Mauerbauer haben Konjunktur. Seit kurzem hat auch die Stadt Calais, im Prinzip ein weltoffener Seehafen, eine richtige Mauer. Der Mauer aus Stacheldraht gegen die Flüchtenden folgte jetzt eine aus Beton. Grossbritannien bezahlte dafür, Frankreich baute sie brav. Mehr und mehr setzen sich die Mauern auch in den Köpfen fest und hinter ihnen gehen Offenheit, Weitblick, Neugierde, das Zueinander und Miteinander verloren. Derartiges scheint nicht mehr gefragt, der Mainstream geht in eine andere Richtung.
Auch Brüderlichkeit – immerhin Teil der Devise der französischen Republik – scheint Schnee von gestern und nicht mehr geduldet.
Erinnerung an dunkle Jahre
Wer Brüderlichkeit praktiziert, wird heute im Land der grossen Revolution mürbe gemacht, verfolgt und gegebenenfalls eingelocht. Vor aller Augen tritt die Republik genüsslich auf ihren hehren Prinzipien herum.
Zum Beispiel ganz unten, im äussersten südöstlichen Zipfel des Landes. Im Tal der Roya, einer Enklave. Im Norden, Osten und Süden ist dort Italien. Der direkte Weg an die nur 30 Kilometer entfernte Mittelmeerküste führt nach Ventimiglia (Italien). Die Stadt grenzt an eine andere, Menton (Frankreich).
Seit 18 Monaten hat Paris dort an der Küste der Riviera stillschweigend die Grenze geschlossen – für Dunkelhäutige. Mit tausenden Afrikanern wird dort tagein, tagaus Katz und Maus und Punchingball gespielt. Ein zynisches Spiel. Sie kommen, rechts die Berge, links das Meer, auf der Küstenstrasse und vor allem mit dem Zug aus Ventimiglia nach Frankreich, werden mit Grossaufgeboten von Hütern der Ordnung und der Grenzen an den Bahnhöfen zwischen Menton und Nizza sorgsam und mit allen Mitteln eingesammelt und wieder an den Nachbarn Italien zurückgeschickt, nach dem Motto: debrouillieren sie sich. Auch Paris lässt Italien, wie alle anderen Europäer, mit seinen Flüchtlingen alleine.
Mittlerweile gibt es an der Mittelmeerküste sogar schon französische Eisenbahner, die sich angesichts des harten Vorgehens der Polizei an dunkle Jahre des vergangenen Jahrhunderts erinnert fühlen und in den Zügen zwischen Ventimiglia und Nizza sich weigern, mit den Ordnungskräften, die gerne auftreten wie Rambos, zu kollaborieren, sie etwa auf verdächtige oder versteckte Fahrgäste hinzuweisen, wozu sie im Grunde verpflichtet wären.
Erschöpfte, umherirrende Gestalten
Da der Weg entlang der Küste für Flüchtlinge quasi geschlossen ist, bleiben die Berge, und der nächste Weg dorthin führt nun mal ins Tal der Roya. Die Menschen, die dort oben auf 1’200 Metern leben, unter ihnen pensionierte Lehrer oder Krankenschwestern, ein Forscher an der Universität Nizza, einige Bauern, die Olivenöl pressen oder Hühner halten und ein paar Sonderlinge, die sich dorthin zurückgezogen haben, weil sie die Abgeschiedenheit suchten: sie alle sehen jetzt seit Monaten Tag für Tag neue, abgerissene und erschöpfte Gestalten ankommen und herumirren, viele von ihnen Minderjährige, um die sich dem Gesetz nach eigentlich der französische Staat kümmern müsste, es aber nicht tut. Es sind Menschen, die nicht mehr weiterwissen und kaum noch weiterkönnen, zumal am Ende des Tals der Roya nur noch Berge sind bzw. eine Strasse, die wieder nach Italien führt.
