Sie kündigen, bevor sie richtig gestartet haben. Die Meldung von Ende Dezember 2015 über Zürcher Lehrkräfte schreckte auf: Noch in der Probezeit werfen viele das Handtuch. Unverständlich auf den ersten Blick – begreiflich bei näherem Hinsehen. Ein Blick ins komplexe Klassengeschehen.
Die Flucht aus dem Schulzimmer
Lehrerinnen und Lehrer hätten den „schönsten, schwierigsten und schwersten Beruf der Welt“, schreibt der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann in seinem heiter-klugen Essay „Die pädagogische Provinz“. Nicht alle sehen das so.
Vor allem Junglehrer geben ihn schnell wieder auf. Über 17 Prozent kündigen bereits im ersten Unterrichtsjahr; jeder Zweite kehrt dem Schulzimmer innerhalb der ersten fünf Jahre den Rücken. Zahlen zeigen es: Den Schulen laufen die Lehrer davon. So betitelte die NZZaS vor einiger Zeit einen Beitrag über Lehrermangel und verwies auf einen Bericht des Bundesamtes für Statistik BfS.
„Zu denken gibt mir vor allem die hohe Zahl der jungen Lehrpersonen, die bereits im ersten Berufsjahr wieder aussteigen“, meint der Chef des Lehrerdachverbandes LCH, Beat Zemp. Doch Christian Amsler, Präsident der Deutschschweizer Erziehungsdirektorenkonferenz, wiegelt ab: Der Lehrerberuf sei halt ein „Aussteigerberuf“. Da macht er es sich zu einfach. Der Blick auf die Oberfläche genügt nicht. Man muss sie durchbohren und Tiefenmerkmale in den Blick nehmen.
Kreatives Aushalten von Widersprüchen
Der Dichter Robert Musil prägte für unsere Welt das Wort „Wirrsal“. Das ist auch der Mikrokosmos Schule: vielfältig und vielseitig, was ja immer etwas Labyrinthisches zum Ausdruck bringt. Schule und Unterricht sind vielschichtig vernetzt und darum so anspruchsvoll. Wer durchs Zoom-Objektiv das Eigentliche und Wesentliche einer Schule erfasst und die Bildungsprozesse betrachtet, erkennt die hohe Komplexität und Dynamik des Unterrichtsgeschehens.
Widersprüche und Ungleichzeitigkeiten prägen das Unternehmen Schule; sie charakterisieren den pädagogischen Lehreralltag: achtsam sein und gleichzeitig Disziplin verlangen, fördern und zugleich fordern, alles verstehen, ohne immer einverstanden zu sein, konfrontieren und Empathie zeigen, unterrichten und (nach-)erziehen, Nähe suchen und Distanz wahren, straff-locker führen und eine charmante Autorität ausstrahlen, das Kollektiv im Auge behalten und jeden Einzelnen im Blick haben. Die Lehrerin arbeitet im widersprüchlichen Feld von Freiheit und Ordnung; das Wirken des Lehrers bewegt sich zwischen Sozialisation und Individuation, zwischen kultureller Integration und Vermitteln von Lerninhalten sowie Einüben von Können – und natürlich zwischen den Momenten des Gelingens und des Scheiterns. Das sind einige konstitutive Antinomien des Lehrerhandelns; sie bedeuten die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und erklären manches aus dem widersprüchlichen Wirkungsgefüge pädagogischer Praxis.
Die Spannkraft für das Mögliche finden
Die Dilemmata lassen sich nicht auflösen. Lehrerinnen und Lehrer müssen sie aushalten, reflexiv handhaben und daraus die pädagogische Spannkraft fürs Mögliche und Alltägliche gewinnen. Das war immer so, darin besteht das Spannende der pädagogischen Aufgabe. Doch diese Aufgabe wird zunehmend anspruchsvoller: Die Heterogenität in den Klassen steigt, der elterliche Erziehungsbeitrag sinkt, die Erwartungen driften auseinander, nicht selten droht der Anwalt. Das gefährdet den Auftrag und erklärt, warum so viele dem Beruf den Rücken kehren.
Auf solche Situationen sind die angehenden Lehrerinnen und Lehrer zielgerichtet vorzubereiten. Die Ausbildung hin zur Individualisierung darf das konsequente Führen einer Klasse nicht vernachlässigen. Diese Leadership-Aufgabe muss geschult werden. Doch es gibt konträre Stimmen: Die angehenden Lehrpersonen müssten heute gar keine Klasse mehr leiten können. Es werde sowieso individualisiert. Die Klassenführung sei darum sekundär geworden. Solche Tendenzen verkennen die pädagogische Realität. Die hohen Ausstiegsraten sprechen eine deutliche Sprache.
