Korsikas Nationalisten, ein Bündnis aus Anhängern der Autonomie und Befürwortern der Unabhängigkeit, gewinnen seit drei Jahren eine Wahl nach der anderen.
Autonomie statt Unabhängigkeit
Was die verschiedensten Strömungen der korsischen Nationalisten in den letzten vier Jahrzehnten mit Bomben, Terror, Gewalt und grossspuriger Rhetorik nicht zuwege gebracht haben, das könnten zwei nationalistische Parteien, Autonomisten und – zumindest formal – Befürworter der Unabhängigkeit Korsikas, auf der französischen Mittelmeerinsel nun mit Hilfe der Wahlurnen schaffen.
Denn es geht diesem Nationalistenbündnis „Pè a Corsica“, das seit Ende 2015 besteht, de facto nicht mehr um das Hirngespinst eines unabhängigen Korsikas, sehr wohl jedoch um eine gewisse Autonomie der Mittelmeerinsel und einen entsprechenden Status im Rahmen des hyperzentralisierten Frankreichs.
Vorgezogene Regionalwahlen
Durch eine Gebietsreform werden ab Januar 2018 die beiden korsischen Departements sowie die Region Korsika in eine einzige, neue Gebietskörperschaft überführt, die künftig die Kompetenzen der Departements und der Region auf sich vereinen wird. Aufgrund dieser Reform wurden auf der Insel vorgezogene Regionalwahlen angesetzt. Schon im ersten Durchgang vor einer Woche hatten die Nationalisten ein echtes politisches Erdbeben ausgelöst.
Über 45% der Stimmen hatte die Liste „Pè a Corsica“ erzielt, dieser Zusammenschluss aus den Autonomisten rund um den Rechtsanwalt Gilles Simeoni, Sohn des historischen Helden und der Gallionsfigur der korsischen Nationalisten aus den 70er Jahren, Edmond Simeoni, und denen, die seit Jahrzehnten die Unabhängigkeit Korsikas im Mund führen mit ihrem Chef, Jean-Guy Talamoni.
Jetzt, nach dem zweiten Wahlgang, ist erst recht von einem Tsunami, einem politischen Erdbeben die Rede. Die Sieger sprachen mit stolz geschwellter Brust und unter den Klängen der inoffiziellen korsischen Nationalhymne vom Anbruch einer neuen Zeit in der Geschichte Korsikas. Die traditionelle Rechte mit zwei Kandidaten und Macrons Vertreter der „République en Marche“, die im ersten Durchgang jeweils gerade mal 11 oder 12 Prozent bekommen hatten, und im zweiten kaum mehr. Die Sozialisten sind erst gar nicht angetreten; die korsische Linke reduziert sich heute doch tatsächlich gerade mal auf die 5% der Stimmen, die ein nicht offizieller Kandidat der linken Melenchon-Partei im ersten Wahlgang erzielt hatte. Und, eine wohl korsische Besonderheit: Der Kandidat der Nationalen Front brachte es bei diesen Regionalwahlen nur auf 3%, obwohl Marine Le Pen noch am 7. Mai, bei der Stichwahl um das Präsidentschaftsamt, in Korsika 48,5% der Stimmen bekam!
Ende der Familienclans?
Eines scheint klar: Der Politik der korsischen Familienclans auf der Rechten, in der Mitte und auf der Linken, wie sie seit fast 7 Jahrzehnten betrieben wurde, haben die Nationalisten in den letzten drei Jahren, aber besonders bei diesen Wahlen ein zumindest vorübergehendes Ende bereitet. Rocca-Sera, Zuccarelli und Giacobbi waren Namen, die seit Jahrzehnten als Synonym für korsische Politik, aber auch für Affären standen – Väter, Söhne, Onkel oder Enkel der einen oder anderen Familie waren irgendwann mal hier Bürgermeister, dort Präsident des einen oder des anderen Départements oder aber des Regionalrates von Korsika. Diese Namen und die damit verbundenen geographischen und politischen Bastionen sind bei diesen Wahlen weggefegt worden, weil sie sich alle seit Jahren disqualifiziert und letztendlich selbst begraben hatten.
