Man versuchte allerdings aus Vietnam zu lernen, aber auch aus dem Genozid von Ruanda, den mehr Intervention hätte verhindern können, und aus der als erfolgreich geltenden Intervention im früheren Jugoslawien. Wenn Vietnam von solchen Eingriffen abriet und Somalia nochmals, schien Ruanda für der Notwendigkeit zu sprechen, doch einzugreifen. Auch Bosnien scheint zu zeigen, dass es doch erfolgreiche Interventionen geben könne.
Was dann zu den Trillionen schweren Unternehmungen in Afghanistan und im Irak führte, deren Notwendigkeit fragwürdig und deren Erfolge ungewiss sind. Daraufhin die Intervention "nur aus der Luft und ohne Stiefel auf der Erde" in Libyen: eher erfolgreicher, jedoch in ihren Folgen bis heute nicht voll übersehbar, weil die libyschen Milizen sich bildeten, deren Präsenz bis heute das "befreite" Libyen belastet.
Das Buch von Rori Stewart und Gerald Knaus* stellt die Frage direkt, die bisher nicht gestellt und daher auch nicht beantwortet wurde. Die unreflektierte Aktion, die sich die Grundfrage nicht stellte, nahm einfach an: Wenn nur genügend Soldaten und genug Geld über genügend lange Zeit zur Verfügung stehen, ist die Niederschlagung einer schlechten Herrschaft und der Wiederaufbau einer Nation, die gemäss den demokratischen und humanen Grundsätzen der heutigen Zeit funktioniert , möglich - ja, mit Sicherheit zu erreichen.
Immer mehr Einsatz für die erwartete "Wende"
Weil dies fraglos als vermeintliches Faktum genommen wurde, kam es wiederholt dazu, dass im Falle von sich abzeichnenden Fehlentwicklungen mehr Soldaten, mehr Geld und mehr Zeit gefordert , und auch meist zur Verfügung gestellt wurden , in der Annahme dann müsse die Sache doch klappen. Dies wird oft begleitet von der ständig wiederholten Verheissung, nun stehe endgültig "die Wende" bevor. Wenn sie dann doch nicht kam, wurde gefordert: noch mehr der drei guten Dinge! Dann werde, ja müsse sich alles zum Besseren wenden. Das ging so fort über die Jahre und die Milliarden und die Tausenden von Menschenleben hin, hartnäckig und unhinterfragt immer weiter.
Eigene Erfahrungen
Das vorliegende Buch haben zwei Autoren verfasst, die zwei der Interventionen erfahren haben. Rori Stewart ist im Winter 2002, kurz nach der amerikanischen Invasion, zu Fuss mitten durch Afghanistan gewandert und hat dies knapp überlebt. Seine Erfahrungen hat er in dem viel beachteten Buch "The Places in Between" (2005) niedergelegt. Dort kann man lesen, dass manche Dorfbewohner im Inneren Afghanistans im Jahr 2002 noch nicht wussten, dass die Russen das Land verlassen hatten, was im Jahr 1988 geschehen war. So stark isoliert leben die afghanischen Dörfler von den Geschehnissen in "ihrer Nation", die sich primär in Kabul abspielen.
Rori Stewart hat später im Irak als Gouverneur zweier südlicher Provinzen gewirkt, auch darüber gibt es ein fesselndes Buch: "Occupational Hazard: My Time Governing in Iraq" (2007). Dann lebte er drei Jahre in Kabul als Leiter einer von ihm gegründeten NGO zur Erhaltung und für den Wiederaufbau des traditionellen Kabul, der "Turquoise Mountain Foundation". Er ist heute ein konservativer Abgeordneter im britischen Parlament. Der zweite Verfasser, Gerald Knaus hat bei der internationalen Verwaltung von Bosnien mitgearbeitet.