Markenzeichen der Schule sind das Kollektiv und das Beziehungshandeln zwischen einer Einzelperson und einer grösseren Gruppe. Lehrerinnen und Lehrer haben es nicht nur mit einem individuellen Vis-à-Vis zu tun. Sie führen eine Klasse und müssen dabei die individuelle Selbstwerdung über das Soziale des Kollektivs fördern. Kollektive und Individuuen entwickeln sich im dialektischen Gegeneinander. Nicht umsonst sagt der Staatsanwalt in Max Frischs „Stiller“: „Merkwürdigerweise ist ja die Richtung unserer Eitelkeit nicht, wie es zu sein scheint, eine Richtung auf unser Selbst hin, sondern weg von unserem Selbst.“ Dazu braucht es die Gemeinschaft der Klasse.
Eine Klasse führen ist Segeln, nicht Bahnfahren
Schulklassen aber sind äusserst komplexe Konstrukte und in ihrer Dynamik schwer vorhersehbar. Schulisches Lernen ist ein Aufbrechen ins Unbekannte, gekennzeichnet von vielen unberechenbaren Variablen. Der Prozess verläuft nicht linear; gutes Lernen ist ein divergentes Vorgehen und kein Input-Output-Verfahren, die Steuerung darum sehr delikat und verantwortungsvoll. Operative Rezepte gibt es nicht, nur Prinzipien.
Wie entscheidend die Lehrerin im komplexen Bedingungsgefüge des schulischen Lernens ist, zeigt die Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie. Was zählt, ist der einzelne Lehrer und sein Unterricht. Wie bereitet er den Stoff vor? Wie strukturiert er die Lernprozesse? Wie kohärent führt er durch die Lektionen? In welcher Beziehung steht er zur Klasse?
Klare Strukturen unterstützen
Hatties Forschungsergebnisse unterstreichen, wie wichtig vorgegebene Strukturen für jeden guten Unterricht sind. Sie sind verwoben mit einer stringenten Klassenführung („classroom management“). Zusammen mit Beziehung und Vertrauen reduzieren sie die Komplexität des Unterrichtsgeschehens. Darum kommt der Klassenführung eine Schlüsselfunktion im Unterricht zu: Effiziente Klassenführung und guter Unterricht beeinflussen sich gegenseitig.
Das zeigen viele wissenschaftliche Analysen. Eine klare Führung erhöht die aktive Lernzeit der Schülerinnen und Schüler ganz wesentlich; gleichzeitig signalisiert sie ihnen, wie wichtig der Lehrperson die Effizienz und Qualität ihres Lernens sind. Grundlage ist ein positives Klassenklima, eine Atmosphäre des Vertrauens und Zutrauens, des Wohlwollens und der Fürsorge. Dieser Klassenkontext hängt in ganz entscheidendem Masse vom pädagogischen Bezug ab. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist nach John Hattie darum so etwas wie der archimedische Punkt der pädagogischen Interaktionen. Lernen basiert auf Vertrauen in den Lehrenden.
Kinder wollen einen Häuptling
Und was sagen Primarschüler, wenn man sie fragt, wie ein guter Lehrer sein soll? Kinder wünschen sich einen Häuptling, dem sie vertrauen und sich darum anvertrauen können. Eines wird immer deutlich: Vor sich wollen Jugendliche einen Dirigenten oder eine Regisseurin erleben, eine menschliche Persönlichkeit, die mit ihnen zusammen den Unterricht gestaltet und sie weiterbringt. Einen Pädagogen, einen paidagogós, so wie es das griechische Wort sagt: Jugendliche führen. Aus der eigenen Schulerfahrung wissen wir es alle. Im Gedächtnis geblieben sind jene Lehrerinnen und Lehrer, die ihr Fach beherrschten, die mit Leidenschaft für ihre Klasse da waren und uns gefordert, aber stets fair behandelt haben.
Das alles ist eigentlich etwas ganz Elementares. In der Hektik des Schulalltags geht es oft vergessen. Die Bildungspolitik kann damit keine Lorbeeren holen. Da dominieren eher Oberflächenphänomene wie Evaluationsfragen und Output-Messung, Lernplattformen und Steuerungsinstrumente. Nebensächliches wird bedeutsam und Unwesentliches gerät in den Vordergrund. Zum Vorschein kommen Faktoren, die nach John Hattie kaum Effektkraft erzielen.
Der Idealfall bleibt als Aufgabe
Kein E-Learning kann die Lehrperson ersetzen, kein Computer-based Training diese Funktion übernehmen. Brücken bauen zwischen dem Kind und der Lern- und Lebenswelt kann nur die engagierte Lehrerin, Übergänge aufzeigen zu kulturellen Gegenwelten nur der vital präsente Lehrer. Das ist nicht immer leicht, der Idealfall nie Realität und oft fern, aber er bleibt als Aufgabe – aller Hürden zum Trotz. Darauf müssen Junglehrerinnen und angehende Lehrer vorbereitet sein. Intensiv. Es ist ein schwieriger und schwerer Beruf. Da hat Thomas Hürlimann zweifelsohne recht. Doch sein Urteil bleibt bestehen: „Es sei (dann) auch der schönste Beruf der Welt.“