„Besser spät als nie“, sagte Portugals Staatspräsident, Marcelo Rebelo de Sousa, an diesem Mittwoch vor Medienleuten. Als Bürger, Politiker und Juraprofessor weiss er, dass die Mühlen der Justiz in seinem Land oft sehr langsam mahlen. Fast sechs Jahre brauchten die Ermittler, bis das Amt der Generalanwältin am späten Dienstagabend die Anklage im schwersten Fall von mutmasslicher Wirtschaftskriminalität in der Geschichte des Landes vorlegte. Es geht um den Kollaps der alteingesessenen Gruppe Espírito Santo im Sommer 2014.
Zweitgrösste Privatbank in Portugal
Zur Gruppe gehörte der Banco Espírito Santo (BES), zuletzt die zweitgrösste private Bank im Land. Espírito Santo, das war fast ein Gütesiegel, denn der Name stand auch in der internationalen Hochfinanz für Vertrauen und für Solidität. Wo Konkurrenten mit spektakulären Übernahmen nach schneller Expansion strebten, setzte BES auf organisches Wachstum. In den Jahren der Finanzmarktkrise, die Portugal in den Jahren 2011–14 unter den Euro-Rettungsschirm und in die Fänge der internationalen Troika trieb, machte diese Gruppe von den Staatshilfen zur Kapitalisierung der Banken keinen Gebrauch. Sie gab sich so, als könne sie sich mit eigener Kraft gegen die Stürme stemmen.
Im Jahr 2014 begann es aber im Gebälk der von der Familie Espírito Santo kontrollierten Gruppe unüberhörbar zu knistern. Im Sommer musste erst der Patriarch der Familie, der jetzt 76-jährige Ricardo Salgado – bekannt als DDT, „dono disto tudo“ (Herr über dies alles) – den Sessel des CEO bei der Bank räumen. Kurz danach, unter neuer Führung, meldete die Bank für das erste Halbjahr 2014 einen astronomisch anmutenden Verlust von 3,6 Milliarden Euro. Am 3. August 2014 schritt die nationale Zentralbank zur „Abwicklung“ der Bank. Ihre „guten“ Aktiva erbte der Novo Banco, der bis heute Verluste schreibt und nie wirklich als „gut“ durchging.
Über 4000 Seiten Anklageschrift
Ex-CEO Salgado ist nun die prominenteste Figur unter den insgesamt 25 Beschuldigten – 18 natürliche und 7 juristische Personen –, um deren mutmassliche Delikte sich die 4117 Seiten lange Anklage dreht. Salgado war, glauben die Ermittler, der Kopf einer kriminellen Vereinigung, die neben den offiziellen Organen und ohne Kenntnis der Aufsichtsbehörden existiert habe. Sie habe das Ziel gehabt, die international verzweigte Gruppe Espírito Santo (GES) zu retten. Schon seit 2009 sei die Gruppe bankrott gewesen, dies sei aber vertuscht worden.
Es geht in der Anklage um die kriminelle Vereinigung, um aktive und passive Korruption im privaten Sektor, Urkundenfälschung, Untreue, Marktmanipulation, Geldwäsche sowie schweren Betrug mit Schäden für natürliche und juristische Personen. Die Anklage schätzt den Wert der Delikte – die nach ihrer Ansicht zu einem Teil über Gesellschaften in der Schweiz begangen wurden – auf 11,8 Milliarden Euro. Absolut ist das vielleicht noch wenig im Vergleich zum Schaden, den in den USA der Spekulant Bernard Madoff hinterliess. Für portugiesische Verhältnisse stehen aber über fünf Prozent eines jährlichen Bruttoinlandprodukts auf dem Spiel.
Die Bank (fast) aller Regime
Die Wurzeln der GES reichen bis 1869 zurück. Ihr Name („Heiliger Geist“) ist übrigens keine Anleihe bei der dritten Person der heiligen Dreifaltigkeit, sondern ein typischer Familienname von „Neuchristen“, also getauften ehemaligen Juden. Espírito Santo galt im Laufe vieler Jahre als die Bank aller Regime – Monarchie, Erste Republik (1910–26), faschistoide Diktatur (1926–74), Demokratie – , mit einer Unterbrechung.
