«Zeitenwende». Der Begriff war wohl «alternativlos», als die Gesellschaft für deutsche Sprache über das Wort des Jahres 2022 entschied. Das Wort «Limit» hingegen schaffte es nicht einmal auf die Shortlist. Doch inzwischen ist es, gefühlt, nicht weniger oft zu vernehmen als die von Olaf Scholz auf den Punkt formulierte Beschreibung der Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine.
«Geflüchtete: Kommunen mit Unterbringung am Limit», überschrieb das ARD-Morgenmagazin kürzlich einen Beitrag über den Bau von Notunterkünften in der deutschen Hauptstadt. «Flucht aus der Ukraine: Städte in Deutschland am Limit», titelte die Deutsche Welle. 1,2 Millionen Menschen haben allein in diesem Jahr in Deutschland Schutz gesucht, mehr als in Angela Merkels «Wir schaffen das»-Jahr 2015.
Warnung vor dem «Kipppunkt»
Die Bundesländer und Kommunen seien «am Limit», sagte auch Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU), der 2022 Vorsitzender der deutschen Innenministerkonferenz war. Und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) warnte vor einem «Kipppunkt, wo es bald um die Unterbringung in Provisorien wie Zelten geht».
In Berlin ist dieser Punkt längst überschritten. Auf dem Areal des einstigen Flughafens Tegel wächst eine weisse Zeltdach-Stadt heran, weil es in den vorhandenen Unterkünften der deutschen Hauptstadt für Geflüchtete keinen Platz mehr gibt.
Über 50 Prozent mehr illegale Einreisen
Seit Jahresbeginn reisten mehr als 85’000 Menschen unerlaubt nach Deutschland ein, teilte die für den Grenzschutz zuständige Bundespolizei am 7. Dezember mit. «Im Gesamtjahr 2021 waren es 57’637 Feststellungen.» Das entspricht einer Erhöhung um rund 50 Prozent. Nicht von dieser Statistik erfasst wurden die Hunderttausenden von Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Sie durften legal nach Deutschland kommen. Legal, illegal, egal: Der Anstieg der Flüchtlingszahlen bringt immer mehr Kommunen zwischen Ostsee und Bodensee in Bedrängnis.
Derweil geht im Land von Turnvater Jahn eine diffuse Angst um: Werden wieder Sporthallen zu Notunterkünften umfunktioniert? «Die Massgabe in Berlin ist ganz klar: keine Turnhallen!», sagte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey der «Bild am Sonntag». 2015 sei diese Art der Unterbringung «furchtbar» für die Geflüchteten und für Sportvereine und den Schulsport eine «klare Grenzüberschreitung» gewesen. Die Akzeptanz der staatlichen Flüchtlingshilfe habe dadurch stark abgenommen. «Das darf uns nicht noch mal passieren.»
Forderungen nach Aufnahme-Stopp
Doch wie gross will man Zelt- und Containerstädte wachsen lassen? «Wir steuern in Berlin auf eine humanitäre Krise zu», twitterte der Sozialpolitiker der Landes-FDP Tobias Bauschke. «Wir müssen daher einen sofortigen Aufnahme-Stopp verhängen!» Bayerns Innenminister Herrmann sieht die Bundesregierung in der Pflicht. Sie müsse für eine Begrenzung der allgemeinen Zuwanderungszahlen und eine konsequente Rückführung abgelehnter Asylbewerber sorgen. Doch bei der Rückführung hat sich Deutschland schon seit Jahren schwergetan. Die «Welt am Sonntag» zog diese ernüchternde Bilanz: Von 302’000 ausreisepflichtigen Personen seien im laufenden Jahr bis Ende November gerade mal 11’970 in Herkunftsländer abgeschoben beziehungsweise in Länder des Schengen-Raums zurückgeführt worden.