Falsche Grundanlage
Stewart glaubt nicht an das sehr häufig vorgebrachte Argument, nach dem Afghanistan ein Opfer der 2003 folgenden Irak Invasion geworden sei, weil diese Grossaktion Mittel und Aufmerksamkeit der Amerikaner und der übrigen westlichen Welt so sehr in Anspruch genommen habe, dass Afghanistan vernachlässigt wurde. Der Verfasser und Kenner des Landes vermutet, auch ohne Irak wäre es in Afghanistan schief gegangen, weil die Grundkonzeption, mit der die Intervention stattfand, eine grundfalsche war und bleibt. Es wurde nach der erwähnten Meinung gehandelt: genügend Geld und genügend Soldaten könnten den Aufbau eines "neuen Afghanistan" bewirken.
Ziele ohne Ausgangspunkte
Die Personen und Institutionen, die eingesetzt wurden, wussten so gut wie nichts von Afghanistan, und sie hatten auch keine Gelegenheit etwas zu lernen, weil sie - schon aus Sicherheitsgründen - von den Realitäten des Landes fern gehalten wurden, welches zu 80 Prozent aus den Bauern in seinen weiten Ebenen und entfernten Bergtälern besteht. Mit ihnen konnten die Afghanistan "Nation builders" (Nation Aufbauer) nicht nur nicht reden, sondern sie hatten sie kaum je zu Gesicht bekommen. Was sie auch nicht für nötig hielten, denn sie wussten ja, was sie "aufbauen" wollten: Eine zivilisierte Nation, nach dem Begriff, den sie sich als Amerikaner davon machten.
Für wen und mit wem sie das tun wollten, blieb unbedacht, weil die Afghanen, so wie sie waren und sind, den "Nation builders " unsichtbar blieben. Für sie waren sie einfach "Proto-Amerikaner", die zu "fast-Amerikanern" würden, wenn man sie nur mit genügend Soldaten und Geld dazu zwinge und aufmuntere. Die real existierenden Afghanen interessierten sie nicht wirklich. Ihr einziges Anliegen war, das von ihnen angestrebte Endprodukt, das im Idealfall einer Art von Amerika gleichen sollte.
Überholte Entwicklungsbegriffe
Die Illusion, dass dies mit Soldaten und Geld zu erreichen sei, sass tief. Sie war verwurzelt in der Entwicklungstheorie der 60er Jahre, nach welcher "Input" an Geld zu "Output" an wirtschaftlicher und politischer Entwicklung führe. Dies hatte funktioniert im Nachkriegs-Deutschland und im Nachkriegs- Japan, und die Annahme war, es würde überall funktionieren. Diese Theorie ist später diskreditiert worden, weil sie keine Rücksicht nimmt auf die Eigenart und Eigenlage der betroffenen Völker. Doch im militärischen Denken als Bestandteil der "counter insurgency" (Rebellen-Bekämpfung) war sie lebendig geblieben.
Weil die Misserfolge in Afghanistan als Effekt der "Vernachlässigung" während der Irak Jahre galten, schien die Folgerung nach dem Abschluss des Irak-Abenteuers korrekt: nun die "Vernachlässigung" gut machen durch mehr Soldaten und mehr Geld! - Was zu Obamas "surge" in Afghanistan führte und die Sache noch schlimmer machte.
In Wirklichkeit brachte viel Geld, ausgeworfen ohne Verständnis für die Gegebenheiten der afghanischen Gesellschaften, Korruption in bis dahin noch nie gesehenem Ausmass für die sogenannten Eliten und dieser entsprechend viel Bitterkeit der übergangenen immensen Mehrheit der Afghanen. Die Präsenz von mehr Soldaten, die befrieden sollten, indem sie, vorzugsweise des Nachts, die Türen der Afghanen eintraten, erntete umso mehr Feindschaft und Rachedurst.
Der Beitrag Stewarts ist voll von konkreten, erlebten, oftmals grotesken, Beispielen für die verkehrte Grundhaltung und deren verheerende Folgen, die der ganzen Afghanistan Intervention innewohnten und innewohnen.