Nach dem Sturz der Diktatur durch die Nelkenrevolution vom 25. April 1974 schlug Portugal einen stark linken Kurs ein, und da wurden die nationalen Banken 1975 verstaatlicht, auch Espírito Santo, bei der sich die alten Eigner bei der Reprivatisierung 1991 aber wieder einkauften. Im Bunde mit der französischen Gruppe Crédit Agricole übernahm die Familie wieder die Kontrolle. An Espírito Santo führte in Portugal kein Weg vorbei, und ein Kollaps der Gruppe war schlicht undenkbar.
Nach dem Kollaps fühlten sich kleine und grosse Anleger geprellt, unter ihnen Unternehmen und Organisationen des sozialen Sektors wie auch Emigranten und andere kleine Leute, die sich finanzielle Produkte von dubioser Solidität aufschwatzen liessen. In die Röhre guckte aber auch die Portugal Telecom (PT), bei der Espírito Santo rund zehn Prozent des Kapitals hielt. Sie hatte Schuldverschreibungen im Wert von fast 900 Millionen Euro gezeichnet, blieb auf dieser Forderung sitzen und existiert in der alten Form nicht mehr.
Im Jahr 2010, als der Staat noch Sonderrechte als PT-Aktionär besass, soll Salgado den damaligen Regierungschef, José Sócrates Pinto de Sousa, bestochen haben, um bei einer Versammlung der Aktionäre das Stimmverhalten des Staats zu beeinflussen. Aber dies ist schon Gegenstand der im Oktober 2017 erhobenen Anklage gegen Sócrates, Salgado und andere Verdächtige.
Die Bank unterstützt den Staatspräsidenten
In der Anklage geht es aber auch um andere mutmassliche Verbindungen zur hohen Politik. So soll GES mit unerlaubten Spenden die Kampagne zur Wiederwahl des bürgerlichen Staatspräsidenten Cavaco Silva im Jahr 2011 unterstützt haben. Als Ministerpräsident der Jahre 1985 bis 1995 hatte Cavaco Silva (*1939) einen marktwirtschaftlichen Kurs gefahren. 2006 gelang ihm erstmals die Direktwahl ins Amt des Staatspräsidenten. Für die Wiederwahl fünf Jahre später erhielt er zehn Spenden von BES-Managern in Höhe von je rund 25’000 Euro, die Manager bekamen das Geld aber von GES zurück. So soll GES geltende Limiten für die Unterstützung von Wahlkämpfen durch Unternehmen umgangen haben.
Im Juli 2014, nur zwei Wochen vor der „Abwicklung“ des alten BES, hatte just Cavaco Silva während eines Besuches in Südkorea noch wissen lassen, dass die Portugiesen nach Informationen, die er von der nationalen Zentralbank erhalten habe, in diese Gruppe vertrauen könnten. Nur machte auch die Zentralbank in dieser Sache keine gute Figur. Und als Ökonom hatte gerade Cavaco Silva seinem Volk stets den Eindruck vermittelt, dass er es mit Zahlen genau nehme.
Keine kurzen Prozesse zu erwarten
Just Cavaco war schon einige Jahre zuvor mit ins Zwielicht geraten, als die damalige (sozialistische) Regierung den mittelgrossen Banco Português de Negócios (BPN) verstaatlichte, um einen Bankrott abzuwenden. Zu den Gründern und Eignern dieser Bank gehörten einige Figuren, die einst zum politischen Dunstkreis von Cavaco Silva gehört hatten. Zu ihrem Kollaps hatten nicht in erster Linie irgendwelche Stürme in der Finanzwelt geführt, sondern kriminelle Machenschaften. Im Fall des BPN blieben der Staat und damit die Steuerzahler auf einem Schaden in Milliardenhöhe sitzen.
Wann mit einem rechtskräftigen Urteil im Fall BES zu rechnen sein könnte, steht in den Sternen. Von kurzen Prozessen wie in den USA können die Portugiesen allenfalls träumen. In den USA brauchte die Justiz wenig mehr als ein halbes Jahr, um Bernard Madoff zu einer Haftstrafe von 150 Jahren zu verurteilen. Ob umgekehrt in Portugal 150 Jahre reichen würden, um ehemaligen Spitzenfiguren der Hochfinanz nicht nur die Schuld nachzuweisen, sondern sie rechtskräftig zu verurteilen und zu inhaftieren, ist unsicher. Eher dürften manche der mutmasslichen Täter von Petrus ihre Wolken zugewiesen bekommen, als dass ein Gefängniswärter sie zu ihren Zellen führt.