Zum Beispiel Paul Giacobbi, Sohn und Enkelsohn ehemaliger Minister der französischen Republik, Abgänger der Elitehochschule ENA und – wie seine Vorfahren – herausragendes Mitglied der „Parti des Radicaux de Gauche“, einer Minipartei und nichtdestoweniger einer der ältesten französischen Parteien überhaupt, inzwischen seit Jahrzehnten eine Art historisches Anhängsel der französischen Sozialisten. Paul Giacobbi, der zwischen 2010 und 2015, als die Linke die Mehrheit hatte, immerhin Präsident des korsischen Regionalrates und somit Vorgänger des Nationalisten Gilles Simeoni war und unter Präsident Hollande erfolglos versucht hatte, Minister zu werden, ist inzwischen wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder zu satten drei Jahren Gefängnis verurteilt worden und in einer anderen Affäre wegen Scheinbeschäftigungen angeklagt. Kein Wunder, dass die Sozialisten beziehungsweise der „Parti des Radicaux de Gauche“ bei diesen Wahlen erst gar keinen Kandidaten mehr nominiert hatten.
Es tut sich was auf Korsika
Das Ausmass des Wahlsiegs am letzten und vorletzten Wochenende kam für die korsischen Nationalisten selbst überraschend. Und doch kam es nicht von heute auf morgen.
Da waren zunächst die Kommunalwahlen im Frühjahr 2014. Gilles Simeoni, der grosse Wahlsieger an diesem und am letzten Sonntag, eroberte 2014 zur Überraschung aller das Rathaus von Bastia, der ökonomisch wichtigsten Stadt der Insel, und schickte die Familie Zuccarelli, die dort seit Jahrzehnten das Sagen hatten, in die Wüste. Das war der Anfang der Wende, wenn man so will der Beginn des Marsches durch die Institutionen und die Wahlurnen, der Anfang der Hoffähigkeit der Nationalisten.
Martialisch vermummte Gestalten
Zumal fast zeitgleich die korsische Befreiungsfront FLNC, mit der die meisten Nationalisten in den letzten Jahrzehnten in der einen oder anderen Form in Verbindung gestanden hatten, verkündete, dass sie definitiv die Waffen niederlegt. Schluss also mit den surrealen Auftritten an geheimen Orten, wo sich ein gutes Dutzend martialisch vermummter Gestalten mit Gewehren in der Hand filmen liess, um Drohungen in Richtung Paris auszustossen. Drohungen, die auf Grund der Halstücher vor dem Mund definitiv nicht zu verstehen waren.
Dann folgten im Dezember 2015 die landesweiten Regionalwahlen, bei denen die nationale und auch internationale Presse nur Augen für den Front National hatte. Schliesslich war Marine Le Pens Partei bei diesen Wahlen damals mit knapp 28% tatsächlich stärkste politische Kraft im Land geworden. Doch ganz nebenbei, und auch in Frankreich fast unbeachtet, hatten damals im korsischen Regionalrat zwei nationalistische Listen, die sich für die Stichwahl zusammengeschlossen hatten, die Macht übernommen und seitdem die Geschicke der Insel gelenkt. Angesichts der aktuellen Wahlergebnisse hat ihre zweijährige Tätigkeit die korsische Bevölkerung offensichtlich nicht verschreckt.
Katalonien?
Selbstredend tauchte jetzt in Frankreich schon nach dem ersten Wahlgang in Korsika immer wieder der Vergleich mit den jüngsten Geschehnissen in Katalonien auf. Doch dieser Vergleich hinkt enorm und das wissen auch Korsikas Nationalisten und stellen deswegen heute das Gerede von der Unabhängigkeit zurück.