Italien schiesst mit Rücknahme-Stopp quer
Einer der Gründe liegt in der mangelnden Bereitschaft von Ländern wie Griechenland oder Italien, Geflüchtete zurückzunehmen, die ungeachtet eines dort gestellten Asylantrags nach Deutschland weitergereist sind. Nun dürfte sich die Rückführung nach Italien noch schwieriger gestalten, wenn nicht gar unmöglich werden. Wie erst über die Weihnachtstage bekannt wurde, hat die neue rechte Regierung in Rom die Rücknahme von Flüchtlingen nach den Dublin-Regeln «ausgesetzt», zunächst wohl bis Ende März 2023.
Derweil scheint auch der deutsche Verfassungsschutz wahrzunehmen, dass sich die Geduld mancher Bundesbürger mit der Migrationspolitik ihrer Regierung in Richtung «Limit» bewegt. Sorge bereitet die Möglichkeit einer stärkeren Instrumentalisierung der Flüchtlingsproblematik durch rechtsextreme Kräfte. «Der Verfassungsschutz rechnet zu Beginn des neuen Jahres damit, dass die Zuwanderung als Mobilisierungsthema im rechten Spektrum wieder stärker an Bedeutung gewinnen wird», berichtete die Deutsche Presse-Agentur unter Berufung auf Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang.
Während in Deutschland der Streit über Versäumnisse und möglicherweise falsche Weichenstellungen der eigenen Asyl- und Migrationspolitik wieder an Heftigkeit zunimmt, wird der «Schwarze Peter» auch gern mal anderen zugeschoben. Im Oktober tauchten Medienberichte auf, wonach die Schweiz Migranten, die dort ankommen, «nach Deutschland durchwinken» würde. Die Schweizer Bahn bringe sie bis an die baden-württembergische Grenze.
Deutsche Politiker äusserten sich empört über Verstösse gegen Dublin-Regeln. In der Schweiz hingegen verweist man darauf, dass auch sie meist nicht das Ersteinreiseland ist, das laut Dublin für die Bearbeitung von Asylanträgen zuständig wäre. Zudem würden Durchreisende es nach Möglichkeit vermeiden, einen Antrag in der Schweiz zu stellen – vermutlich, weil ihre Chance auf Anerkennung und Verbleib dort geringer wäre.
Gute Sozialleistungen, zahmer Staat
In der Schweiz gehen Asylverfahren schon seit Jahren schneller über die Bühne als in Deutschland. Antragsteller, die als nicht schutzbedürftig gelten, werden schneller und konsequenter «ausgeschafft» als beim grossen Nachbarn. Verständlicherweise, so die «Neue Zürcher Zeitung», gelte für viele Migranten: «Hauptsache, Europa, möglichst mit guten Sozialleistungen und einem zahmen Staat. Und da, wen wundert es, steht Deutschland weit oben auf der Liste.»
Immerhin hat die Schweiz der Bundesrepublik im Dezember einmal mehr die Hand gereicht und einem gemeinsamen Aktionsplan zugestimmt. Vorgesehen sind grenzüberschreitende Schwerpunktfahndungen, um das Schlepperwesen zu bekämpfen und Weiterreisen nach Deutschland zu unterbinden. Im grenzüberschreitenden Bahnverkehr sollen vermehrt gemeinsame Streifen eingesetzt werden.
Altbekannte Absichtserklärungen
Freilich legt schon eine kurze Archiv-Recherche den Verdacht nahe, dass es sich bei dem «neuen» Abkommen um kaum mehr als einen Zweitaufguss handelt. Da findet sich zum Beispiel diese Berliner Pressemeldung in Sachen deutsch-schweizerischer Kooperation: «Wie das Bundesinnenministerium mitteilte, sind mehr gemeinsame Streifen in der Grenzregion, gemeinsame Fahndungen und Einsätze sowie eine engere Kommunikation geplant. Auch bei der Rückführung unerlaubt eingereister Personen wollen beide Staaten ab sofort besser zusammenarbeiten.» Ab sofort. Die Meldung stammt aus dem Oktober 2016.