Die Bewohner des Tals, alles andere als politische Agitatoren, öffnen den Umherirrenden jetzt schon seit Monaten ihre Türen, wie man das seit jeher in den Bergen eben so macht, wenn einer in Not ist. Das war im Tal der Roya schon so, als abertausende Italiener denselben Weg wählten, um vor Mussolini und dem Faschismus zu fliehen. Heute sind die Fliehenden Eritreer, Sudanesen, Afghanen oder Syrer, unterwegs in abgetretenen Turnschuhen und ohne Schutz gegen die Kälte. Und die Bewohner des Hochtals geben ihnen zu essen, ein Dach gegen die Kälte, sorgen für erste medizinische Betreuung und helfen beim Weiterkommen Richtung Nizza oder Marseille. Denn das Tal der Roya ist schliesslich nicht das eigentliche Ziel der Flüchtenden.
Kriminalisierung
Der Staatsmacht aber sind diese schlichten Gesten der Mitmenschlichkeit ein Dorn im Auge. Für sie sind diese Helfenden im Gebirgstal der Roya Kriminelle, gegen die sie mit all ihrer Macht vorgeht. Beihilfe zum Aufenthalt illegaler Einwanderer, lautet das Vergehen.
Mehrere Einheiten Bereitschaftspolizei kontrollieren die Hauptachsen in der Region, errichten Strassensperren, ja unter Schutzhelmen und mit Knüppeln ausgerüstet wie für den Guerillakampf klappern sie die verstreuten Höfe und Häuser im Tal ab und schleppen die, die hier aufnehmen und Schutz bieten, aufs Kommissariat, von wo aus sie manchmal vorübergehend in Haft kommen, später auf jeden Fall vor den Richter. Die Flüchtlinge werden abgeführt und nach Italien zurückgeschafft.
Polizeiliche Brutalität
In Menton, dem Rentnerparadies im Südosten, der Stadt mit dem höchsten Durchschnittsalter im Land, sperrt Frankreich den Eingang ins Land, in Calais, im Norden, den Ausgang. Dort am Ärmelkanal tut Frankreich das als Büttel von Grossbritannien. Auch wenn der berühmte Dschungel von Calais in jüngster Zeit aufgelöst wurde, so kommen doch inzwischen wieder täglich mindestens 50 Flüchtlinge an, auf der Suche nach einem Weg Richtung England.
Damit sie sich nicht wieder in der Stadt niederlassen, hat die Polizei offensichtlich den Auftrag, ihnen das Leben so schwer wie möglich zu machen. Hilfsorganisationen klagen inzwischen über polizeiliche Brutalität gegenüber den Flüchtlingen: den Frierenden werden etwa Schuhe und Schlafsäcke abgenommen, und die Hilfsorganisationen werden während ihrer nächtlichen Runden von den Ordnungskräften massiv bei ihrer Arbeit behindert. Auch aus der Hauptstadt Paris kommen ähnliche Klagen.
Druck des Front National
Im Südosten, an der goldenen Côte d'Azur, dem Zufluchtsort der Superreichen, des internationalen Jet-Set und der dunklen und halbseidenen Gestalten aus aller Welt, entsteht der Eindruck, man wolle die einen Flüchtlinge, die mit den Geldsäcken und den Off-Shore-Konten, vor den anderen Flüchtlingen, vor denen mit den Plastiklatschen und nur noch der Haut auf den Knochen, schützen. Dafür nimmt eine der Bezeichnung nach sozialistische Regierung heute in Kauf, die gelebte Brüderlichkeit einiger ihrer Bürger zu kriminalisieren. Dass in dieser sauberen Region mit ihrer unendlich langen Liste von Finanz- und Immobilienskandalen mehr als 40% für den Front National stimmen und die klassischen Konservativen dort so weit rechts stehen, wie nirgendwo sonst im Land, dürfte mit ein Grund für das kompromisslose und unangemessene Vorgehen der Staatsmacht sein.