Korsika ist eine der ärmsten Regionen Frankreichs und nicht die reichste wie im Fall Kataloniens. Korsika, das sind etwas mehr als 300’000 Einwohner und nicht über 7 Millionen wie in Katalonien. Korsika ist ökonomisch zu weiten Teilen vom französischen Zentralstaat abhängig und ist schon gar nicht, wie Katalonien, ein wichtiger Industriestandort und Exporteur. Der Beitrag Korsikas zum französischen Bruttoinlandsprodukt beträgt 0,5%, der Kataloniens zum spanischen BIP rund 19%.
Nein, Korsikas Nationalistenchefs, die Herren Gilles Simeoni und Guy Talamoni, sind inzwischen Realisten. Und obwohl sich Talamoni, der zwei Jahrzehnte lang hinsichtlich der Gewalt und Bombenanschläge in Korsika eine äusserst zwiespältige Rolle spielte und die Doppelzüngigkeit sowie die stets leicht verlogene Betonsprache wie kein anderer beherrschte, sich heute offiziell immer noch als Anhänger der Unabhängigkeit Korsikas, als „ Indépandiste“ bezeichnet, so tut er derzeit alles, um das Wort Unabhängigkeit nicht in den Mund zu nehmen. Er präsentiert sich vielmehr, so gut es eben geht, als inzwischen geläuterter Nationalist – schliesslich ist er auch als Parlamentspräsident des Regionalrates von Korsika seit Ende 2015 zu einem der Honoratioren der Insel geworden.
Schluss mit Vogel Strauss
Korsika bei diesen Wahlen, das hiess in Zahlen: 320’000 Einwohner, rund 240’000 Wahlberechtigte, von denen letztlich im ersten Wahlgang nur etwas mehr als 120’000 an die Urnen gegangen waren, im zweiten Durchgang gerade noch 100’000 – bezogen auf über 60 Millionen Franzosen eine verschwindend geringe Zahl, und doch: Das Ergebnis dieser Regionalwahlen auf der Mittelmeerinsel wird Präsident Macron und seiner Regierung schon in den nächsten Monaten zu schaffen machen. Bisher haben auch sie, wie die Regierung unter Präsident Hollande zuvor, eine Vogel-Strauss-Politik betrieben.
Dabei steht Korsika seit den Regionalwahlen Ende 2015 nun mal unter der Verwaltung der Nationalisten, ob einem das gefällt oder nicht. In Paris aber tat man bisher so, als sei das nichts Besonderes und legte, so gut es ging, den Mantel des Schweigens darüber. Nach dem endgültigen Wahlergebnis an diesem 10. Dezember 2017, da die Liste der Nationalisten im zweiten Durchgang sogar 57% erzielt hat und mit einer erschlagenden Mehrheit in den nächsten Jahren den Regionalrat der Insel beherrschen wird, muss sich die Zentralregierung in Paris wohl etwas anderes einfallen lassen. Dass die Wahlbeteiligung im zweiten Durchgang gerade mal bei 45% lag, sollte für Paris kein Argument sein, den Dialog zu verweigern.
Dialog
Die eindeutigen Wahlsieger dieses Wochenendes fordern neben einem Autonomiestatus, Korsisch als zweite offizielle Sprache und das korsische Volk als solches anzuerkennen, ein besonderes Einwohnerstatut, sowie eine steuerliche Sonderbehandlung und die Zusammenlegung der über Frankreich verstreuten, so genannten „politischen Gefangenen“ in korsischen Gefängnissen.
Die Pariser Zentralmacht wird diesen Forderungen nicht einfach so nachgeben. Doch das Wahlergebnis auf der Insel lässt ihr und Präsident Macron eigentlich keine andere Wahl, als ernsthafte Gespräche aufzunehmen, jetzt, da die Urnen und nicht, wie jahrzehntelang, Waffen und Sprengstoff gesprochen haben.