Stewart ist der Ansicht, eine Intervention anderer Natur, wäre möglicherweise von Nutzen gewesen. Sie müsste von wenigen Leuten, die das Land kennen und verstehen, in die Hand genommen werden. Er kennt solche, die dort jahrelang, manche Jahrzehnte hindurch, konkrete Aufbauarbeit geleistet haben. Er hat sogar versucht, sie mit führenden Exponenten der Intervention in Kontakt zu bringen. Ohne Erfolg, der milliardenschwere Apparat der Intervention war am Rollen und wurde durch seine eigene Schwerkraft weiter getragen. Ein paar Afghanistan Fachleute konnten ihn nicht umlenken.
Warum war Bosnien erfolgreich?
Gerald Knaus ergänzt diese mehr episodenhafte aber überaus plastische Darstellung Stewarts durch eine Systematik. Er rückt die Geschichtsschreibung der Bosnien-Intervention zurecht. Sie war ein Erfolg, doch nicht weil genügend Soldaten und genügend Geld für genügende Zeit eingesetzt wurden, sondern weil sie auf einer bestimmten politischen Konstellation in den südslawischen Ländern aufbauen konnte, die zuerst den Frieden von Dayton möglich machte - teilweise auf Grund der amerikanischen Bombardierungen Serbiens, jedoch nicht nur wegen ihnen.
Die internationale Intervention mit ihren Wächterfunktionen ausübenden Soldaten half dann, diese Friedensabmachungen schrittweise und über Zeit zu verwirklichen, wobei es die betroffenen Völker selbst waren, die sie, zuerst widerspenstig dann mitwirkend, letztlich vollzogen.
Nation Building lief im Falle von Bosnien darauf hinaus, der zerschlagenen bosnischen Nation Atemraum und Gelegenheit zu verschaffen und dann auch Hilfe zu leisten, um sich selbst wieder zu fangen und aufzubauen.
Wie das konkret gemacht wurde, beschreibt Knaus. Es war keineswegs eine einfache Folge des mechanischen "Input" von Geld und Soldaten.
Vier Denkschulen über Intervention
Knaus geht dann über zu einer Systematik der Interventionstheorien. Er teilt sie in vier verschiedene Schulen ein. Er nennt sie die Plan-Schule (planning school); die "liberal-imperialistische"; die Vergeblichkeitsschule (futility), die alle Interventionen als nutzlos erklärt und jene des "prinzipengetragenen schrittweisen Vorgehens" (principled incrementability).
Diese letzte scheint ihm die aussichtsreichste. Die erste, jene der Pläneschmiede, ist die, welche die amerikanischen Militärs in ihre "counter insurgency" aufgenommen haben. Der Think-Tank RAND corporation hat sogar versucht, die "input-output" Pläne in abstracto und generell zu beziffern: Mit wieviel Geld welche wirtschaftlichen und politischen Resultate erreicht werden könnten. Dies hat sich in der realen Welt als ein gutes Rezept für das exponentielle Wachstum von Korruption erwiesen.
Peitsche und Zückerchen?
Die zweite liberal-imperialistische Schule, auch umschrieben als "Peitsche und etwas Bargeld", ist jene, mit der einst Indien relativ erfolgreich regiert wurde, von Fachleuten, die Jahrzehnte lang im Land ihre Karriere machten. Die Fachkräfte des Indian Civil Service kamen nicht wie die heutigen Nation Builders für zwei Jahre oder nur ein paar Monate ins Land. Sie wurden nicht auf Grund von behaupteten Manager- Fähigkeiten, sondern auf der Basis ihrer Sprach- und Landeskenntnisse befördert und entlohnt. Doch jene Zeit ist vorbei.
Die Dritte Gruppe der Skeptiker lehnt prinzipiell jede Intervention ab, geschehe was wolle. Ihr dogmatisch anmutendes Argument lautet, in allen Fällen sei gewaltsame Intervention die schlechteste aller Möglichkeiten.
