemblement National» eine eindeutig ausländerfeindliche Partei und die so genannte «Nationale Präferenz» gehört nach wie vor zu den Grundfesten ihres Programms.
Gleichzeitig ist es alles andere als gewiss, dass im weiteren Verlauf der Legislaturperiode unter den 89 rechtsextremen Abgeordneten nicht noch einige weitere Schmuddelkinder ausfindig gemacht werden, deren Äusserungen oder Handlungen, ob heute oder in der Vergangenheit, so gar nicht zu Marine Le Pens Vorhaben passen würden, ihre 89 Fraktionsmitglieder als seriöse, untadelige Republikaner und Demokraten zu präsentieren.
Ihre nun zahlreichen Parlamentarier als seriös, geläutert und kompetent zu präsentieren, ist nur ein weiterer Schritt in Marine Le Pens von langer Hand geplanten Strategie, die mehr als zweifelhafte Vergangenheit ihrer Partei vergessen zu machen. Dieser Partei, die vor ziemlich exakt 50 Jahren von ihrem Vater, Jean Marie Le Pen, zusammen mit ehemaligen Mitgliedern der Waffen SS und Kollaborateuren des Vichy-Regimes gegründet worden war. Um diese Vergangenheit zu übertünchen und die Partei salonfähiger zu machen, hat Marine Le Pen den eigenen Vater und Parteigründer aus der Partei geworfen, den Namen der Partei geändert, aus dem «Front National» das «Rassemblement National» gemacht, alles Antisemitische und Petainistische aus der Partei zu verbannen versucht und die noch verbliebenen Identitären, sowie die nach wie vor bestehende Nähe zu ehemaligen Mitgliedern des historischen rechtsextremen Schlägertrupps, GUD, so weit wie möglich unter den Teppich gekehrt.
Weiter so
Der rassistische Zwischenruf des RN-Abgeordneten Grégoire de Fournas dürfte angesichts der Grundstimmung im Land für Le Pens Partei «Rassemblement National» letztlich mittelfristig so gut wie gar keine Folgen haben. Der Ruf, wonach entweder ein Rettungsschiff, oder die Geretteten oder aber der Fragen stellende farbige Abgeordnete in der Nationalversammlung nach Afrika zurückkehren sollten, drückt eine Meinung, eine Stimmung aus, die heute leider mindestens von der Hälfte aller Franzosen geteilt wird.
Mit anderen Worten: Der umstrittene Satz des RN-Abgeordneten aus dem Departement Gironde wird Marine Le Pen nicht daran hindern, ihren Weg zur Macht weiter zu gehen und die massive Präsenz der rechtsextremen Abgeordneten in der französischen Nationalversammlung weiter dafür zu nutzen, nach und nach ihre Partei als eine ganz normale unter all den anderen zu verkaufen.
Der Neue
Ja selbst für die Zukunft hat Marine Le Pen schon gesorgt.
Die Präsidentschaft der Partei hatte sie Monate vor den Präsidentenwahlen im April zurückgegeben, um zu signalisieren, dass sie nicht Kandidatin einer Partei sei, sondern sich alleine an alle Franzosen wende. Der damals eingesetzte Interimspräsident – so etwas wie Marine Le Pens Ziehsohn – ist nun letztes Wochenende beim Parteikongress mit 85% der Stimmen zum neuen Präsidenten des «Rassemblement National» gewählt worden. Es ist der gerade mal 27-jährige Jordan Bardella, aufgewachsen in einer Sozialwohnung in einem Pariser Vorort, mit 15 in die Jugendbewegung des «Front National» eingetreten und die Karriereleiter hinaufgeklettert. Rhetorisch absolut brillant, perfekt gekleidet, mit einem Hauch von aalglatt, wirkt er, als hätte er schon 20 Jahre in der grossen Politik zugebracht.
Auf den ersten Blick der ideale Schwiegersohn, ein freundlicher, junger Mann mit besten Manieren, hinter dem sich aber ein echter Hardliner verbirgt.
Mit seinem jungen Alter ist der neue Parteichef jedenfalls gleichzeitig eine Art Symbol dafür, dass Frankreichs extreme Rechte wohl noch lange Zeit Bestand haben wird.