Doch Knaus glaubt, in bestimmten Fällen sei sie notwendig und möglich. In solchen Fällen plädiert er dafür, schrittweise vorzugehen, jedoch unter strikter Aufrechterhaltung bestimmter Grundsätze von Humanität und Gerechtigkeit, gegen die nicht verstossen werden dürfe. Die Erfahrungen in Bosnien scheinen ihm darauf hinzuweisen, dass auf diesem Weg mit Glück und Geschick "incremental", das heisst langsam aus eigenem Einsehen wachsend, Wiederaufbau auf dauerhaften Grundlagen erreichbar sind.
Aktuell: eine neue Art von Intervention
Während so die Analyse hinter der Entwicklung der Interventionen hinterherläuft, kann man bereits einen neuen Typus von Intervention beobachten. Dies scheint die neu anwachsende Tendenz zu sein, inoffiziell und "abstreitbar" einzugreifen. Meist geht sie einher mit Spitzentechnologie der Vernichtung. Im Falle der Drohnen, in jenem des elektronischen Krieges, in dem des Eingreifens von "Spezialtruppen", deren Einsatz als geheim eingestuft wird und daher abstreitbar bleibt und sogar im Falle von technologisch ermöglichten einzelnen Mordaktionen an angeblichen Fachleuten des Feindes.
Unternehmen dieser Art laufen gegenwärtig, offenbar in grösserem Ausmass in Kismayo, der zweiten Hafenstadt von Somalia, und ein anderes zur Bewaffnung der Widerstandskämpfer in Syrien, weitere in Afghanistan, in Pakistan, in Jemen und dem Vernehmen nach in Iran. Sie sind alle politisch bequem für die Auslöser, weil sie abgestritten werden können und daher nie in ihrem vollen Ausmass erkennbar sind, bis vielleicht 50 Jahre später die sie betreffenden Dokumente veröffentlicht werden, soweit solche überhaupt angelegt wurden.
Tappen im Ungewissen
Doch ihr Nachteil ist, dass auch die Initianten nie genau wissen, was sie bewirken. Wie viele Tote machen die Drohnen in Pakistan, in Afghanistan und in Jemen? Welcher Bruchteil von ihnen sind wirkliche Terroristen? Wer ermordet iranische Atomspezialisten und vermutete solche, wozu? Wer gebraucht die an die syrischen Rebellen gelieferten Waffen zu welchen Zwecken? Nicht nur die Zielfiguren und die unbeteiligte Aussenwelt, auch die Initianten und Organisatoren von derartigen "abstreitbaren" Interventionen schwimmen im Ungewissen, weil sie für die Zusammenstellung der Resultate auf die Schätzungen der Technologen und der Geheimagenten angewiesen sind, welche die klandestinen Instrumente bedienen.
Diese Einschätzungen werden dann von den übergeordneten Stellen zuhanden ihrer Regierung "frisiert und "evaluiert", um zum Schluss von den Regierungspropagandisten in Darstellungen bekannt gemacht oder unter der Hand weitergegeben zu werden, die ihren Propagandazielen entsprechen. Nachher kann niemand mehr sagen, was wirklich geschehen ist. Nur die Toten sprechen zu ihren überlebenden Verwandten und Landsmannschaften und fordern Vergeltung.
Prinzipienlos, negativ incremental
Diese neue Variante der Intervention ist das genaue Gegenstück dessen, was Knaus fordert und Stewart vorschwebt. Sie ist völlig "prinzipienlos", weil sie alle Verantwortung abstreitet. Sie ist nur scheinbar "incremental". Zwar werden anscheinend mehr und mehr Gegner oder Terroristen und angebliche Gewalttäter getötet. Doch die Zahl jener, die empört über die Mordangriffe in die Reihen der Gegner der Interventionsmacht getrieben werden, ist ein Vielfaches von jenen, die ihr Leben verlieren, das Gesamtresultat also "negativ incremental".
- Rory Steward and Gerald Knaus: Can Intervention Work? Amnesty International Global Ethics Series W.W. Northon New York and London 2012